Martin Cordsmeier hat mit „millionways“ das Tinder für Lebensträume entwickelt

Warum folgen so viele Menschen nicht den Leidenschaften, die in ihnen schlummern und leben das Leben, das sie wirklich wollen? Was hält sie davon ab? Was brauchen sie, damit sie ihren „Plan A“ in die Tat umsetzen? Diese Frage beschäftigen Martin Cordsmeier seit Jahren. Der 36-Jährige ist Gründer der Plattform „millionways„, über die Nutzer zuerst eine Persönlichkeitsanalyse machen und dann mit anderen Menschen zusammengebracht werden, die ihnen weiterhelfen können. Auch ein Buch über Leidenschaften hat Martin veröffentlicht – und unzählige Interviews mit unterschiedlichsten Menschen zu diesem Thema geführt. Wir sprechen mit Martin in Hamburg über seinen eigenen ungewöhnlichen Lebensweg und seine Idee für ein neues digitales Netzwerk.

 

homtastics: Du bist „Praktizierender Utopist“. Was genau bedeutet das?

Martin Cordsmeier: Ich glaube daran, dass jeder Mensch so leben kann wie er wirklich will. Das ist ja zunächst eine Utopie. Da ich diese Idee aber auch umsetze, habe ich den Begriff „praktizierender Utopist“ gewählt.

Wann hast du begonnen, dich für Lebensläufe zu interessieren – und warum?

Ich wollte als Jugendlicher wissen, wie andere Menschen leben – um Inspiration dafür zu finden, wie ich leben könnte. Das hat aber nicht funktioniert, weil ich vielmehr festgestellt habe, dass die meisten Menschen eben nicht so leben wie sie gerne leben würden. Die meisten Menschen versuchen nicht, ihr Leben an ihre Wünsche anzupassen, sondern sich selbst an das Leben anzupassen, das ihnen passiert ist oder das von ihnen erwartet wird.

 

Die meisten Menschen versuchen nicht, ihr Leben an ihre Wünsche anzupassen, sondern sich selbst an das Leben anzupassen, das ihnen passiert ist oder das von ihnen erwartet wird.

Du selbst hattest also keinen Plan für dein Leben und hast deshalb Inspiration gesucht?

Genau, wie die meisten Menschen in dem Alter. Viele passen sich dann einfach an, dann braucht man keine Inspiration, dann hat man ja eine Anleitung. Studieren und irgendeinen Job machen, das kann ja jeder – nicht böse gemeint. Ich wusste nur, dass ich das nicht will.

Was hast du stattdessen gemacht, anstelle von Studium oder Ausbildung?

Ich habe Interviews geführt. Natürlich musste ich nebenbei Geld verdienen. Dafür habe ich in Heimarbeit Drucksachen bearbeitet, Pappe gefaltet oder Aufkleber angebracht. Es war einfach eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Ich habe das rund acht Jahre gemacht. Irgendwann hatten wir so viele Aufträge – das hatten wir gar nicht erwartet, das war ja eigentlich nur zum Überleben gedacht. Wir brauchten Mitarbeiter. Die saßen dann in unserem Wohnzimmer und ich dachte mir: „Wieso sitzen hier jetzt diese Menschen mit ihren inspirierenden Geschichten und falten irgendwelche Mappen mit uns? Das kann ja auch nicht deren Erfüllung sein.“ So entstand die Idee zu „millionways“.

Wann entstand die Idee, dass du selbst dich auf die Themen “Talente und Leidenschaften” konzentrieren willst?

Genau in dieser Zeit. Die meisten Menschen, die ich damals getroffen habe, hatten richtig viel Energie in sich. Mir wurde klar, dass viele Menschen Leidenschaften haben, denen sie gerne nachgehen würden.

Und was waren das für Interviews, die du geführt hast? Deine Interviewpartner waren keine zufälligen Begegnungen, die hast du dir bewusst gesucht, richtig?

Das waren Extrembeispiele: Mörder, Prostituierte, Milliardäre … Das fand ich faszinierend. Ich wollte wissen, welche Geschichten dahinter stecken – und habe viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Oft waren es Zufälle, die Lebenswege entschieden haben. Wir alle denken immer, dass wir unsere Leben planen könnte, aber das ist nicht so.

Wie hast du diese Menschen gefunden?

Es war viel Recherchearbeit und das war damals gar nicht so einfach, weil es die Möglichkeiten des heutigen Internets noch nicht gab. Aber diese Extrembeispiele hatten alle ihre Foren. Es gab zum Beispiel Online-Foren für ehemalige Strafgefangene, in denen sie sich ausgetauscht haben. Darüber kam ich in Kontakt mit meinen Interviewpartnern.

Wie kam es zur Gründung von „millionways“?

Der wichtigste Schritt war die Entscheidung, dass ich aus meiner Idee etwas machen muss. Bis dahin gab es nur die diffuse Idee: Wir müssen uns tausende Geschichten anhören und dann den Menschen dabei helfen, ihr Leben zu verbessern. Aber wie setzt man das um? Ich habe dann 2013 zusammen mit Frank Otto eine Stiftung gegründet: die millionways Stiftung. Ab dem Zeitpunkt wurde meine Idee Realität. Ich habe nicht mehr Interviews geführt, sondern wir hatten ein Team, das systematisch erforscht hat, warum Menschen nicht so leben wie sie gerne möchten. Das haben wir vier Jahre lang gemacht. Das war allerdings reine Forschung und wir konnten unsere Idee nicht skalieren, um wirklich die Leben von vielen Menschen zu verbessern. Deshalb haben wir 2017 im nächsten Schritt „millionways“ in seiner heutigen Form gegründet. Dann war auch die Technik so weit. 2013 wäre es technisch noch nicht möglich gewesen, Persönlichkeitsanalysen automatisiert mit künstlicher Intelligenz auszuwerten.

Was genau ist „millionways“ und wie funktioniert es?

Es geht um drei Dinge: Reflektion der eigenen Person, Erkenntnis über sich selbst, und Impulse und Wege, was man daraus machen kann. Und zwar nicht theoretisch, sondern real und praktisch. Wir führen zunächst ein digitales Interview durch, bei dem die Teilnehmer verschiedene Fragen per Audio beantworten. Dadurch unterscheiden wir uns auch von einer üblichen Persönlichkeitsanalyse, bei der man lediglich vorgegebene Antworten auswählt. Die gesprochenen Antworten dienen als Grundlage für eine Persönlichkeitsanalyse – wir analysieren nicht nur inhaltlich, sondern auch die Ausdrucksweise und Wortwahl. Im nächsten Schritt werden die so entstandenen Profile mit anderen Menschen zusammengebracht, mit denen es Überschneidungen oder potentielle gegenseitige Förderung und Unterstützung gibt.

Dadurch, dass wir Menschen zusammenbringen, die sich gegenseitig inspirieren und unterstützen können, ändert sich deren Leben.

Was gebt ihr diesen „Matches“ an die Hand?

Wir erklären den Nutzern, warum sie zusammengebracht wurden. Wenn der eine zum Beispiel ein ganz emotionaler Mensch ist und der andere ganz pragmatisch, rational, dann fragen sich beide vielleicht, was sie mit einander sollen – dann geht es vielleicht genau darum, sich mit jemandem auszutauschen, der einen ganz anderen Blickwinkel auf das eigene Thema hat. Danach, wenn wir die Menschen connected haben, sind wir raus. Das ist dann wie Dating. Wir haben im Nachhinein sehr häufig das Feedback bekommen, dass Nutzer*innen gesagt haben: „Ich hätte mir alleine niemals so jemanden zum Austausch gesucht, aber das hat mir total geholfen.“

Welche Rolle spielt das Thema Community bei „millionways“?

Eine ganz zentrale. Es geht um Erfahrungsaustausch und Inspiration. Dadurch, dass wir Menschen zusammenbringen, die sich gegenseitig inspirieren und unterstützen können, ändert sich deren Leben. Es ist bei jedem etwas Anderes, deshalb kann ich das nicht allgemeingültig formulieren, aber es sind bei jedem Menschen Erfahrungen, das ist das zentrale Wort.

Dabei sind die Nutzer zunächst anonym, wie im Chatroom oder einer Messenger-App. Sie wissen nicht, ob ihr Gegenüber eine Frau oder ein Mann ist, kennen weder Namen noch Aussehen, Position oder andere Details zur Person. Das finde ich sehr spannend und ist mir ganz wichtig.

Auf Instagram kreiert jeder seine persönliche Kunstwelt, auf LinkedIn im Business-Kontext sind alle nur Gewinner, jeder ist total erfolgreich. Auf welcher Plattform kann man authentisch sein?

Dahingehend unterscheidet ihr euch auch von einem sozialen Netzwerk oder Plattformen wie Xing oder LinkedIn?

Richtig. Und auch im Hinblick auf das Thema Selbstdarstellung. All diese Plattformen spiegeln nicht die Realität wider. Menschen stellen sich anders dar als sie sind. Auf Instagram kreiert jeder seine persönliche Kunstwelt, auf LinkedIn im Business-Kontext sind alle nur Gewinner, jeder ist total erfolgreich. Auf welcher Plattform kann man authentisch sein? Ich denke, jeder fühlt, dass es wenig Authentizität gibt.

Heutzutage gibt es so viele unterschiedliche Coaching-Angebote für Leben und Karriere. Ist „millionways“ eine Art Coaching?

Eben nicht. Beim Coaching sitzt dir in der Regel ein Mensch gegenüber, der dir Ratschläge gibt und dir etwas beibringen soll. Das kann auch funktionieren und es kann auch sein, dass wir Menschen mit einem Coach zusammenbringen, aber primär geht es bei uns darum, Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen zu connecten, die einander helfen können, einfach dadurch, dass sie so sind wie sie sind. Das kann ein einmaliges Gespräch sein, ein längerer Austausch oder daraus kann etwas Langfristiges entstehen.

Welche Menschen melden sich bei „millionways“ an, was haben sie gemeinsam?

Viele von ihnen sind an einem Punkt in ihrem Leben, an dem sie hinterfragen, ob sie glücklich sind mit dem, was sie machen, oder an dem sie merken, dass ihnen etwas fehlt. Diese Menschen wissen oft nicht, wo sie Hilfe finden können. Wenn du einfach denkst: „Da muss doch noch mehr gehen“ – an wen wendest du dich? Du wendest dich vielleicht nicht direkt an eine Therapeut*in oder einen Coach, du hast keine massiven Probleme, es geht dir nicht schlecht, aber alleine kommst du nicht richtig voran.

Früher hätte man vielleicht gedacht, es sei ein Luxusproblem, seiner Leidenschaft folgen zu wollen. Aber das ist kein Luxusproblem. Das Wichtigste eines Lebewesens ist doch, dass es es selbst sein kann. Das ist wie mit einer Kuh auf einer Betonstraße – die kann ja nicht glücklich werden. Es ist doch klar, dass wir alle krank werden.

Früher hätte man vielleicht gedacht, es sei ein Luxusproblem, seiner Leidenschaft folgen zu wollen. Aber das ist kein Luxusproblem. Das Wichtigste eines Lebewesens ist doch, dass es es selbst sein kann.

Das Problem vieler Menschen heutzutage ist, dass sie zu viele Interessen haben oder sich nicht entscheiden können, worauf sie sich konzentrieren sollen. Hilft „millionways“ dabei?

Das Verrückte ist, dass diese Menschen häufig dann etwas machen, das sie am wenigsten wollen. Sie können sich nicht entscheiden und dann machen sie eben das, was ihre Freunde auch machen. Dann studieren sie zum Beispiel Jura und denken sich: „Kann ja erst mal nicht schaden.“ Schadet aber doch, weil es viele Jahre dauert und dann hat man jahrelang nicht das gemacht, was man liebt.

Unsere zukünftige App soll dich längerfristig begleiten und bei solchen Themen helfen. Vielleicht triffst du einen Astrophysiker und führst mit ihm ein spannendes Gespräch. Dann kannst du der App sagen: „Zu dem Thema würde ich gerne Menschen kennenlernen“. Dann sucht dir die App passende Menschen, mit denen du dich austauschen kannst. Du musst dann nicht auch plötzlich Astrophysiker werden wollen, aber du bekommst die Chance, dich mit dem Thema zu befassen. Vielleicht merkst du nach einer Weile: „Okay, jetzt reicht es mit dem Thema.“ – oder vielleicht möchtest du daraus mehr machen.

Geht es darum, sein Leben umzukrempeln?

Das entscheidet jeder für sich. Wir können nur Wege aufzeigen. Wenn jemand so weit ist und sein Leben umkrempeln möchte, dann zeigen wir dafür Wege auf. Es kann aber auch darum gehen, nebenbei etwas aufzubauen, ein „Hobby“ zu finden oder wie man es auch nennen will, oder darum, sich wertgeschätzt zu fühlen. Ich mag diese Aufteilung in „Job“ und „Hobby“ nicht, ich finde, das Leben soll aus dem bestehen, was einen Menschen ausmacht und mit manchem davon verdient man eben Geld.

Wie groß ist euer Team?

Unser Team ist über die Jahre gewachsen. Mittlerweile sind wir zwölf Leute, im Moment sind noch nicht alle davon festangestellt. Es sind Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen dabei.

Welche Pläne habt ihr für die Zukunft?

Wir haben jahrelang die Technik entwickelt und sind jetzt dabei, „millionways“ zu verbreiten, zunächst im deutschsprachigen Raum – wobei „millionways“ aber auch schon auf Englisch genutzt werden kann – und danach international. Wir arbeiten gerade daran, „millionways“ zu vergrößern und sind auf der Suche nach passenden Investoren. Dabei ist es uns essentiell wichtig, die richtigen Partner zu finden, die unseren Idealismus teilen. Es geht um Vertrauen bei diesem Thema.

Vielen Dank für das Gespräch, Martin!

 

Hier findet ihr Martin Cordsmeier:

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