In Deutschland gibt es rund 2,6 Millionen Alleinerziehende, die meisten von ihnen – 9 von 10 – sind Frauen*, 40 Prozent leben unterhalb der Armutsschwelle. In Großstädten ist es fast unmöglich geworden, bezahlbaren Wohnraum zu finden – hinzu kommen Inflation und Rezession. Für Alleinerziehende ist die Lage also besonders schwierig. Dabei gibt es nicht nur finanzielle Herausforderungen, auch die alltägliche Belastung mit Betreuung, Vereinbarkeit, Haushalt, Mental Load & Co ist groß.
Aber warum muss es eigentlich immer der*die jeweilige Partner*in sein, mit dem*der man das alles teilt? Warum nicht jemand in der gleichen Situation? Das haben sich auch Nanette Sommer, IT Managerin, und Christina Vogt, Lehrerin, gedacht. Sie haben sich auf dem Spielplatz kennengelernt und fünf Monate später eine Plattform für WGs für Alleinerziehende gegründet. Christina lebt mittlerweile selbst mit ihrem Sohn in einer Mama-WG. Wie ihre Plattform „Lemulike“ funktioniert, was das Ganze mit Lemuren zu tun hat und wie das Leben in einer Mama-WG tatsächlich aussieht, erzählen Christina und Nanette im Interview.
Christina: Weil wir diese Lösung selbst brauchten. Ich habe mich damals vom Vater meines Sohnes getrennt und war in der Situation, schnell eine bezahlbare Wohnung in Hamburg finden zu müssen. Das ist nahezu utopisch. Ich hätte eine Mama-WG toll gefunden! Nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern weil man sich gemeinsam Aufgaben aufteilen und die Betreuung besser stemmen kann. Auf den gängigen Online-Portalen konnte ich nicht gezielt nach anderen alleinerziehenden Eltern suchen. Es gab Senioren-WGs und die klassischen Studenten-WGs, aber das wäre für mich und meinem damals vier Jahre alten Sohn nicht passend gewesen. Also haben Nanette und ich gesagt: Wenn es das nicht gibt, dann machen wir das einfach.
Auf den gängigen Online-Portalen konnte ich nicht gezielt nach anderen alleinerziehenden Eltern suchen.
Nanette: Wir haben losgelegt und ziemlich schnell gemerkt, dass wir einen Programmierer für unser Portal brauchen. Wir wollten bewusst keine Investor*innen mit reinnehmen. Mein Freund Tommy Ahrens arbeitet als Programmierer. Er fand die Idee super und ist als dritter Gründer eingestiegen. Er hat die Website mit Datenbank dahinter gebaut.
Christina: 2019 haben wir angefangen, daran zu arbeiten. Da wir das Projekt nebenberuflich machen, hat alles etwas länger gedauert. Dann kam Corona dazwischen. Wir haben klein gestartet und alles selbst gemacht, was unheimlich spannend ist.
Nanette: Zudem haben wir so unterschiedliche Hintergründe, dass wir als Gründer*innen-Trio viel in Eigenleistung machen konnten und können. Tine bringt ontop die Erfahrung aus einer Mama-WG mit.
Nanette: „Lemulike“ heißt “wie die Lemuren”. Wir haben nach einem Fantasienamen gesucht, der wirklich zu unserem Konzept passt. Lemurenmütter leben uns genau das vor. Sie schließen sich in kleinen Gruppen zusammen, die sich gemeinsam um den Nachwuchs kümmern. Sie bündeln so ihre Kräfte und teilen sich auf. Eine passt auf die Babys auf und die andere geht auf Futtersuche.
Diese Erfahrung kann für Kinder unglaublich wertvoll sein.
Christina: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es Vermieter*innen gibt, die Alleinerziehenden helfen wollen und die glücklich sind, wenn zwei Alleinerziehende kommen, weil diese durch zwei Einkommen abgesichert sind. Was uns manchmal begegnet, ist die Sorge, dass es nicht klappen könnte. Überwiegend ist das Feedback positiv.
Und wenn es in einer WG mal nicht klappen sollte, zieht man eben wieder auseinander. Man geht ja keine Ehe ein, es ist ganz klar geregelt, dass es sich um eine Wohngemeinschaft handelt. Diese Erfahrung kann für Kinder unglaublich wertvoll sein. Ich habe da tatsächlich keine Bedenken.
Nanette: Der große Unterschied zu anderen WGs ist, dass der Platzbedarf mit Kindern größer ist. Bei uns gibt es deshalb die Möglichkeit, den individuellen Platzbedarf anzugeben, also dass man beispielsweise insgesamt drei Zimmer braucht, weil man zwei Kinder hat. Man kann außerdem angeben, dass es einem wichtig ist, ein eigenes Bad zu haben.
Außerdem gibt es ein Freitextfeld, in das man alles schreiben kann, was einem wichtig ist. Da können auch Wünsche zum Zusammenleben stehen, zum Beispiel ob man eine klassische Wohngemeinschaft möchte, in der jede*r sein*ihr Ding macht oder ob man sich gegenseitige Unterstützung und ein bisschen mehr Gemeinschaft wünscht. Man kann auch angeben, ob man lieber mit einem Mann* oder einer Frau* zusammenziehen möchte und auch die gewünschte Anzahl der Kinder lässt sich einstellen.
Nanette: Auf der Website hat man eine Chat Funktion, über die man Kontakt aufnehmen und sich kennenlernen kann. Wir gehen davon aus, dass im Anschluss der persönliche Kontakt folgt. Wie oft sich die Personen dann treffen und wie lange das Kennenlernen dauert, wissen wir nicht. Wir sehen, dass viel gechattet wird, aber wir wissen natürlich nicht, was geschrieben wird. Tine, du kannst ja mal erzählen, wie es bei dir war.
Christina: Es ist tatsächlich ein bisschen wie Dating. Man verabredet sich das erste Mal, lernt sich kennen und hat relativ schnell ein erstes Gefühl, ob es passen könnte oder nicht. Individuell kann es sehr unterschiedlich sein, wie oft man sich trifft und wann sich die Kinder kennenlernen.
Bei meiner Mitbewohnerin und mir ging es sehr schnell, obwohl sie sich eigentlich nicht so gut vorstellen konnte, in einer WG zu wohnen. Wir haben uns auf Anhieb total gut verstanden und unsere Söhne sich ebenfalls und so haben wir am Ende des ersten Treffens gesagt, dass wir uns das vorstellen könnten. Eigentlich hatten wir vereinbart, dass wir uns noch ein paar Mal treffen wollen. Ich hatte ihr dann ein Video vom Haus geschickt und wir haben eine Übernachtungsverabredung ausgemacht. Als sie da waren, standen wir im Wohnzimmer, haben uns angeguckt und gesagt: Wir machen das! Wir haben uns also schon beim zweiten Treffen dafür entschieden.
Wir haben zwar gemeinschaftlich genutzte Räume, aber eben jede*r seine*ihre Privatsphäre.
Christina: Die WG gibt es seit einem Jahr. Unsere Jungs sind fast gleich alt und haben anfangs viel zusammen gespielt. Sie gehen in die gleiche Schule und es war fast wie mit einem Geschwisterkind. Mittlerweile machen sie eher weniger zusammen, was total okay ist. Es gibt Tage, an denen sie zusammen spielen. Das ist eine schöne Seite dieses Zusammenlebens: Es ist keine Patchworkfamilie, in der es bestimmte Erwartungen gibt. Wir haben als WG ein kleines Reihenhäuschen und bewohnen jeweils eine Etage. Das ist absoluter Luxus. Wir haben zwar gemeinschaftlich genutzte Räume, aber eben jede*r seine*ihre Privatsphäre.
Unsere Jungs sind jetzt 9 Jahre alt und können tagsüber schon mal alleine bleiben, trotzdem ist es schön zu wissen, dass noch jemand im Haus ist. Was mich wirklich sehr entlastet, sind die gemeinsam organisierten Abende. Ich gehe gerne abends zum Sport bis 21:30 Uhr und es ist toll, wenn dann eine Erwachsene im Haus ist.
Außerdem gibt es noch einen WG-Hund. Ich habe eine Schulhündin, die ich mit in die Schule nehme. Wenn ich sie mal nicht mitnehmen kann oder mal abends oder am Wochenende, passen die beiden auf sie auf. Das ist eine große Erleichterung.
Christina: Das ist absolut so. Kleine Kinder kann man nicht alleine lassen. Ich habe keine Familie vor Ort und weiß wie es ist, kleine alltägliche Dinge erledigen zu müssen – und es nicht zu können.
Christina: Man sollte es einfach ausprobieren. Was kann schon passieren? Im schlimmsten Fall merkt man, dass es nicht passt – zwischen den Erwachsenen oder den Kindern. Dann zieht man einfach wieder auseinander. In meinen Augen ist das nichts Schlechtes, sondern eine Erfahrung. Auch für die Kinder.
Mein Sohn hat im letzten Jahr unglaublich viel gelernt. Wenn zwei Mütter zusammenziehen, gibt es natürlich Unterschiede bei Ansichten und Erziehungsstilen. Das war nicht immer einfach für meinen Sohn. Der Sohn meiner Mitbewohnerin hat zum Beispiel deutlich mehr Medienzeit. Das musste mein Sohn lernen und akzeptieren. Die beiden sind eine Familie und haben ihre Regeln und er und ich sind eine Familie und haben unsere Regeln. Das klappt inzwischen unfassbar gut und dafür bin ich sehr dankbar.
Je nach Alter und Charakter der Kinder haben sie im besten Fall eine*n Spielkamerad*in im eigenen Haus. Und auch die Mamas oder Papas haben jemanden, mit dem*der sie sich austauschen können.
Nanette: Gerade in Großstädten ist die geteilte Miete ein wichtiger Punkt. In ländlichen Gebieten ist das Interesse auch groß, aber aus anderen Gründen. Dort gibt es viel kürzere Betreuungszeiten in Kitas und Schulen. Hier in Hamburg haben viele Kitas bis 19 Uhr geöffnet. Diese Ausweichmöglichkeit gibt es theoretisch. Auf dem Dorf haben alleinerziehende Mütter oder Väter diese Möglichkeiten nicht. Da gibt es ein Betreuungsproblem. Deswegen geht es dort eher um die gegenseitige Unterstützung, die viele als große Entlastung und Vorteil empfinden. Also, dass man überhaupt richtig arbeiten gehen kann.
Christina: Auch die sozialen Aspekte sind wichtig. Je nach Alter und Charakter der Kinder haben sie im besten Fall eine*n Spielkamerad*in im eigenen Haus. Und auch die Mamas oder Papas haben jemanden, mit dem*der sie sich austauschen können. Der erste Lockdown während Corona war furchtbar für mich. Ich saß alleine mit meinem Kind in der Wohnung und hatte niemanden zum Reden. Ich finde es wirklich schön, wenn man jemanden im Haus hat.
Nanette: Die Website ist deutschlandweit verfügbar und wir machen viel Werbung. Da wir keine Investor*innen haben, ist unser Marketingbudget begrenzt. Deswegen freuen wir uns über Marken und Unternehmen, die auf unserer Seite Werbung schalten wollen. Zudem nutzen wir die Alleinerziehenden-Verbände. Diese sind oft die erste Anlaufstelle und Informationsquelle, wenn man sich trennen möchte.
Christina: Unser Ziel ist es, dass uns jede*r kennt. Wenn mehr Menschen uns kennen, nutzen sie es mehr und es entstehen mehr Eltern-WGs. Und dadurch entstehen mehr Möglichkeiten und Angebote. Bei einer Trennung mit Kindern verändert sich für Kinder ohnehin schon viel und man will sie nicht auch noch aus ihrem gewohnten Stadtteil oder der Schule rausreißen.
Unser primäres Ziel ist es deshalb, so bekannt wie möglich in Deutschland zu werden und dann irgendwann europaweit auszurollen. Wir sind in Kontakt mit den deutschen und österreichischen Verbänden und uns ist es wichtig, dass „Lemulike“ auf deren Website verlinkt wird. Wenn Verbände und Beratungsstellen von uns wissen, können sie uns im Gespräch mit Alleinerziehenden empfehlen.
Christina: Absolut. Eine Eltern-WG macht nicht nur den finanziellen Part einfacher. Es hilft auch zu wissen, dass da noch eine andere Person ist, die eine*n unterstützen kann. Oft hat man bei einer Trennung Angst davor, alles alleine schaffen zu müssen.
Nanette: Die Stadt Berlin hat uns schon mal in einem Termin zurückgemeldet, dass es in Berlin sehr viele Frauen* gibt, die es sich nicht mehr leisten können, auszuziehen und deshalb in einer Beziehung bleiben. Das ist extrem traurig und übrigens auch einer der Gründe, weshalb die Bilder auf der Website verpixelt sind. Wenn eine Person überlegt, sich zu trennen und sich umschauen will, soll es dafür einen gewissen Schutz geben. Die Bilder werden nur für registrierte Nutzer*innen sichtbar. Es wird außerdem nur der Vorname angezeigt, damit es eine gewisse Anonymität gibt.
Collage / Foto: „Canva“ / Stefan Freund