Ein neuer Diskurs über Magersucht

26. Februar 2016

Nora Burgard-Arp ist Journalistin aus Leidenschaft. Für sie stand immer fest, dass sie Geschichten erzählen will. In Zeiten der Krise tut sie das, was vielen Journalisten momentan geraten wird: neue Wege gehen. Mit ihrer Website Anorexie –  Heute sind doch alle magersüchtig widmet sie sich einem Thema, das sie schon lange nicht mehr loslässt: der Magersucht. Ohne Bilder von dünnen Mädchen und Klischees nähert sie sich der Thematik, führt Interviews mit Betroffenen und Wissenschaftlern. Dafür bekam sie bereits den Reportagepreis der Heinrich-Böll-Stiftung und ZEIT ONLINE und war für den Grimme Online Award nominiert. Wir treffen Nora zum Lunch und sprechen über die Komplexität und die falsche Faszination, die von der Krankheit Magersucht ausgeht.

femtastics: Warum bist du Journalistin geworden?

Nora Burgard-Arp: Ich habe – wie wahrscheinlich die meisten Journalisten – schon immer gern Geschichten erzählt. Meine erste Geschichte habe ich als Kind in der Grundschule geschrieben: „Die Geschichte vom verschwundenen Huhn“, ein Krimi. Schreiben und erzählen ist einfach das, was ich kann und was ich will.

Ich kriege es hin, das Thema so zu erzählen, dass die Leute es mit Interesse lesen, ohne dass ich reißerisch dabei werde.

Das Ansehen des Berufs des Journalisten hat zuletzt etwas gelitten, die Branche befindet sich in der Krise. Was begeistert dich nach wie vor an dem Beruf?

Mich begeistert daran, Geschichten so zu erzählen, dass ich Menschen mit einem Thema erreiche, mit dem ich sie sonst vielleicht nicht erreicht hätte. Das ist bei mir zum Beispiel Magersucht. Ich kriege es hin, das Thema so zu erzählen, dass die Leute es mit Interesse lesen, ohne dass ich reißerisch dabei werde. Das ist manchmal eine ziemliche Herausforderung, gleichzeitig aber auch eine Befriedigung, wenn die Leute sich dann wirklich mit dem Problem auseinandersetzen.

Mit deiner Website „Anorexie – Heute sind doch alle magersüchtig“ gehst du neue Wege des Journalismus – sollten das vielleicht mehr Journalisten tun?

Wichtig ist, dass man eine Leidenschaft für ein Thema hat. Es gibt natürlich den Ratschlag an Journalisten, sich mit eigenen Projekten selbstständig zu machen, aber das geht eben nur, wenn man wirklich für die Angelegenheit brennt. Sonst wird es schwierig. Ich habe das Thema Magersucht zum Beispiel nie über. Es nervt mich eher manchmal, dass ich nicht noch mehr Zeit dafür habe.

Der Journalismus befindet sich in einer tollen Zeit, in der man viel probieren kann?

Alte Regeln wurden durchbrochen, man kann herum experimentieren und niemand sagt genau, was der Journalismus eigentlich gerade ist. Trotzdem gibt es natürlich die Grundregeln.

Warum hast du dich ausgerechnet für das Thema Magersucht entschieden?

Der Auslöser war tatsächlich das Dschungel Camp 2013, in dem Fiona Erdmann war. Alle haben damals auf sie eingedroschen, sie sei magersüchtig oder bulimisch. Ich fand das ganz schrecklich, weil man es einfach nicht wusste. Trotzdem stand die Diagnose fest und es gab eine ganz widerliche Berichterstattung. Ich habe die Augen hinsichtlich des Themas offen gehalten und bemerkte in den Klatschmagazinen, wie schnell einem Promi unterstellt wird, magersüchtig zu sein. Das passiert ungefähr jeder zweiten prominenten Frau. So werden diejenigen, die wirklich magersüchtig sind, in eine Schublade gesteckt. Es ist aber keine Modekrankheit und außerdem wird in der Wahrnehmung kein Unterschied mehr gemacht, wenn man einen Tag eine Frau sieht, die als „magersüchtig“ betitelt wird, und am nächsten Tag ein Model mit der gleichen Figur, die als „Top-Bikinifigur gelobt wird.

Boulevard ist nun mal so, dass man Leute fallen und stürzen sehen will. Aber hier passiert das auf Kosten von Menschen, die wirklich an Magersucht erkrankt sind.

Was stört dich konkret an der Berichterstattung?

Die Diagnose wird wahllos gestellt. Ich habe nicht die Erwartung an die Boulevardpresse, dass die groß Hintergründe oder harte Fakten liefern. Boulevard ist nun mal so, dass man Leute fallen und stürzen sehen will. Aber hier passiert das auf Kosten von Menschen, die wirklich an Magersucht erkrankt sind. Und auf Kosten der Promis, klar. Aber die wirklich Magersüchtigen werden so pauschalisiert.

Wir treffen Nora während ihrer Mittagspause auf ein Lunch-Interview.

Wir treffen Nora während ihrer Mittagspause auf ein Lunch-Interview.

 

 

Warum funktioniert das Thema Magersucht bei den Lesern so gut?

Die Leute wollen superperfekte Promis schwach sehen. Magersucht ist eine besonders faszinierende Krankheit. Wenn man die ausgemergelten Körper sieht, fragt man sich, wie das geht, dass die so viel stärker als ihr Hunger sind? Selbstzerstörung ist eh immer etwas Geheimnisvolles und Faszinierendes. In der Forschung zur Magersucht gibt es auch immer noch viel mehr Fragen als Antworten. Die Forschung weiß immer noch nicht, woher diese „Kompetenz“ kommt. In unseren Genen ist ja eigentlich drin, zu essen, wenn wir Hunger haben. Trotzdem gibt es Menschen, die sich zu Tode hungern oder generell an Magersucht sterben, und das sind nicht wenige.

Magersucht ist eine Krankheit, die erstmal nichts oder nur sehr wenig mit dem realen Aussehen zu tun hat.

Irgendwann hast du angefangen mit Betroffenen zu sprechen?

Die haben mir bestätigt, wie schlimm es für sie ist, wenn ihre Krankheit so verharmlost wird. Außerdem ist Magersucht eine Krankheit, die erstmal nichts oder nur sehr wenig mit dem realen Aussehen zu tun hat. Wenn gesagt wird, Magersucht sei eine Modekrankheit, dann fühlen sie sich hilflos. Es ist eine psychische Krankheit.

Wir sind heute also nicht alle magersüchtig?

Es ist nicht so, wie die Boulevardpresse es gern darstellt. Wir sind nicht alle essgestört. Die Zahlen bei der Magersucht haben sich in den letzten zwanzig Jahren nicht erhöht. Natürlich gibt es den Schönheits- und Schlankheitswahn, den sollte man auch nicht klein reden, das will ich gar nicht. Aber das ist noch nicht Magersucht, da gibt es eine Grenze.

Trotzdem stehen Menschen darauf, sich Bilder – vor allem auf Instagram & Co – von wahnsinnig dünnen Menschen anzuschauen. Kann man da irgendwie einhaken und den Menschen erklären, dass es nichts Erstrebenswertes ist, so dünn zu sein?

Prävention ist mit das wichtigste Thema bei Essstörungen. Kindern sollte ein gutes Körpergefühl beigebracht werden. Ich weiß nicht, ob man gegen so eine Faszination wirklich was machen kann.

Das Schönheitsbild ist total im Wandel. Gerade gibt es auch eine große Plus-Size-Bewegung. Tut sich da was?

Das Schönheitsbild ändert sich ja immer. Gerade gibt es aber auch die große Healthy-Food-Bewegung, alle wollen so gesund wie möglich leben. Das ganz Abgemagerte ist gerade eigentlich nicht angesagt, jetzt geht es wieder darum, gesund auszusehen.

Siehst du diese Bewegung kritisch?

Ich finde die Healthy-Food-Bewegung, wenn sie extreme Formen annimmt, eher bedenklich. Schließlich geht es beim Essen nicht nur um Ernährung, sondern eben auch um Genuss. Wenn ich nun aber ständig zu hören bekomme, ich müsse meinen Körper mit Detox-Produkten entgiften, führt das zu einer Selbstkasteiung und dem Gefühl, meinen „schlechten“ Körper permanent optimieren zu müssen. Und viele Frauen neigen leider sowieso schon dazu, sich und ihren Körper in Frage zu stellen beziehungsweise zu glauben, sie seien nicht gut genug.

Was lässt sich dagegen tun?

Hier ist Prävention wichtig, also, den Leuten zu sagen, dass sie nicht vergiftet sind. Das Ziel sollte sein, sich so zu ernähren, wie der Körper es braucht. Wenn man seinen Körper gut kennt und auf seine Gelüste hört, ernährt man sich automatisch gesund. Ich bin gerade schwanger und bekomme eine Tochter. Wenn sie auf der Welt ist, habe ich mir vorgenommen, dass sie auch mit Essen experimentieren darf. Ich werde nicht sagen, dass Süßigkeiten super schlecht sind.

Magersucht ist viel komplexer als nur das Essensthema oder das Äußere?

Ich habe mit so vielen Betroffenen gesprochen, sowohl mit Frauen als auch mit Mädchen oder Männern. Es ist nie nur das Äußere das Motiv. Der Körper ist wie ein Schlachtfeld, auf dem etwas ausgetragen wird, was man selbst mit sich ausmacht. Es gibt viele Gründe für Magersucht, nie den einen. Es gibt auch nie das eine Traumata, ein Übergriff in der Kindheit oder ähnliches, weswegen Erkrankte magersüchtig geworden sind. So einfach ist es nicht. Magersucht ist immer verbunden mit einem Trauma oder einer Verletzung, dazu kommt ein Kontrollzwang oder ein Perfektionismus. Man darf Magersucht nicht nur auf das Essensthema reduzieren. Die Krankheit ist komplex und genauso komplex sind die Gründe dafür. Auch, wie die Krankheit ausgelebt wird, ist sehr unterschiedlich.

Dieser Kontrollzwang oder eine gewisse Selbstbeherrschung deckt sich wiederum teilweise mit dem aktuellen Frauenbild.

Es wird ein Machtgefühl demonstriert: Ich bin stärker als mein Körper. Wobei es eben bei Magersüchtigen gar nicht mehr darum geht, in den Spiegel zu schauen und zu sehen, dass sie dünn sind. Sie sehen nur die Zahl auf der Wage und denken sich, morgen bin ich noch mal stärker. Es geht darum, stärker als man selbst, als der Körper und auch als andere Menschen zu sein. Ein Mädchen hat mir gesagt, dass sie es selbst gar nicht gesehen hat, wie dünn oder dick sie war. Sie fand ihren Körper doof und wollte den kaputt machen.

Ist es wirklich „nur“ der Körper, oder wollen die Betroffenen sich selbst kaputtmachen?

Es ist ein innerer Konflikt, der mit dem Körper ausgetragen wird. Eine andere Erkrankte erzählte mir, dass sie das Gefühl hatte, dass es gar nicht mehr ihr Körper war. Sie fühlte sich in ihrem Körper nicht zu Hause, er war wie Ballast für sie, der weg kann. Ein anderes Mädchen galt immer als die Schöne, dachte sich aber, ich bin mehr als das, ich bin intelligent. Sie hat sich hässlich gemacht, sie wollte nicht mehr, dass Männer sie anschauen. Wenn man sich diese Motive bewusst macht, kann man das Argument Schönheitswahn gleich vergessen.

Warum sind mehr Frauen als Männer betroffen?

Jeder zehnte Erkrankte ist ein Mann. Warum das so ist, weiß ich nicht. Frauen fangen vielleicht eher an, an ihrem Körper oder an ihrem Äußeren zu zweifeln. Männer werden vielleicht eher nach außen als gegen sich aggressiv. Frauen tendieren dazu, bei sich die Schuld zu suchen und zu denken, dass sie schlecht sind.

Wie ist das Feedback auf deine Website?

Ich bekomme unheimlich viele E-Mails, auch mit Themenvorschlägen. Bei Facebook gibt es nicht so viele Reaktionen, weil es ein sehr sensibles Thema ist. Andere Redaktionen kaufen mir die Texte ab, das ging ganz schnell nachdem ich mit der Seite gestartet bin. Ich konnte mich mittlerweile als Magersuchtsexpertin etablieren, das Thema ist in unserer Gesellschaft wichtig.

Wie wurdest du zur Expertin?

Ich habe mich um ein Stipendium beworben, weil ich Geld brauchte, um das Projekt zu starten. Das hat geklappt und ein Mentorenprogramm bekam ich auch noch. Ich habe angefangen, mich in das Thema reinzufuchsen. Bevor der erste Text online ging, ist ein halbes Jahr vergangen, in dem ich intensiv Studien gelesen und mit Ärzten gesprochen habe.

Danke dir für das Interview, liebe Nora.

Hier findet ihr Nora:

Fotos: femtastics

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