Nachhaltiges Reisen: 9 Mythen – und was wirklich dahintersteckt
05. Mai 2025
geschrieben von Gastautor*in

Immer mehr Menschen möchten umweltbewusst reisen – aber was bedeutet das eigentlich konkret? Karen Wittel ist Gründerin des nachhaltigen Reiseveranstalters "atambo.de" und Expertin für nachhaltige Urlaube. Sie konzipiert zusammen mit ihrem Team maßgeschneiderte Fernreisen, Expeditionen, Flitterwochen und Auslandshochzeiten. Als stellvertretende Vorstandsvorsitzende des nachhaltigen Tourismusverbandes "forum anders reisen e.V." hat sie einen kritischen Blick auf die gängigsten Vorstellungen rund ums "grüne Reisen". Warum „Airbnb bei Locals“ nicht immer so nachhaltig ist wie gedacht, wieso selbst Elektroautos nicht automatisch klimafreundlich sind – und wie echte Begegnungen auf Reisen oft mehr zählen als jede Öko-Zertifizierung, darüber schreibt Karen Wittel für femtastics.
"Rund um nachhaltiges Reisen ranken sich viele Mythen - einige halten sich hartnäckig."
Als Inhaberin eines nachhaltig zertifizierten Reiseveranstalters, der sich auf maßgeschneiderte Fernreisen spezialisiert hat, werde ich oft gefragt, wie man heute überhaupt noch guten Gewissens die Welt entdecken kann. Schließlich möchte niemand mehr der Umwelt schaden, während er in Bali Kokosnüsse schlürft oder in Costa Rica den Regenwald bestaunt.
Nach vielen Jahren in der Branche habe ich eines gelernt: Rund um nachhaltiges Reisen ranken sich viele Mythen – und leider halten sich einige davon hartnäckiger als ein Sandkorn im Koffer nach dem Urlaub. In meinem Alltag erlebe ich immer wieder, wie schnell gut gemeinte Entscheidungen in die Irre führen können. Also höchste Zeit, mit ein paar Missverständnissen aufzuräumen. Und weil Geschichten mehr sagen als bloße Fakten, nehme ich Euch heute mit in meinen ganz persönlichen Reisebüro-Alltag.
"Ganze Viertel werden leer gekauft, reguläre Mieter verdrängt, das soziale Gefüge zerstört."
„Airbnb“ – wohnen wie die Locals? Schön wär’s.
Anna und Lutz saßen strahlend in meinem Büro, die Köpfe dicht nebeneinander. Ihre Flitterwochen sollten nach Bali gehen – natürlich nachhaltig. „Wir buchen einfach ein kleines „Airbnb“ bei Einheimischen“, sagten sie, „das ist doch viel besser als ein großes Hotel.“
Ich lächelte. Ihre Vorstellung war romantisch – und leider ziemlich weit von der Realität entfernt. In beliebten Regionen wie Bali, Barcelona oder New York gehören viele „Airbnb“-Unterkünfte längst nicht mehr netten Familien, sondern Immobilienfirmen oder Investoren. Ganze Viertel werden leer gekauft, reguläre Mieter verdrängt, das soziale Gefüge zerstört. Nachhaltig wohnen – das geht, aber nicht überall, wo es auf der Website so aussieht.
Carsharing spart automatisch CO₂? Kommt drauf an.
Auf der Geburtstagsparty meiner Freundin erklärte mir kürzlich ein Bekannter stolz, dass er auf seiner Portugal-Reise fast nur Carsharing genutzt hätte. „Viel besser als ständig ein eigenes Auto zu mieten!“, rief er und prostete mir mit seinem Riesling zu.
Grundsätzlich eine gute Idee – nur eben nicht immer. Untersuchungen zeigen, dass Carsharing oft zusätzliche Fahrten erzeugt: Menschen, die sonst den Bus genommen oder zu Fuß gegangen wären, wählen plötzlich das Auto. Ein klassischer Rebound-Effekt! Manchmal spart man wirklich – aber manchmal fährt man auch einfach mehr, nur weil es bequemer ist.
"Wer wirklich sauber unterwegs sein will, muss auf die gesamte Energiekette schauen."
Elektroautos sind immer grün? Schön wär’s.
Bei der Planung einer Rundreise durch Südafrika wollten meine Stammkunden unbedingt ein Elektroauto mieten. „Damit reisen wir dann komplett emissionsfrei“, erklärten sie mit leuchtenden Augen. Tatsächlich fahren E-Autos lokal emissionsfrei – aber woher der Strom stammt, macht einen gewaltigen Unterschied.
In Südafrika etwa wird der Großteil des Stroms noch immer durch Kohlekraft erzeugt. Laut der Europäischen Umweltagentur können Elektroautos indirekt genauso viel oder sogar mehr CO₂ verursachen als konventionelle Fahrzeuge. Wer wirklich sauber unterwegs sein will, muss auf die gesamte Energiekette schauen.
Camper-Reisen – Freiheit und Nachhaltigkeit?
Als ein Kunde kürzlich seinen Traum schilderte – sechs Monate im Camper durch Europa, möglichst naturnah –, nickte ich anerkennend. Abenteuerlust kann sehr nachhaltig sein – wenn man es richtig angeht. Doch moderne Campervans schlucken ordentlich Diesel: oft 10 bis 14 Liter auf 100 Kilometer. Dazu kommt der immense Ressourcenbedarf für Bau und Wartung. Im Vergleich zu einer Bahnreise schneidet der Camper meist schlechter ab.
"Wenn Zehntausende Tourist*innen jeden Tag kleine Inseln überfluten, dann verliert eine Kultur mehr, als sie gewinnt."
Reisen bildet immer? Nicht ganz.
Letzte Woche hatte ich eine Familie in der Videoberatung. Sie wollte eine Kreuzfahrt durch die Karibik bei mir buchen (nein wir bieten das nicht an!), mit dem ausdrücklichen Wunsch, „authentische Einblicke in das Leben der Einheimischen“ zu gewinnen.
Es ist ein schöner Gedanke: Reisen als Schule der Welt. Und ja, es stimmt – Reisen kann Horizonte öffnen, Vorurteile abbauen, Verbindungen schaffen. Aber wenn Zehntausende Tourist*innen jeden Tag kleine Inseln überfluten, wenn Tänze, Zeremonien und Bräuche nur noch für Besucher*innen inszeniert werden, dann verliert eine Kultur mehr, als sie gewinnt.
Und noch ein Gedanke: Reisen bildet nur dann, wenn Du Dich wirklich mit dem Land auseinandersetzt. Das bedeutet vorab informieren: Wie sieht es mit der Politik im Land aus, was sind die Schmerzpunkte des Landes. Informiere Dich über die Geschichte, die Hintergründe und nicht nur über touristischen Highlights. Hierzu empfehle ich die Sympathie-Magazine.
Ach, übrigens: Die Familie hat schließlich einen Segeltörn bei uns gebucht.
Souvenirs – nicht alles, was schön ist, ist auch harmlos.
In einem kleinen Marktstand auf Sri Lanka fiel mir bei meinem letzten Urlaub eine Kette aus glänzenden Muschelschalen ins Auge. So leicht, so schön – und doch verzichtete ich schweren Herzens auf den Kauf.
Viele Andenken, die auf Märkten angeboten werden, stammen aus gefährdeten Beständen: Korallen, Muscheln, Schildkrötenpanzer oder Teile von geschützten Pflanzenarten. Laut der „WWF“ tragen solche Souvenirs erheblich zur Bedrohung seltener Arten bei. Wer sicher gehen will, sollte darauf achten, keine Produkte tierischen Ursprungs oder aus geschützten Pflanzenarten zu kaufen.
Lokale Tourguides – immer nachhaltig?
Ein junges Paar buchte bei mir eine Dschungeltour in Peru und freute sich besonders, dass der Guide „Local“ sei. Lokale Guides einzusetzen klingt selbstverständlich nachhaltig – und ist es bei mir natürlich auch. Aber nicht jede*r Anbieter*in behandelt seine*ihre Mitarbeiter*in fair. Ohne gute Bezahlung und faire Verträge profitieren lokale Communities kaum vom Tourismus.
Und mehr noch: Vielerorts arbeiten selbst ernannte Guides ohne Lizenz und Kenntnis, die der Natur und den Gästen mehr schaden, als helfen. Ich werde nie eine Expedition im Manu Nationalpark (Peru) vergessen. Nach einem sehr heftigen Regenschauer, retteten wir drei Holländer von einer Sandbank, umgeben vom reißenden Amazonas. Ihr Führer hat sie über Nacht, als die Regenfälle heftig wurden, heimlich im Stich gelassen.
"Wildzelten in empfindlichen Ökosystemen kann erheblichen Schaden anrichten."
Zelten – der ultimative Öko-Urlaub?
Beim Networking-Abend erzählte eine Kollegin begeistert von ihrem Trip: Zelten unter freiem Himmel, mitten in Schwedens Natur. Kein Wasseranschluss, kein Strom, „nur wir und die Sterne“.
Ich verstehe die Sehnsucht. Aber auch beim Zelten gilt: Verantwortung ist gefragt. Wildzelten in empfindlichen Ökosystemen kann erheblichen Schaden anrichten: zertrampelte Pflanzen, gestörte Tiere, Erosion der Böden. Organisationen wie z.B. „Leave No Trace“ oder das Umweltbundesamt geben hierzu wertvolle Empfehlungen, wie Naturbesucher*innen ihre Spuren so klein wie möglich halten können.
Die Sache mit den regionale Produkten
Auf Sansibar saß ich einmal in einer Strandbar, vor mir eine frische Kokosnuss. „Regional“, stand groß auf der Tafel. Erst später erfuhr ich: Viele dieser Kokosnüsse kamen aus Thailand. (Thailand ist einer der weltweit größten Exporteure von Kokosnüssen und Kokosprodukten. Es exportiert große Mengen, insbesondere nach Ländern mit hohem touristischem Aufkommen.)
Gerade in touristischen Regionen werden oft Produkte importiert, weil sie billiger oder besser verfügbar sind. Wer wirklich nachhaltig konsumieren will, sollte ruhig einmal nachfragen – meistens freuen sich die Gastgeber*innen über echtes Interesse.
Mein Fazit: Nachhaltiges Reisen ist kein starres Regelwerk und kein Etikett, das man sich anheftet.
Es ist vielmehr eine Haltung: neugierig bleiben, fragen, lernen, bewusst entscheiden – und manchmal auch akzeptieren, dass Perfektion eine Illusion ist.
Hier findet ihr Karen Wittel:
Collage: "Canva"
