Ist „Mindful Drinking“ die Zukunft? – Isabella Steiner von „nüchtern.berlin“

Das Bier zum Feierabend, der Sekt zum Geburtstag, das Glas Wein zum Abendessen – Alkohol gehört zum Alltag wie kaum ein anderes Konsummittel. Gemeinsam mit Katja Kauf hat sich Isabella Steiner gefragt: „Was trinkt man eigentlich, wenn man nicht trinkt?“. Als Antwort auf diese Frage haben die beiden „nüchtern.berlin“ gegründet, um alkoholfreien Drinks und Bars, in denen man sie bekommen kann, eine Plattform zu bieten. Wir haben uns auf einen Gin & Tonic (natürlich ohne Alkohol) getroffen und mit Isabella übers Nicht-Trinken gesprochen.

femtastics: Wie kamt ihr zu der Frage „Was trinkt man eigentlich, wenn man nicht trinkt?“?

Das liegt relativ weit zurück. Ich habe Soziologie studiert und mich schon damals für Trends interessiert, zum Beispiel für Veganismus. Das Thema Alkoholkonsum kam nach meinem Studium dazu, als ich relativ interessiert beobachtet habe, wie die Marke „Seedlip“ aus Großbritannien zu uns gekommen ist und ich dann angefangen haben, mich selbst zu fragen, wie es eigentlich kommt, dass ich so oft einen Kater habe.

Ich habe in den vergangenen zwei Jahren in der PR gearbeitet und da gehört trinken irgendwie dazu, ob in der Agentur oder bei Events nach der Arbeit. In Berlin scheint diese Trinkkultur auch Teil der Stadt zu sein.

Hast du zu der Zeit viel getrunken?

Ich habe in den vergangenen zwei Jahren in der PR gearbeitet und da gehört trinken irgendwie dazu, ob in der Agentur oder bei Events nach der Arbeit. In Berlin scheint diese Trinkkultur auch Teil der Stadt zu sein. Ich habe außerdem lange in Bars und Clubs gearbeitet, wo es üblich ist, am Wochenende drei Tage lang Vollgas zu geben. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich immer länger brauchte, um mich davon wieder zu erholen. Diese Kater-Symptomatik habe ich körperlich echt stark gemerkt und jedes Jahr hat es mir beinahe schon vor dem Dezember gegraut, weil da immer so viel getrunken wurde.

Und dann hast du beschlossen festzuhalten, wie viel du trinkst?

Genau, ich habe angefangen, meinen Alkoholkonsum zu reflektieren und auch zu notieren. Andere zählen Kalorien, ich habe eben das gemacht.

Wie lange hast du dir das notiert?

Ein Jahr lang, wenn nicht sogar länger. Ich habe dafür eine einfache App genutzt. Da gab es dann rote, orangene und grüne Felder und streckenweise war ich im roten Bereich. Das bedeutet, dass man zu viel trinkt. Die Grenze, wie viel man als Frau maximal trinken sollte, ist ja mit etwa einem Glas Wein am Tag relativ niedrig. Alles darüber hinaus wurde in Orange und dann eben in Rot angezeigt. Ich kannte ja meinen Alkoholkonsum, aber da stand auch dabei, was ich getrunken habe: zwei Gläser Wein, drei Gläser Sekt, noch einen Mojito hinterher …

Das Interview führt femtastics-Autorin Josefine Andrae.

Wenn man einen Drink ablehnt, wird das schnell extrem anstrengend. Warum ist das eigentlich so?

Und trinkst du immer noch?

Ich trinke bis heute noch gerne, nur eben bewusster und nicht mehr in diesen Mengen. Ich habe damals aber recht schnell festgestellt, dass es kaum gute Alternativen gibt, wenn man keinen Alkohol trinken will.

Was dann wiederum zur Gründung von „nüchtern.berlin“ führte?

Ja, wir haben angefangen zu schauen, welche Bars und Alternativen es gibt. Klar, man kennt den alkoholfreien Sekt, der im Supermarkt im untersten Regal steht. Und eben Kindersekt – wobei es auch fragwürdig ist, wieso man Kindern überhaupt Sekt zu trinken geben sollte. Mir ist dann wieder die Marke „Seedlip“ aus Großbritannien eingefallen, die bereits auf dem Markt war.

„Seedlip“ fällt unter „alkoholfreier Gin“, richtig?

Das ist eine interessante Frage. Die einzelnen Definitionen sind noch nicht so genau umrissen. „Seedlip“ möchte gar nicht unbedingt ein Ersatz sein, sondern vielmehr ein eigenständiges Produkt. Aber es wird oft als Substitut genommen. Sie haben drei verschiedene Botanicals und gerade noch neue lanciert.

Was genau sind Botanicals?

Auch das ist ein spannendes Thema. Es gibt einfach noch keine richtigen Definitionen, auch, was diese Bezeichnungen betrifft. „Alkoholfrei“ klingt meist uncool. Die Sprache, die mit dem Thema assoziiert wird, muss sich definitiv noch ändern. Aber auch die Wahrnehmung in der Gesellschaft muss sich wandeln. Wenn man einen Drink ablehnt, wird das schnell extrem anstrengend. Warum ist das eigentlich so? Ab 30 aufwärts wird man direkt gefragt, ob man schwanger sei – und dann heißt es oft trotzdem noch, ein Glas würde doch nicht schaden. Und viele wissen auch nicht, dass „alkoholfrei“ nicht gleich heißt, dass gar kein Alkohol drin ist.

Kannst du das näher erklären?

„Alkoholfrei“ bedeutet, dass ein Restalkoholgehalt bis 0,5 Prozent enthalten sein kann. „Ohne Alkohol“ wiederum bedeutet 0,0 – also wirklich keine Spur von Alkohol. Es geht uns auch darum, darüber aufzuklären, denn ganz viele Menschen kennen den Unterschied nicht.

Sieht aus wie Gin, Vodka oder Sekt, hat aber 0%: Alkoholfreie Botanicals von unterschiedlichen Herstellern.

Sind andere Länder beim Thema der alkoholfreien Alternativen weiter als wir?

Wir haben festgestellt, dass die Branche in Großbritannien und auch den USA schon weiter ist. Aus den USA kommt zum Beispiel „Kin“ – das ist kein Gin-Verschnitt, sondern ein alkoholfreies Botanical. Sie sagen aber, dass es eine Wirkung hat. Da ist nämlich viel Koffein drin. Tatsächlich so viel, dass es in Deutschland nicht erlaubt ist. In den USA und England gibt es schon viel mehr Auswahl.

Hatte der Trend dort seinen Ursprung?

London bezeichnet sich tatsächlich als das Epizentrum der „Mindful Drinking“-Bewegung. Wir waren dort auch auf einem „Mindful Drinking“-Festival, zu dem alle Aussteller aus Europa gekommen sind. Das waren relativ viele. Dem Alkohol geht’s langsam an den Kragen (lacht).

Wieso denkst du, dass der Trend auch noch zu uns kommen wird?

Vegetarische Ernährung ist auch ein großer Trend gewesen, der sich deutschlandweit verbreitet hat. Mittlerweile kriegst du in jedem Dorfsupermarkt eine fleischlose Alternative zur Lyoner. Vegetarier wurden vor 20 Jahren belächelt. Ich glaube, es ist einfach nur eine Frage der Zeit, bis sich so etwas etabliert. Das wird mit alkoholfreien Getränken genauso passieren.

London bezeichnet sich als das Epizentrum der „Mindful Drinking“-Bewegung.

Was muss sich bis dahin ändern?

Ich denke, es fehlen noch die guten Vorbilder, zum Beispiel Opinion Leader, die keinen Alkohol mehr trinken. Es gibt in Großbritannien aber auch Studien, die zeigen, dass die jungen Leute immer weniger trinken. Es gibt also in den jüngeren Generationen durchaus ein etwas anderes Bewusstsein fürs Trinken, was vielleicht auch an guter Aufklärung liegen könnte.

Habt ihr bereits positive Rückmeldungen zu eurer Plattform erhalten?

Ja, wir haben relativ viel Zuspruch von Brand-Seite bekommen. Das ist spannend, weil es den Endkonsumenten noch nicht so richtig gibt und die Nachfrage noch nicht so hoch ist, die Marken aber schon in den Startlöchern stehen. Selbst große Marken wie Martini beschäftigen sich schon damit. Die haben im März zum Beispiel etwas Alkoholfreies herausgebracht, was wirklich gut ist!

Welche Alternativen gibt es noch?

Unter den Non-Alcoholics ist Gin am beliebtesten, weil der relativ einfach zu imitieren ist. Gin ist letztlich Alkohol mit Wachholdergeschmack. In Deutschland gibt es fünf Hersteller, die sich in die Gin-Kategorie einordnen lassen. Aber manche, wie eben „Seedlip“, wollen sich gar nicht der Kategorie der Ersatzprodukte zuordnen lassen. „Laori“ oder „Wonderleaf“ wiederum möchten eine Gin-Alternative sein. Inzwischen gibt es zum Beispiel auch alkoholfreien Rum.

Wo findet man diese Produkte?

Vieles lässt sich vor allem online bestellen. Auf unserer Website sammeln wir Alternativen und testen diese. Unser Fokus liegt eigentlich auf dem Bar Guide, in dem wir zeigen, wo man in Berlin gleichwertige Alternativen zu alkoholischen Drinks findet. Dabei geht’s uns nicht um Mocktails wie „Safer Sex on the Beach“ oder „Virgin Colada“. Die klingen eher unsexy und infantil.

Unser Fokus liegt auf dem Bar Guide, in dem wir zeigen, wo man in Berlin gleichwertige Alternativen zu alkoholischen Drinks findet.

Wie unterscheiden sich für euch gleichwertige Alternativen von Mocktails?

Zum einen geht’s uns dabei um die Botanicals – also, dass die Drinks etwas beinhalten, das den Alkohol ersetzt. Es gibt zum Beispiel das „Velvet“ in Neukölln, die alles selbst destillieren. Die machen besondere alkoholfreie Cocktails ohne diese ganzen Alternativprodukte.

Gibt es in Berlin schon viele Bars, die hochwertige Alternativen zu alkoholischen Cocktails bieten?

Es werden immer mehr – auch echt coole Bars. Die Pandemie hat uns beim Ausbauen unseres Bar Guides einen ziemlichen Strich durch die Rechnung gemacht, aber seit kurzem sind wir wieder in Kontakt mit den Bars, erkundigen uns, was bei denen auf der Karte steht, und vereinbaren Fototermine.

Gibt es auch Bars, die sich mit dem Thema nicht auseinandersetzen wollen?

Es gibt viele, die das kategorisch ablehnen. Für die ist Cocktails Mixen eine Wissenschaft, zu der auf alle Fälle Alkohol gehört. Aber es gibt auch einige, die offener sind und durchaus verstehen, dass die Nachfrage steigt. Auch während der Pandemie war der Alkoholkonsum ein großes Thema, das Bewusstsein ist also da.

Wir zählen Kalorien, essen vegetarisch, vermeiden Zucker, Gluten und Laktose – aber bestehen auf den Drink am Abend.

 

Du hast bereits das Schlagwort „Mindful Drinking“ erwähnt. Woher, denkst du, kommt das Interesse an dem Thema?

Das ist einer der wenigen Bereiche, in dem Achtsamkeit noch nicht praktiziert wird. Es gibt „Mindful Eating“, „Mindful Living“, „Mindful Working“ und so weiter. In allen Lebensbereichen findet Mindfulness statt. Der Gesundheitsaspekt ist ja auch wichtig. Wir zählen Kalorien, essen vegetarisch, vermeiden Zucker, Gluten und Laktose – aber bestehen auf den Drink am Abend. Unser Gesundheitsbewusstsein geht nur bis zum Tellerrand, alles darüber hinaus bleibt unberührt. Nach dem Motto: Das ist schon ok, das Feierabendgetränk gönne ich mir. Auch zum Dinner, wenn man Freunde einlädt oder in der Bar ist das vollkommen selbstverständlich. Die Frage „Was trinke ich, wenn ich nicht trinke?“ könnte man auf eine Metaebene heben und fragen: „Was mache ich, wenn ich nicht trinke?“

Eine ziemlich komplexe Frage.

Klar, denn ganz egal, ob du dir Wochenendaktivitäten, Geburtstags- und Festlichkeiten im Allgemeinen oder den Feierabend anschaust, vieles ist einfach mit dem Trinken gekoppelt. Oft braucht man gar keinen Grund zum Feiern, der Tag an sich reicht schon. Aber wir wollen erst einmal die Frage angehen, was man stattdessen trinken kann.

Euch geht es ja auch gar nicht darum, für kompletten Alkoholverzicht zu werben, richtig?

Absolut, es geht nur darum, mehr Diversität zu schaffen. Wir haben bei allem so viele Wahlmöglichkeiten, nur beim Alkohol kann man sich höchstens zwischen Hochprozentigem, Wein und Bier entscheiden. Das muss und wird sich ändern.

Vielen Dank für das Gespräch, liebe Isabella!

 

Hier findet ihr „nüchtern.berlin“:

Layout: Kaja Paradiek

 

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert