Mitra Kassai bringt mit Oll Inklusiv Senioren in die Clubs der Stadt

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10. Januar 2019

Mitra Kassai ist ein alter Hase in der Hamburger Musik- und Kulturszene. Sie hat früher im Management von 5 Sterne Deluxe gearbeitet, Graffiti-Ausstellungen mit Banksy organisiert, ist ganz dicke mit deutschen Hip-Hop-Legenden, sitzt im Beirat der Millerntor Gallery, ist Vorstand bei Rock City e.V., steht als DJ Rita hinterm DJ-Pult und trägt als Musik- und Kulturmanagerin dazu bei, dass in Hamburg so einiges geht. Doch die 46-jährige in München Geborene macht seit Ende 2017 noch etwas Anderes, was zunächst nicht direkt in ihr Profil passt: Sie veranstaltet Events für Senioren. Unter dem Namen „Oll Inklusiv“ organisiert sie abwechslungsreiche Nachmittage für „Senioren und Senioritas“, an denen auch jüngere Menschen Spaß haben – vom Konzert der „Beginner“ bis zur Kunstmesse. Warum ihr das wichtig ist, wie diese Unterhaltungsangebote ablaufen und warum wir letztlich alle davon profitieren, erzählt uns Mitra im Interview.

 

femtastics: Du bist beruflich schon seit vielen Jahren in der Hamburger Kulturszene aktiv. Was waren die wichtigsten Stationen deiner Laufbahn?

Mitra Kassai: Bei der Karsten Jahnke Konzertdirektion habe ich von 2000 bis 2002 das Projekt „Maximum Hip Hop“ geleitet. Die Highlights damals waren eine Graffiti-Ausstellung im Jahr 2000 in den Astra-Hallen – wir hatten unter anderem Banksy dabei, das war seine erste deutsche Ausstellung – und ein Hip Hop-Konzert im Millerntor-Stadion. Das war die Hochzeit von Fünf Sterne deluxe, Beginner, Dynamite Deluxe, Eins Zwo, Ferris MC und so weiter. Das war der Grund, warum ich nach Hamburg kam.

Und dann bist du ins Artist Management gegangen, richtig?

Ja, ich bin nahtlos ins Management von 5 Sterne Deluxe gekommen, in Kooperation mit Jäki Hildisch. Danach habe ich für mehrere Jahre in unterschiedlichen Bereichen in der Musikbranche gearbeitet – unter anderem im Musikvertrieb. Vor sieben Jahren habe ich mich mit Le Beau Bureau, einer Agentur für Künstler- und Musikmanagement, selbstständig gemacht. Und dieses Jahr habe ich die gemeinnützige Initiative Oll Inklusiv gegründet.

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Das Interview führen wir in Mitras Büro mit gemütlichen Polstersesseln.

Du hattest vorher kaum mit älteren Menschen zu tun. Wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, etwas für „Senioren & Senioritas“, wie du so schön sagst, zu tun?

Man druckst immer so rum: Was sagt man eigentlich? „Alte Leute, Rentner …“? Deswegen habe ich mir angewöhnt, „Senioren & Senioritas“ zu sagen, da kommt gleich ein gewisser Pepp rein. In unserer Broschüre sieht man, dass es nicht um „die Beigen“ geht. Die Generation, die jetzt alt wird, tickt ganz anders. Wir haben die jüngsten Alten, die es je gab. Die haben die 68er miterlebt, die Entwicklung vom Schwarz-Weiß-Fernsehen bis zum Smartphone. Man kann ihnen niemanden vorsetzen, der „Kumbaya“ auf der Gitarre spielt, mit ihnen bastelt man auch nicht Kastanienmännchen.

Wir haben die jüngsten Alten, die es je gab. Die haben die 68er miterlebt, die Entwicklung vom Schwarz-Weiß-Fernsehen bis zum Smartphone.

Meine Mutter ist auch in dem Alter, sie lebt in einer Seniorenresidenz, aber eigenständig. Beim Einzug war ihr erster Satz: „Mist, ich habe ja gar kein WLAN!“ (lacht) Es ist die Generation, die selbstständig leben möchte, solange es geht. Meine Mutter war ein Auslöser, die Initiative zu gründen – neben meinem Burnout, den ich vor fünf Jahren hatte. Ich war in einer Klinik und dachte, dass ich gerne etwas Sinnvolles mit meinem Leben machen möchte. Ich habe schon immer ein großes Herz für Senioren gehabt, weil ich es total toll finde, Geschichten von Menschen zu hören, gerade von älteren Herrschaften. Ich liebe Menschen und dachte, ich gehe einfach in eine Seniorenresidenz und gebe etwas zurück! Mir geht es wieder so gut, ich habe ein Payback an die Gesellschaft zu geben, jeder muss das, und bei mir geht es eben an die Menschen im Alter von 60+. 

Oll Inklusiv ist die Agentur und „Halbpension“ ist ein Teil davon, das sind die bunten Nachmittage in den Clubs dieser Stadt. Ich finde diese Welt gehört uns allen, den Jungen wie den Alten. In unsere Broschüre steht der Satz: „Denn Alte dürfen alles sein: laut, bunt, kritisch, aktiv.“

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Wenn ich siebzig bin, möchte ich auch auf coole Veranstaltungen gehen!

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Die humorvollen Fotos für die Oll Inklusiv Broschüre hat die Hamburger Fotografin Katja Ruge gemacht.

Dein Konzept ist, mit den Senioren das zu machen, was auch jüngeren Menschen Spaß macht.

Genau. Es ist auch reiner Egoismus – wenn ich siebzig bin, möchte ich auch auf coole Veranstaltungen gehen! (lacht) Ich mache in meinem Beruf ebenfalls Veranstaltungen wie den „Rollerskate Jam“, was ja auch ein spezielles Format ist. Außerdem habe mir das Format „Eine Kiste Platten und eine Kiste Bier mit dir“ überlegt, das findet im Plattenladen „Groove City“ statt. Damit will ich dafür sorgen, dass Leute wieder in Plattenläden gehen. Ich bin einer der wenigen Menschen, der keinen Spotify-Account hat. Es liegt an meiner beruflichen Historie, dass ich das nicht möchte – ich liebe einfach Vinyl. Was ich kann, was ich weiß und mein Netzwerk vereine ich bei Oll Inklusiv.

Wie ist Oll Inklusiv entstanden? Wie hast du deine Idee in die Tat umgesetzt?

Ich habe im Dezember 2017 die erste Veranstaltung gemacht. Über die gab es vorher einen großen Artikel im Hamburger Abendblatt. Damit hatte ich nicht gerechnet, dadurch war die Hütte gleich voll! Im Januar hatte ich Unterstützung von meiner lieben Freundin Linda Zervakis, sie hat aus ihrem Buch vorgelesen, da war es automatisch voll. Und da dachte ich: Was ich einfach nur mal ausprobieren wollte, funktioniert ja unglaublich gut! Aber wenn man in diesem Staate etwas Soziales tut, sollte man sich eine vernünftige Firmierung ausdenken. Weil es schnell gehen musste, konnte ich keinen Verein gründen, da braucht man sieben Gründungsmitglieder und eine Satzung. Deswegen habe ich eine gemeinnützige Unternehmensgesellschaft gegründet. Viele wohltätige Initiativen haben so gegründet, es ist sozusagen die kleine GmbH, weil es viel schneller und unbürokratischer geht. Man muss natürlich trotzdem zum Finanzamt und Papierchen ausfüllen. Das hat ein paar Wochen gedauert, die Zeit habe ich genutzt für die Evaluation und um weiter am Konzept zu arbeiten. Wir sind auch immer noch in der Evaluation, denn Oll Inklusiv wird weiter wachsen. „Halbpension“ ist ein Teil davon, das sind die Veranstaltungen in den Clubs, oder auch mal Ausflüge: Wir waren beispielsweise beim Beginner Konzert, beim Pre-Listening von Neonschwarz, wir gehen zu Deine Freunde, da dürfen Omis mit ihren Enkeln hingehen, und wir besuchen die „Affordable Art Fair“. Wir machen Dinge, die auch wir Jüngeren gut finden. Mein Fokus liegt darauf, die Gesellschaft zu vereinen, man muss die Jungen und Alten vermischen.

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Die Fotos in der Oll Inklusiv-Broschüre sind bewusst augenzwinkernd und humorvoll.

 

Wir machen Dinge, die auch wir Jüngeren gut finden. Mein Fokus liegt darauf, die Gesellschaft zu vereinen, man muss die Jungen und Alten vermischen.

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Integration ist ein wichtiges Stichwort für deine Arbeit. 

Richtig. Die beiden Schlagwörter „Inklusion“ und „Integration“ werden von der Gesellschaft heutzutage schwer verwendet. Mir ist es wichtig, dass man jung und alt zusammen packt und nicht gesellschaftlich dividiert. Musik, Kunst, Kultur und Sport sollen kein gesellschaftliches Alter haben, genauso wenig wie die internationale Sprache. Bei mir geht es um die Metaebene Musik, aber auch um: Raus aus der Einsamkeit und Altersarmut! Bei mir kosten die Veranstaltungen kein Geld für die Teilnehmer – ich bin schwer auf Spenden angewiesen. Das ist hart, aber das soll so bleiben. Also: Liebe Leser, ich brauche Spender!

Musik, Kunst, Kultur und Sport sollen kein gesellschaftliches Alter haben, genauso wenig wie die internationale Sprache.

In Großbritannien wurde Anfang des Jahres ein „Minister for loneliness“ geschaffen, um politisch anzuerkennen, dass Einsamkeit ein sehr großes gesellschaftliches Thema ist. Brauchen wir das in Deutschland auch? Und sind Menschen im fortgeschrittenen Alter eher einsam?

Einsamkeit ist ein wichtiges Thema in meinem Tätigkeitsfeld, ich möchte gegen Einsamkeit vorgehen, mein Slogan ist: Gemeinsam statt einsam! Ob man einen Minister braucht, ist eine sehr gute Frage, die ich noch nicht zu Ende gedacht habe. Die Idee, einen Minister zu haben, um Aufmerksamkeit für die Sache zu schaffen, gefällt mir sehr. Klar ist: Je älter die Menschen werden, desto mehr Freunde sterben, ziehen weg oder werden zum Pflegefall. Ich habe viele Eltern von Freunden, die in Hamburg wohnen, aber ihre Kinder ziehen aufs Land wegen der teuren Mieten oder gehen für Jobs ins Ausland. Die schicken dann ihre Eltern zu mir. Die Mutter einer Freundin von mir kommt jetzt immer zu meinen Veranstaltungen, fühlt sich pudelwohl und hat neue Freunde gefunden. Es gibt Stammgäste, die auf meinen Veranstaltungen ein neues Netzwerk an Freunden gefunden haben. Die sich auch unabhängig von Oll Inklusiv und „Halbpension“ selbstständig verabreden und irgendwo hingehen. Das ist ganz entzückend.

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Mitra zeigt mir ein Video von den ersten „Halbpension“-Events – bei den Gästen kam eine richtig gute Stimmung auf!

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Wie hast du die Leute anfänglich auf deine Veranstaltungen und dein Angebot aufmerksam gemacht? Wie erreichst du sie?

Das war eine schwere Aufgabe. Facebook ist eine Möglichkeit, da diese Zielgruppe dort tatsächlich auch unterwegs ist. Ich habe ein ehrenamtliches Netzwerk und ein Seniorennetzwerk, in dem ich mich gut bewege. Wir veranstalten zusammen mit Dagmar Hirche von Wege aus der Einsamkeit den jährlichen Weltseniorentag in Hamburg. Wir unterstützen uns gegenseitig mit unseren Newslettern oder in unseren Netzwerken. Mein Newsletter-Verteiler ist mittlerweile schon dreistellig hoch. Das hat sich schnell ergeben. Ich hatte auch Artikel in der „Brigitte“ und in regionalen Zeitschriften im Umland wie in Bremen und Lübeck. Ich bin auf Leute wie euch angewiesen. Aber für euch ist es ja auch super wichtig, wir wollen uns doch in 20 Jahren im Club sehen! (lacht) … Mund-zu-Mund-Propaganda ist für uns natürlich auch Gold wert. Viele bringen ihre Freunde mit und so wächst das Netzwerk mit jeder Veranstaltung. 

Sind die Veranstaltungen immer für Menschen im Alter von 60+ oder dürfen auch jüngere kommen?

Die Jüngeren dürfen gerne kommen, aber die werden gleich von mir eingespannt. Ich backe vor den Veranstaltungen immer Kuchen und viele Helfer bringen welchen mit; jeder, der U60 ist, bekommt von mir eine Aufgabe wie Kuchen zu verteilen oder sich mit den Leuten zu unterhalten.

Die Veranstaltungen sind immer in drei Teile aufgeteilt: Die Leute kommen an, wir begrüßen sie und setzen sie zusammen und gucken, was passt. Wer alleine kommt, braucht keine Angst zu haben, ganz wichtig! Die Tische werden mit Tischdecken gedeckt, sodass es ein bisschen Omi-Touch kriegt, aber niedlich. Dann gibt es Kuchen und bis dato hatten wir immer Lesungen. Nächstes Mal gehen wir übrigens ins „kukuun“, auf dem Kiez. Da spielen dann Franz Albers und Käpt’n Kruse.

Also bei der „Halbpension“ gibt es immer eine bunte Tüte, einen gemischten Abend?

Genau, immer Abwechslung. Ich gehe immer von mir aus: Würde ich da hingehen? Nach der Lesung spielen wir dann Musik-Bingo: Ich bereite Bingo-Blätter vor und die Gäste müssen Songs erraten. Ich spiele alles von „YMCA“ über „Türlich türlich“ bis zu „Ein Schiff wird kommen“. Das ist ein Icebreaker, die Leute kennen nicht alle Songs, müssen sich gegenseitig helfen, es wird mitgesungen, mitgelacht, gekreischt, geschrien und geschunkelt. Wer ein Bingo hat, bekommt einen Eierlikör. Das ist aber auch kein typischer, sondern der kommt von Kollegen von mir aus Chemnitz, die heißen Eierlikörz. Danach haben alle gute Laune und es wird getanzt.

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Ich möchte die Gesellschaft zu etwas Besserem machen und ich glaube, es gelingt mir – meine Gäste vernetzen sich untereinander und planen Unternehmungen ohne mich.

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Wie lange gehen die Veranstaltungen?

Von 12 bis 16 Uhr. Zum Abendbrot und der Tagesschau muss man ja wieder zu Hause sein. (lacht)

Und wo liegt das Durchschnittsalter? 60+ umfasst ja eine große Spanne …

Es sind auch viele rund 80-Jährige dabei. Ich schätze das Durchschnittsalter aber auf 72. Wenn sie dann tanzen und es mit der Hüfte haben, so süß … Hauptsache, die Füße bewegen sich ein bisschen. Lothar, ein Stammgast, ist 90!

Wie machst du das alles neben deiner Hauptarbeit? Das ist ganz schön viel!

Das ist sehr viel, aber wenn ich etwas anfange, mache ich es auch zu Ende. Eine gemeinnützige Sache nimmt viel Zeit in Anspruch, und man muss im Vorfeld Investitionen machen, weil man das Geld noch nicht hat. Aber ich wusste, auf was ich mich einlasse, und ich mache es für die Gesellschaft, nicht für mich. Die Profilneurosen-Bestätigung habe ich nicht nötig. Ich bin auch kein hilfesuchender Helfer, ganz wichtig bei ehrenamtlichen Geschichten. Ich möchte die Gesellschaft zu etwas Besserem machen und ich glaube, es gelingt mir – meine Gäste vernetzen sich untereinander und planen Unternehmungen ohne mich. So soll es doch sein!

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Wie kann man euch denn unterstützen, finanziell oder auch tatkräftig?

Mit allem. Es gibt verschiedene Ebenen, auf denen man sich bei mir involvieren kann. Wer gerne ehrenamtlich helfen möchte, meldet sich bei neuigkeiten@oll-inklusiv.de, das kann man auch alles auf der Website nachsehen. Am wichtigsten ist mir, dass Leute zu den Veranstaltungen kommen, also schickt eure Muttis und Vatis zu uns! Engagieren vor Ort immer gerne, oder wenn man eine Idee hat, zum Beispiel: „Ich kenne jemanden, der eine Kneipe hat, wollen wir da nicht mal zusammen hingehen?“ Gerne melden, egal was! Ich versuche wirklich, in unsere Clubs zu gehen, die stehen tagsüber ja leer. Sachspenden sind auch immer willkommen. Wir sind offen für alles, wir sind so jung, so frisch und in den Anfängen, man kann sich gerne mit mir in Verbindung setzen und wir basteln dann zusammen.

Vielen Dank für das interessante Interview, Mitra!

 

Hier findet ihr Oll Inklusiv:

   

Hier könnt ihr Oll Inklusiv mit einer Spende unterstützen!

 

Fotos: Sarah Buth

Layout: Carolina Moscato

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