Vor fünf Jahren wächst Sebastian Hüers Leidenschaft für Pflanzen. Er findet eine Anleitung für Betontöpfe bei Pinterest und kurz danach entsteht seine Topfmanufaktur und Online-Gärtnerei „Kleine Wildnis“. Hauptberuflich ist der 39-Jährige Lehrer. Der gebürtige Emsländer hat Sonderpädagogik und Biologie studiert und arbeitet seit neun Jahren in einer Schule für hörgeschädigte Kinder. Wir besuchen ihn in seiner 50 qm Wohnung mit Garten, wo er mit seiner Frau und Tochter lebt, und sprechen mit dem Wahlhamburger darüber, wie er seinen Hauptberuf mit seinem Micro Business verbindet, über Trockenblumen bei Instagram, Inklusion im Klassenzimmer und wie er es schafft, seinen ursprünglichen Berufswunsch „Regisseur“ auch noch in seine Arbeitswelt zu integrieren.
Sebastian Hüer: Damals bin ich nach einer Trennung in eine neue Wohnung gezogen, die sehr hell war und ich bekam Bock auf Pflanzen. Bei Pinterest hatte ich eine Anleitung für Betontöpfe gefunden und habe es einfach ausprobiert.
Ich habe mit Design und Farbe gespielt und Kakteen und Sukkulenten reingesetzt, das sah noch cooler aus. (lacht) Mein Umfeld wollte welche haben und dann wollte ich ausprobieren, ob man die verkaufen kann, und habe mich bei gutem Wetter auf den Schanzenflohmarkt gestellt. Das lief gut, also habe ich angefangen, auf Designmärkten zu verkaufen. Damals wusste ich gar nicht, dass es sowas gibt. Allmählich habe ich die Produktion erhöht, und geguckt, wo ich vernünftige Pflanzen herbekomme. Eines Tages hattest du mich auf dem Flohmarkt entdeckt und mich eingeladen, bei deinem Pop-up-Store mitzumachen – ab da ist mein Business immer mehr gewachsen.
Bei einem Markt habe ich 100 Töpfe verkauft. Das war für mich der Anlass, noch mehr Zeit in mein Label zu investieren und das Ganze zu professionalisieren.
Ich hatte eine Homepage gebastelt mit Jimdoo für 10 Euro. (lacht) Kein Vergleich zu jetzt, aber ich hatte gute Fotos, die ich mit meinen geringen Photoshop Skills bearbeitet habe. Damals kam eine Bestellung pro Monat rein, parallel war ich bei Designmärkten vertreten. Ich musste erstmal lernen, welche gut für mich laufen und welche nicht. Ich stand schon bei Regen in der Hafencity und habe nichts bekommen außer einer Erkältung, aber es gab auch Märkte, nach denen ich ausverkauft war. Bei einem Markt habe ich 100 Töpfe verkauft. Das war für mich der Anlass, noch mehr Zeit in mein Label zu investieren und das Ganze zu professionalisieren.
Die „Kleine Wildnis“ besteht jetzt aus vier Leuten, und das sind alles Familienmitglieder. Mittlerweile macht mein Vater, er ist Rentner, die Betontöpfe zu Hause in seiner Garage. Meine Frau ist Fotografin und macht die Fotos. Auf ihre Initiative hin habe ich dieses Jahr mit dem Verkauf von bunten Trockenblumen angefangen. Sie hat das Konzept für die Sträuße entwickelt. Und ihr Bruder macht die Videos. Ich kümmere mich um den Vertrieb, übernehme den Kundenkontakt und verschicke die Produkte.
Zusätzlich zu 100% Lehrer Sein und der „Kleinen Wildnis“ bin ich seit einem Jahr Vater, das ist auch ein Vollzeitjob. Es nimmt viel Zeit in Anspruch, sein Kind glücklich zu machen.
Man sieht sie jetzt überall. Eigentlich waren die Trockenblumensträuße nur als Muttertagsaktion gedacht. Wir hatten aber allein hier in Hamburg 80 Sträuße verkauft. Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl, wir sollten wohl unser Sortiment erweitern. Dann haben wir recherchiert, wo man nicht-chemisch-stinkende Blumen herbekommen kann – da muss man auch erstmal Erfahrungen sammeln.
Es läuft fast ausschließlich über Instagram. Einfach aus Zeitgründen. Während einer normalen Schulwoche ist nicht viel Zeit. Ich denke nicht weiter darüber nach, wie ich mein Standing verbessere und meine Reichweite erhöhe. Instagram funktioniert, wenn man seine Zielgruppe hat. Ich würde mir wünschen, dass es weiter wächst, gerade was „Instagram Shopping“ betrifft, das steht auf meiner To-Do-Liste. Zusätzlich zu 100% Lehrer Sein und der „Kleinen Wildnis“ bin ich seit einem Jahr Vater, das ist auch ein Vollzeitjob. Es nimmt viel Zeit in Anspruch, sein Kind glücklich zu machen.
Ich bin mit vollem Herzen Lehrer. Die „Kleine Wildnis“ ist meine Leidenschaft.
Für das Schuljahr 2017/2018 habe ich mit der Schulleitung besprochen, wie viel ich reduzieren muss, um einen Tag in der Woche frei zu haben, um die „Kleine Wildnis“ weiter aufzubauen. Im Moment habe ich einen Tag schulfrei pro Woche. Den verbringe ich in meiner kleinen Werkstatt in Ottensen. Es gab auch Monate, in denen ich nichts gemacht habe, weil ich als Lehrer voll eingespannt war. Trotzdem wird die „Kleine Wildnis“ mit jedem Jahr größer. Mittlerweile verkaufe ich auch Produkte von zwei Keramikerinnen, die Produkte für mich entwerfen.
Ja, das ist eine angemeldete Nebentätigkeit, das muss die Schule beziehungsweise die Behörde genehmigen. Mehr als zwanzig Stunden die Woche darf es nicht sein.
Ich bin mit vollem Herzen Lehrer. Die „Kleine Wildnis“ ist meine Leidenschaft, finanziell müsste ich es gar nicht machen. Als Beamter ist ja alles in Ordnung. Ich wurde damals sogar gefragt, ob ich als Lehrer aufhören möchte – niemals! Ich mache das viel zu gerne und es hat viel zu viele Vorteile. Ich bin zufrieden wie es jetzt läuft. Ich muss nicht auf Konkurrenz reagieren oder es pushen, es läuft natürlich weiter, ohne dass es mich überfordert. Meine Gedanken drehen sich nicht darum, was ich tun kann, damit es noch größer wird. Eher was kann ich tun, damit es weiter gut funktioniert und Spaß macht. Jemand mit mehr Businessschläue würde das wahrscheinlich richtig groß aufbauen …
Ich bin echt zufrieden. Jedes Jahr kommt etwas Neues hinzu, ich verdiene jedes Jahr ein bisschen mehr Geld damit, das ist cool so.
Ja, als ich auf diesem Markt in der Hafencity stand. (lacht) Ich stand dort acht Stunden, habe nichts verkauft und ein paar Hundert Euro investiert. Das war ein Moment, wo ich mich gefragt habe: Musst du das jetzt machen?
Ich bin kein guter Instagrammer, was die Regelmäßigkeit angeht, ich habe auch schon ein paar Monate am Stück nichts gemacht außer das, was reinkommt, zu bearbeiten. Gerade zu Zeugniszeiten habe ich keine Zeit dafür, und durch die Geburt meiner Tochter sogar noch weniger. Ich nutze oft die beiden Schlafphasen meiner Tochter und abends, wobei ich im Moment nicht mehr besonders produktiv bin.
Ich bin Klassenlehrer einer Projektklasse, Inklusion umgedreht sozusagen. In meiner Klasse werden zur Hälfte auch nicht hörgeschädigte Kinder mitbeschult. So funktioniert Inklusion ganz gut. An anderen Schulen sind in den Inklusionsklassen nur ein paar Kinder mit Bedarf, die gehen unter.
Wenn in der Klasse nummerisches Gleichgewicht herrscht, ist das für beide Seiten gewinnbringend. Die nicht hörgeschädigten Kinder lernen Rücksicht zu nehmen und sich anzupassen. Gleichzeitig werden die Schüler*innen mit Behinderung nicht als schwächer wahrgenommen. Vor dem Projekt hatten wir uns Gedanken gemacht, ob die Schüler*innen ohne Behinderung das komisch finden würden, sich anpassen zu müssen und immer mit der Behinderung umzugehen. Das war aber nicht der Fall. Nach ein paar Wochen war das kein Thema mehr. Es ist den Kindern und Jugendlichen viel wichtiger, ob du lustig oder ein guter Arbeitspartner bist.
Wenn du allein im Klassenraum bist, ist das wie im Tonstudio und du hörst das Blut in deinen Ohren rauschen.
Gesellschaftliche Themen wie Rassismus, Homophobie, Transphobie usw., die in den Medien stattfinden, finden auch jeden Tag bei mir im Klassenzimmer statt.
Man braucht eine besondere Ausstattung: Wir haben Teppichboden, damit die Akustik gut ist, und Akustikpaneele an der Wand. Wenn du allein im Klassenraum bist, ist das wie im Tonstudio und du hörst das Blut in deinen Ohren rauschen. Es ist super ruhig. Und wir nutzen ein Smart Board. Alles, was du im Unterricht anbietest, sollte idealerweise visualisiert sein, damit die Kinder mit Einschränkung mitschauen und mitlesen können. Unterstützend setze ich für einige Schüler*innen Gebärdensprache ein, was auch die hörenden Kinder super aufnehmen und sehr fleißig lernen. Außerdem ist die Gruppe sehr klein, ich habe 16 Schüler*innen in meiner Klasse. Die Hauptfächer unterrichten meine Kollegin und ich immer zu zweit. Das mag ich total gerne. Einer macht vorne den Unterricht, und der andere achtet darauf, dass alle mitkommen. Man ist sofort da, wenn jemand Unterstützung braucht. Es ist übrigens schön, dass du auch nach dem Dasein als Lehrer fragst, das ist in den Medien ja leider wenig präsent.
Weil es vielleicht bieder ist? Keine Ahnung, es ist ein fantastischer Beruf! Gesellschaftliche Themen wie Rassismus, Homophobie, Transphobie usw., die in den Medien stattfinden, finden auch jeden Tag bei mir im Klassenzimmer statt. Damit muss ich umgehen können und jeden Tag Vorbild für 16 Kinder sein. Wir müssen bei Fragen aufklären und solche Themen besprechen, das ist ein unglaublich wichtiger Job!
Ich bin ein Lehrer, der viel Persönlichkeit in den Unterricht mitbringt, ich versuche so authentisch wie möglich zu sein.
Absolut, und solche Themen kommen auch. Dann hat zum Beispiel die Schülerin plötzlich einen männlichen Namen und dann gehst du damit um und fängst Schüler*innen, die das nicht verstehen oder ein Problem damit haben, auf. Das ist enorm wichtig. Das Wort „schwul“ wird zum Beispiel oft als Schimpfwort benutzt, dann ist bei mir sofort Stopp im Unterricht. Das kann ich überhaupt nicht ab und werde sogar richtig sauer. Man sollte dann nicht strafen, das bringt nichts, sondern in einem Gespräch auffangen und als gutes Vorbild funktionieren. Ich bin ein Lehrer, der viel Persönlichkeit in den Unterricht mitbringt, ich versuche so authentisch wie möglich zu sein und spreche solche Themen schonungslos an. Ich frage die Person, die das Wort benutzt, wo das herkommt und erkläre, dass das Menschen und auch Mitschüler*innen verletzt.
Mit jungen Kolleg*innen auf jeden Fall. Es ist ein Unterschied, ob jemand kurz vor der Rente steht, das ist eine ganz andere Pädagogik und Lebensnähe. Von den Ü50-Kolleg*innen wird das Interview hier wahrscheinlich keiner lesen, von den jüngeren bestimmt viele. Das ist ein ganz anderer Austausch. Wir sind so nah am Zeitgeschehen wie in kaum einem anderen Beruf. Ich habe auch Kolleg*innen, die zum Beispiel Sexualkunde eher ungern unterrichten. Das ist schade für die Schüler*innen, weil es bei diesen Themen immer die meisten Fragen gibt.
Im Rahmen des Biounterrichts mache ich am Ende immer eine Fragerunde, da dürfen die Schüler*innen alles fragen, was sie wollen. Dann siehst du schnell, was ihnen auf der Seele brennt. Letztens wurde ich zum Beispiel gefragt, warum es Vergewaltigungen gibt. Das musst du auch auffangen und darüber reden. Du bist derjenige, der das altersgerecht erklären muss, was eine große Verantwortung ist.
Mittlerweile fordern sie das sogar ein, und dann kommen auch mal bedeutsame Fragen wie: „Wieso gibt es Behinderungen?“ oder „Wieso bin ich schwerhörig?“ Das ist sehr schwer.
Meine Vision ist gesund zu bleiben und so weiterzumachen wie jetzt. Ich brauche nicht mehr Geltung oder so.
Jein, ich bin ja happy mit dem was ich habe. Das tolle am Lehrerdasein ist, dass es so familienfreundlich ist. Wir waren gerade sechs Wochen unterwegs, hatten Zeit für uns und unsere Projekte. Schulleiter möchte ich nicht werden. Ich bin viel zu gerne in der Klasse, das würde ich dann weniger sein und müsste mehr Organisation im Büro machen. Es macht mir viel zu viel Spaß zu unterrichten und die Kinder jeden Tag zu sehen. Meine Vision ist gesund zu bleiben und so weiterzumachen wie jetzt. Ich brauche nicht mehr Geltung oder so.
Pass auf: Ich leite einen Filmkurs an der Schule, da lebe ich meinen Regie-Berufswunsch aus. (lacht) Das macht total Spaß. Es ist ein gemischter Haufen 17-Jähriger, der bald Abschluss macht. Wir überlegen uns eine Geschichte mit Themen, die sie interessieren, schreiben ein Drehbuch und filmen es. Wir schneiden es zusammen und zeigen den fertigen Film dann in der Aula der Schule, es ist beziehungsweise war immer voll und die Schauspieler*innen fühlen sich so großartig. Das reicht mir.