Vom Leben im Co-Living Space – wie Anne Kuppens ihr Traumzuhause geschaffen hat und es mit digitalen Nomad*innen aus der ganzen Welt teilt

Ein Jahr um die Welt, leben auf vier Kontinenten und in zwölf Städten, gemeinsam mit 55 anderen Menschen. Was für manche wie eine harte Herausforderung klingt, war für Anne Kuppens (33) der Anfang einer ganz besonderen Zeit. Bevor Sie in dieses etwas andere Abenteuer gestartet ist, verbrachte die gebürtige Holländerin ihre Zwanziger stets zwischen der nächsten Reise und zahlreichen Jobs, die ihre Reisekasse dafür füllten. Doch nach einem Jahr inmitten von Gleichgesinnten und der besonderen Vereinbarkeit von Abenteuer, Alltag und ortsunabhängigem Arbeiten war das Altbekannte keine Option mehr. Zurück in ihrer Heimat und mit neu gewonnenen Erfahrungen im Gepäck, schmiedete sie ihren Plan für die Zukunft. Sie wollte einen Ort kreieren, an dem digitale Nomad*innen ein Zuhause auf Zeit finden können und der eine Basis für sie selbst sein kann. Gesagt, getan. In 2018 eröffnete Anne das damals erste Co-Living und Co-Working auf Teneriffa: „Nine Coliving.“ femtastics-Autorin Hella Heiderich, die ebenfalls remote arbeitet, war für uns vor Ort und spricht mit Anne über das Besondere am Co-Living, den Alltag inmitten einer Community und ihre Vision für die Zukunft des Zusammenlebens.

femtastics: Anne, du bist stolze Besitzerin des ersten Co-Livings auf Teneriffa. Warum ausgerechnet die Kanaren?

Anne Kuppens: Das war eher Zufall. Ich wusste, dass ich meine Idee in Europa umsetzen möchte. In einem Land, in dem die Sonne definitiv mehr scheint als in meiner alten Heimat Holland. Da ich fließend Spanisch spreche, fiel die Wahl schnell auf Spanien und nach einiger Recherche dann auf die Kanaren. Sonne das ganze Jahr und die zahlreichen Outdoor-Möglichkeiten sind einfach ein tolles Argument. Gran Canaria war damals der Hotspot des Remote Workings, mit zahlreichen Co-Livings und einer großen Community. Auf Teneriffa gab es allerdings noch gar nichts, daher hielt ich es für eine gute Idee, mein Projekt hier anzusiedeln.

Als ich zum ersten Mal vor Ort war, um mir die lokale Situation anzuschauen, habe ich mich direkt in den grünen Norden der Insel und insbesondere in das Tal rund um La Orotava verliebt. Zum Glück habe ich genau hier eine tolle Immobilie gefunden, die für ein Co-Living einfach perfekt ist. Das war fast schon Schicksal.

Auf was hast du bei der Auswahl der Location besonders geachtet?

Ich habe mich bewusst gefragt: Wie will ich eigentlich leben? Wie soll mein Zuhause für die kommenden Jahre aussehen, das ich dann für digitale Nomad*innen aus der ganzen Welt öffne? Dabei waren mir viele Outdoorflächen wichtig, generell ausreichend Platz natürlich und auch genügend Bereiche für das gemeinsame Leben. Dazu kam eine zentrale Lage, sodass man auch mal schnell in der Mittagspause was essen gehen kann oder zu Fuß den nächsten Supermarkt erreicht. Es gibt bestimmt andere Konzepte, auf einer einsam gelegenen Finca zum Beispiel, aber das hat sich für mich nicht passend angefühlt. 

Anne Kuppens hat vor drei Jahren das „Nine Coliving“ auf Teneriffa gegründet.

Trotz allem sind wir erwachsene Menschen, die arbeiten müssen, auch mal Zeit für sich brauchen oder einfach die zahlreichen Möglichkeiten der Insel nutzen möchten.

Wie können wir uns einen typischen Tag im „Nine“ vorstellen? Macht die Community immer alles zusammen?

Nein, gar nicht. Natürlich steht das Community Living im Vordergrund, das ist mir besonders wichtig und ich denke, das ist auch das Besondere am „Nine“. Die Leute sollen sich hier zu Hause fühlen und gemeinsam die Community, in der sie leben, gestalten. Trotz allem sind wir aber natürlich erwachsene Menschen, die arbeiten müssen, auch mal Zeit für sich brauchen oder einfach die zahlreichen Möglichkeiten der Insel nutzen möchten. Das alles ist möglich. Wir bieten morgens täglich Frühstück an. Danach wird meistens in unseren zwei komplett ausgestatteten Coworking Spaces gearbeitet. Hier gibt es professionelle Arbeitsplätze, stabiles Internet, zwei schalldichte Call-Boxen und alles, was man zum konzentrierten Arbeiten benötigt. Man kann täglich an Yoga Classes teilnehmen, zusätzlich veranstalten wir jeden Sonntag ein Barbecue und einmal in der Woche ein Family Dinner, welches meisten von den Co-Livern ausgerichtet wird. Zusätzlich kann Lunch gebucht werden. Aber selbst kochen ist natürlich auch möglich, wir haben eine große Gemeinschaftsküche. Dazwischen entstehen oftmals spontan Ausflüge in die Berge, ans Meer oder eben in die nächste Bar. Alles kann, nichts muss.

Viele kommen für ein bis zwei Monate vorbei und kehren sporadisch zurück, andere bleiben über ein Jahr.

Und das organisierst du alles allein?

Neben mir gibt es drei weitere Hosts im „Nine“. Zwei davon leben im Haus, eine ist gleichzeitig unsere inhouse Yogalehrerin und alle drei unterstützen mich im Schichtsystem die gesamte Woche, um für alle Co-Liver da sein zu können. Momentan leben dreizehn Co-Liver bei uns – Platz ist generell für xx Co-Liver –, da kommen öfter mal Fragen auf und der Alltag muss organisiert werden. Das ist allein nicht zu stemmen. Zusätzlich haben wir eine Putzfrau in Teilzeit und einen tollen Koch, der für Frühstück und Lunch zuständig ist.

Wer lebt denn so auf Zeit bei dir? Gibt es ein bestimmtes Muster? Und wie lange bleiben die Co-Liver im Durchschnitt?

Alles bunt gemischt, was ich unfassbar schön finde. Mir ist ganz wichtig, dass im „Nine“ jeder willkommen ist und einfach er/sie selbst sein kann. Der älteste Co-Liver war über 80 Jahre alt und kommt in diesem Jahr zu Weihnachten wieder. Dazwischen sind alle Altersstrukturen vertreten und beruflich vom Künstler bis zur Projektmanagerin alles dabei. Der Begriff digitale*r Nomad*in ist bei uns breit gefächert, was toll ist. Ebenso die Dauer des Aufenthalts: viele kommen für ein bis zwei Monate vorbei und kehren sporadisch zurück, andere bleiben über ein Jahr.

Im „Nine“ ist man von Gleichgesinnten umgeben und kann sich deshalb sehr viel schneller tiefer kennenlernen, nicht nur auf romantischer Ebene.

Gibt es bei der bunten Mischung aus Menschen, Altersgruppen und Berufen auch mal Reibereien? Und falls ja, wie gehst du damit um?

Um ehrlich zu sein, gab es noch nie wirklich ernsthafte Probleme. Natürlich passt der oder die eine besser in die Community als der oder die andere, aber da jede*r soviel am Community-Leben teilnehmen kann wie er/sie mag, regelt sich das meist von selbst. Ich habe einfach wirklich sehr viel Glück mit meinen Co-Livern, was aber bestimmt auch der klaren Sprache unserer Homepage und Social-Media-Kanäle geschuldet ist. Die Leute wissen, warum sie gerade dieses Co-Living auswählen. „Nine“ ist eine Community, die gemeinsam Spaß hat, aber keine Party-WG ist. Wir leben und arbeiten miteinander, dafür muss Verständnis und Respekt gegeben sein und das klappt bisher ganz prima. Und ansonsten kann man ja immer miteinander sprechen.

Mit welchen Kosten sollte man rechnen, wenn man sich zum Beispiel einen Monat lang im „Nine“ einmietet?

Etwa zwischen 780 Euro und 1.200 Euro monatlich – das kommt auf den Raum an, den man bucht.

Bei Community Living denkt man schnell an die Siebzigerjahre, freie Liebe und Co. Ist das bei euch ein Thema?

Es gibt auf jeden Fall schon einige „Nine“-Pärchen, die sich hier kennengelernt haben. Ein echtes „Nine“-Baby fehlt allerdings noch. (lacht) Aber klar, wenn viele Erwachsene in einem Haus leben, dann entstehen auch besondere Beziehungen und manchmal wird daraus Liebe. Was wir sehr begrüßen. Bei uns gibt es keine Regeln à la „Angestellte*r und Co-Liver, das geht auf keinen Fall“ oder „Kein Gast von außerhalb“. Die Menschen leben schließlich im „Nine“. Und zum Leben gehört im allerbesten Fall eben auch die Liebe. Das heißt aber nicht, dass sich hier nur Singles einbuchen, im Gegenteil. Ich denke, dass man im „Nine“ von Gleichgesinnten umgeben ist und sich deshalb sehr viel schneller tiefer kennenlernen kann, nicht nur auf romantischer Ebene. Was an sich ja schon sehr schön ist.

Ich weiß gar nicht, wie oft ich mir schon selbst anhören musste, ob ich nicht bald mal sesshaft werden möchte und dass man so ja kein richtiges Leben führen kann.

Besondere Beziehungen formen oft tolle Erinnerungen. Hast du einen Lieblingsmoment, der dir im Gedächtnis geblieben ist?

Jeder Tag hat tolle Momente, aber der Lockdown im letzten Jahr wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. In Spanien gab es einen kompletten Lockdown, während dem man das Haus nur für Einkäufe verlassen durfte. Als die Meldung verkündet wurde, waren wir gerade zu fünfzehnt im Haus. Wir haben ein Krisengespräch einberufen und jede*r durfte entscheiden, ob er bleiben möchte oder lieber abreist. Zwei Co-Liver haben es vorgezogen nach Hause zu fliegen. Also waren wir am Ende mit dreizehn Personen im Haus. Anfangs waren zwei Wochen Lockdown angekündigt, nach zahlreichen Verlängerungen waren es zum Schluss zwölf Wochen. Und was soll ich sagen, am Ende waren wir wie eine Familie. Wir haben zusammen gearbeitet, gekocht, gelacht, getanzt und sind auch ab und an mal gemeinsam verzweifelt. Das war ein sehr intensives Erlebnis. Ich war aber noch nie so froh einen Hund zu besitzen und in einem großen Hause mit viel Außenfläche zu leben. (lacht)

Communities lebten in der Vergangenheit oftmals abseits der gesellschaftlichen Norm. Trifft das auch auf das heutige Konzept des Co-Livings zu?

Wir leben vor Ort auf jeden Fall in einer Bubble. Aber trotzdem suchen viele Co-Liver den Kontakt nach außen, sei es durch Fitnessstudios, Sprachkurse oder eben Tinder. Je nachdem, wie lange sie vor Ort sind. Natürlich ist das Lebenskonzept an sich nicht überall akzeptiert. Ich weiß gar nicht, wie oft ich mir schon selbst anhören musste, ob ich nicht bald mal sesshaft werden möchte und dass man so ja kein richtiges Leben führen kann. Das kommt bestimmt vielen bekannt vor, nicht nur in Bezug auf das Remote-Leben. Man wird immer als ein wenig anders betrachtet. Aber gerade die vergangenen beiden Jahre und die Pandemie bedeuten einen wichtigen Schritt in Richtung Normalisierung des Konzepts. Viele Menschen konnten zum ersten Mal remote arbeiten und selbst erleben, dass dies nicht mit Urlaub gleichzusetzen ist und durchaus funktionieren kann. Natürlich unter absoluten Extrembedingungen, während der Pandemie. Aber dabei ist vielleicht trotzdem eine gewisse Annäherung an den Remote-Lifestyle entstanden, ich würde es mir sehr wünschen.

Es gibt viele unterschiedliche Wege remote zu leben und zu arbeiten, da ist für jede*n etwas dabei.

Was würdest du Menschen raten, die unbedingt in den Remote Lifestyle starten möchten, aber vielleicht noch zögern?

Trau dich und probiere es aus. Es muss ja nicht gleich für immer sein. Es gibt viele unterschiedliche Wege remote zu leben und zu arbeiten, da ist für jede*n etwas dabei. Der/die eine bevorzugt eine Wohnung für sich allein, der/die andere sucht sich bewusst das Leben mit anderen aus. Wenn man am Anfang etwas überfordert mit all der Organisation ist, würde ich aber immer ein Co-Living empfehlen. Dort warten in der Regel stabiles Internet für den Job und eine tolle Community, die den Start ins neue Leben auf jeden Fall vereinfachen kann. Das kann den Schritt aus den gewohnten Strukturen sehr erleichtern. Und immer daran denken: Hier bist du nicht die/der eine, die/der anders ist. Sondern eine*r von vielen, inmitten Gleichgesinnter.

Ich denke, dass das Konzept des Co-Livings sich zukünftig noch mehr ausweiten und zum Beispiel auch Familien integrieren wird.

Bevor du „Nine Coliving“ eröffnet hast, bist du ein Jahr um die Welt gereist gemeinsam mit 55 anderen Menschen. Wie kam es eigentlich dazu?

Ich hatte auf Facebook eine Werbung für das Unternehmen „Remote Year“ entdeckt. Sie organisieren einjährige Reisen für Digitale Nomad*innen. Wir waren dann mit 55 Menschen ein Jahr in 12 verschiedenen Ländern und Städten auf der ganzen Welt unterwegs und haben von unterwegs aus gearbeitet. Das war eine spannende Zeit!

Wir haben viele Trends kommen und gehen sehen. Glaubst du, Co-Living ist gekommen, um zu bleiben?

Auf jeden Fall! Es konnten in den letzten beiden Jahren viel mehr Menschen als je zuvor erste Erfahrungen im remote Arbeiten sammeln. Und auch wenn es einige gibt, die lieber wieder zurück ins Büro möchten, wird es genauso viele geben, die diese Freiheit nicht mehr missen möchten. Der Arbeitsmarkt wird sich wandeln und flexibler werden müssen. Und das Thema ist nicht mehr wegzudenken. Damit wird es ganz bestimmt auch mehr Menschen geben, die ein Zuhause auf Zeit in der Ferne suchen. Das Konzept des Co-Livings wird sich zukünftig noch mehr ausweiten und zum Beispiel auch Familien integrieren. Ich bin auf jeden Fall gespannt, was da alles noch kommt!

Vielen Dank für das Interview, liebe Anne. Wir wünschen dir weiterhin viel Erfolg mit deinem Projekt!

Hier findet ihr „Nine Coliving“:


Fotos: Nine Coliving


Layout: Kaja Paradiek

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