Spätestens seit der Pandemie ist „draußen sein“ ein inflationäres Hobby geworden. Wo sich vorher nur eingeschworene Outdoor-Fans getroffen haben, wimmelt es nun von Interessierten, die die Vorteile von Outdoor-Aktivitäten für sich entdeckt haben. Außerhalb der Stadtgrenzen liegt eine Weite verborgen, die (nahezu) ohne Einschränkungen für alle zugänglich ist, nichts kostet und dazu einlädt, entdeckt zu werden.
Zugang ist allerdings immer eine Frage von Definition und Sichtbarkeit, denn wem genau begegnet man in der Outdoor-Szene wirklich? Und wie divers und inklusiv ist sie eigentlich? femtastics Autorin Fatima Njoya begibt sich selbst auf eine Hüttenwanderung mit der all-female „LaMunt“-Crew. Sie erörtert, warum wir Menschen und Initiativen brauchen, die das Outdoor-Narrativ neu besetzen und wie sich ihr Blick auf Aktivitäten im Grünen verändert hat.
Als ich vor dem Mitarbeiter in der Wanderschuhabteilung stehe, fühle ich mich lost: Ist es wirklich eine gute Idee, als absolut unerfahrene Hikerin, die eher als Naturphobikern bekannt ist, auf eine zweitägige Hüttenwanderung in Südtirol zu gehen? Spätestens jetzt ist klar: Ich komme da nicht mehr raus. Zu verlockend ist die Challenge, mich aus meiner eigenen Comfort Zone herauszubegeben. Dennoch bin ich skeptisch, denn wenig kann eine*n auf körperliche Erfahrungen vorbereiten, die man zuvor noch nie erlebt hat. Einen Tag später begebe ich mich also auf die Reise von Hamburg nach Südtirol. Hier habe ich die Möglichkeit, eine Gruppe an Outdoor-liebenden Frauen* zu begleiten.
Zu verlockend ist die Challenge, mich aus meiner eigenen Comfort Zone herauszubegeben.
Rund 30 bergaffine Frauen* unterschiedlichen Alters finden sich zusammen. Die gemeinsame Aktivität gibt ihnen die Möglichkeit, sich auszutauschen, Allianzen zu bilden und sich gegenseitig zu inspirieren. Eine schöne Idee, denn: Wie oft kommt man aus seiner bekannten Bubble raus und trifft Gleichgesinnte, die einem*einer ganz andere Perspektiven aufzeigen? Am und abseits vom Berg. Der Plan ist also: Ab nach Bozano und bei der Umrundung der Langkofelgruppe meinen eigenen Horizont erweitern. Plus: mich mit einer lang abgelehnten Aktivität neu auseinanderzusetzen. Ich bin unsicher, aber auch seltsam aufgeregt auf das bevorstehende Abenteuer.
Fashion Girls don‘t do Outdoor. Black People neither.
Ich gehe wandern, erzählte ich also allen. Die Reaktionen: Zwischen Unglauben und Belustigung. Ich sei „zu Großstadt“. Fashion Girls don‘t do Outdoor. Black People neither. Das ist eine Misskonzeption, die sinnbildlich dafür steht, dass bestimmte Räume, Dinge und Erlebnisse mit bestimmten Gruppen verbunden werden – und im Umkehrschluss andere Erfahrungen nicht sichtbar oder sogar unsichtbar gemacht werden.
Als ich selbst Outdoor-Themen recherchiere, fällt mir auf: Auf Websites und Social Media sehe ich ein nahezu generisches Publikum. Was mir fehlt, sind Gesichter wie das meine. Daher empfinde ich es als besonders spannend, dass nach der Pandemie immer mehr Kollektive international auftauchen, die die Outdoor-Erfahrung inklusiver gestalten. Die “Muslim-Hikers-Community“ hat zum Beispiel 2023 in Kooperation mit Sporthersteller*innen die erste Outdoor-Gebetsmatte herausgebracht.
Auch die 2021 gegründete gemeinnützige Organisation “Open Up The Outdoors“ (OUTO) setzt sich auf großer Ebene dafür ein, dass „jede*r, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Geschlecht, sexueller Identität oder körperlichen Fähigkeiten, willkommen geheißen und einbezogen wird, wenn er*sie nach draußen geht“.
Aber es geht auch näher: Der Black FLINTA*-Outdoor-Club “Black Canary“, eine 2022 von Film und Casting Directorin/ Host und Presenter Tsellot Melesse gegründete Community, baut Barrieren ab. Ihre Mission ist es, die Outdoor Community diverser zu gestalten. Sie soll zugänglich sein für marginalisierte Gruppen und Menschen, die durch ihr städtisches Leben nicht Teil des alltäglichen Natur-Kosmos sind. Nach Berlin hat der Club nun auch einen Ableger in München und veranstaltet Events und Outings in der Natur.
Auch in anderen Formaten beobachte ich einen Aufschwung von Initiativen und Projekten, mit dem Auftrag, Awareness zu schaffen und neuen Zielgruppen zu signalisieren: We are out and about – schon immer! Unter anderem beschäftigt sich auf „TikTok“ die Creatorin Cocoa Butter vom „Black Culture and Entertainment Channel“ in dem Format „Black People don’t do“ damit, Aktivitäten auszuprobieren, die laut allgemeiner Wahrnehmung nicht besonders für Repräsentation stehen. Eine Misskonzeption, mit der vor Ort sowie in einer retrospektiven Zeitreise aufgeräumt wird. Und das mit historischen Belegen: Wir waren auch hier!
Mein Bedürfnis, mich in die Natur zu stürzen, blieb weitestgehend unterschwellig.
Ich bin keine Person, die bei der Frage nach einer Outdoor-Aktivität mit extremem Enthusiasmus reagiert. Das liegt übrigens nicht daran, dass ich „zu großstädtisch“ bin, um mich aus der Betonwüste in die Natur zu begeben. Früher war ich (zum kollektiven Unglauben) ganz viel draußen. Doch im Laufe des Erwachsenwerdens habe ich das Interesse verloren. Ich habe mich diskussionsfrei aus den wanderlustigen Verpflichtungsprogrammen meiner Eltern ausgeklammert.
Meine Berührungspunkte mit der Natur beschränkten sich auf Park statt Berg, hier und da mal ergänzt durch einen aktiveren Ausflug mit meinen Großeltern in die Sächsische Schweiz. Mein Bedürfnis, mich in die Natur zu stürzen, blieb weitestgehend unterschwellig. Die vorher angesprochenen Reaktionen waren also wenig überraschend. Dennoch finde ich das oft mitschwingende „Von dir hätte ich das nicht gedacht“ (aka ich sei mir zu schade), fragwürdig. Spielen im Dreck, Ferienlager und Zelten gehörte zu meiner Kindheit dazu.
Man begibt sich ungern in Räume, in denen man sich unkomfortabel fühlt.
Es liegt nahe, dass man zwischen Großstadt und digitalem Ökosystem eine Art Disconnection mit der Natur entwickelt. Umgeben von Asphalt, Stahl und Beton, nur durch grüne Inseln unterbrochen, verliert man den Blick dafür. Und man begibt sich ungern in Räume, in denen man sich unkomfortabel fühlt. Für mich ist der Outdoor-Space so ein Ort: Ich sehe wenig Menschen, die so aussehen wie ich. Ich fühle mich lost, weil das Wissen und die Erfahrung fehlen. Hinzu kommen gar nicht mal so unbedenkliche Risiken, denn sich verlaufen oder verletzen geht schnell, wenn man nicht weiß, wo und wie man sich bewegen und in bestimmten Situationen verhalten soll. Wo lernt man sowas? Im besten Fall bekommt man es mitgegeben. Stichwort Zugangsmöglichkeiten.
Wie können die Barrieren aufgebrochen werden?
Eine Zugangsmöglichkeit gibt es seit 2024 direkt vor meiner Haustür. Im Juni gründeten Julia Schwarz und Djenna Wehenpohl “Black Hike Hamburg“. „Zusammen in die Natur zu gehen“ war immer eine gemeinsame Leidenschaft der beiden. Die Idee zu der Community kam ihnen, als sie sich für ein „Hiking Retreat für Schwarze Frauen* und nicht-binäre Personen in Portugal angemeldet“ haben, berichtet Julia: „Die Teilnahme war auf mehreren Ebenen eine schöne Erfahrung. Nicht nur der kleine Ort im Norden von Portugal, sowie das Wetter und die Natur waren super, sondern auch das Community-Erlebnis. Dadurch wurde eine tiefere Ebene von “abschalten und entspannen” ermöglicht. Das hat uns dazu inspiriert, einen ähnlichen Raum in Hamburg zu öffnen, in dem Schwarze Menschen gemeinsam die Natur genießen und gleichzeitig Orte erkunden können, an denen sie sich allein vielleicht auch nicht unbedingt sicher fühlen würden“.
Die Frage ist also, wie können die Barrieren aufgebrochen werden? Julia sagt: „In Deutschland werden Outdoor-Aktivitäten häufig nur mit weißen Menschen in Verbindung gebracht. Schwarze Menschen bzw. BIPoC im Allgemeinen werden stereotypisch eher im urbanen Raum verortet. Das merken wir auch teilweise an den Reaktionen auf unser Projekt. ‚Schwarze Menschen, die wandern? Das kann ich mir ja gar nicht vorstellen‘. Diese Reaktion kommt zum Teil auch von Schwarzen Menschen selbst. Die Erzählung, dass wir in der Natur nicht stattfinden, hat sich zum Teil schon in uns selbst eingeschrieben. Das ist natürlich Quatsch. Es gibt einfach Leute, die Bock haben zu wandern oder anderen Outdoor-Aktivitäten nachzugehen. Und andere halt nicht. Unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Positionierung und/oder Herkunft.“
Es hilft, „sich zusammenzuschließen“ und Angeboten zu schaffen. „Die Initiative Opening up the Outdoors fördert hierzu beispielsweise gerade in Kooperation mit Social Impact in der DACH-Region ein Changemakers-Programm, an dem wir mit ‚Black Hike Hamburg‘ teilnehmen. Je mehr solcher Projekte es gibt, desto mehr Sichtbarkeit von BIPoC im Outdoor-Space kann entstehen, was schlussendlich den Space automatisch zugänglicher und ‚safer‘ macht“, so Julia.
In diesem Zusammenhang lässt sich der sogenannte Nature Gap oder Adventure Gap anführen, den man besonders stark im US-amerikanischen Raum sieht. Er beschreibt die Ungleichheit beim Zugang zu Naturräumen und Freizeitaktivitäten im Freien, insbesondere in BIPOC-Gemeinschaften. Begründen lässt sich das unter anderem durch ein historisches Ungleichgewicht, Diskriminierung und sozioökonomische Dysbalance. Dies hat auch Einfluss auf die mentale Gesundheit.
Ähnliche Erfahrungen wie Julia und Djenna machten auch Jasmin und Bathy, Gründerinnen von “Black Girls* Hiking“, einer Black Flinta* Hiking-Gruppe in NRW. Seit 2022 wandert die Community in der Region und schafft gleichzeitig einen geschützten Raum, in dem positive Erfahrungen in der Natur gesammelt werden. Via Website und „WhatsApp“-Gruppe wird man über kommende Events auf dem Laufenden gehalten und kann kollektiv die heilende Kraft der Natur genießen.
„Mit unseren Wanderungen wollen wir einen Raum schaffen, in dem sich Schwarze FLINTA* willkommen fühlen und die Vorteile der Natur nutzen können. Wir möchten Vorurteile und Stereotypen abbauen und zeigen, dass Outdoor-Aktivitäten für alle da sind“, erzählen die Gründerinnen. „In Gesprächen mit Bekannten aus unserem Umfeld haben wir festgestellt, dass viele Schwarze Menschen diese Aktivitäten vor allem mit weißen Menschen verbinden und sich daher schwer damit identifizieren können. Oft fühlen sie sich in solchen Umgebungen nicht wirklich willkommen. Wenn man als Schwarze Person wandert, fällt auf, dass nur wenige andere Schwarze Menschen anzutreffen sind, wodurch diese Räume überwiegend weiß geprägt bleiben. Hinzu kommt, dass Outdoor-Aktivitäten oft kostspielig sind, was den Zugang für sozial benachteiligte Gruppen zusätzlich erschwert“, berichten sie weiter.
Ein weiterer wichtiger Punkt, der dafür sorgt, dass nur bestimmte Gruppen präsent sind und die Möglichkeiten der Teilhabe erschwert werden. Aus ihrer persönlichen Leidenschaft kreierten Bathy und Jasmin also einen einfach zugänglichen Berührungspunkt. Darüber hinaus geben sie Tipps auf ihrem Kanal, wie man sich am besten vorbereitet und draußen verhält. Ihr Wunsch: „Mehr Diversität. Die Natur gehört uns allen, und wir hoffen, dass sich in Zukunft Schwarze Menschen in grünen Räumen sicher und als Teil dieser Gemeinschaft wahrnehmen. Denn Zeit in der Natur zu verbringen, bedeutet für uns, einen Zufluchts- und Erholungsort zu finden, der uns eine Pause vom Alltag ermöglicht. Es ist ein wichtiger Bestandteil der Selbstfürsorge. Die beruhigende Umgebung hilft, Stress abzubauen und neue Energie zu tanken. Es hilft, unser Wohlbefinden und unsere körperliche sowie mentale Gesundheit zu fördern.“
Wie wohltuend dieser wirklich harte Cut mit dem eigenen, sonst sehr schellen Leben ist, erfahre ich am eigenen Leib. Am Ende bin ich wahnsinnig stolz, wie gut ich die körperliche Leistung gemeistert habe. Auch die Luft, die Aussicht, die Gesellschaft und der Support am Berg sind eine bereichernde Erfahrung. Die Schönheit und auch die einschüchternde Massivität der Natur zu erleben und das nicht alleine, sondern mit Menschen, die deine Wissenslücken füllen und dir Sicherheit auf und für den Weg geben, ist eine unfassbare Erfahrung. Als Teil einer Hiking-Community formst du eine große Familie – alle achten aufeinander und reichen sich die Hand, wenn jemand nicht nachkommt oder Support braucht.
In der unendlichen Weite bekommt man die Möglichkeit für eine völlig neue Art der Selbstreflexion.
Ich bin ehrlich: Ein mehrtägiges Wanderabenteuer stand definitiv nicht auf meiner Bucket-Liste für 2024, doch am Ende war es das Beste, was mir passieren konnte. In der unendlichen Weite bekommt man die Möglichkeit für eine völlig neue Art der Selbstreflexion, schaltet alles um sich aus und ab. Was zählt, ist der Moment, der nächste Schritt, die nächste Steigung. Nach zwei Tagen Auszeit nehme ich mit, wie wichtig es ist rauszukommen – aus dem Alltagstrott, aus dem Bekannten. Und: wie schön die geteilte Erfahrung ist!
Ich wünsche mir, dieses Gefühl mit den Menschen zu erleben, die mir nahestehen. Und ich wünsche mir mehr Repräsentation am Berg. Mehr Menschen, denen man nicht nur eingeschworen zunickt, weil sie die gleiche Leidenschaft teilen, sondern auch, weil man sich in ihnen wiedererkennt.
Fotos: Carolin Unrath