Die Berliner Autorin Sarah Diehl ermutigt uns zum alleine sein. In ihrem neuen Buch „Die Freiheit, allein zu sein – Eine Ermutigung“ stellt sie dabei die Komplexität und Allgegenwärtigkeit des Alleinseins heraus. Sie erklärt, dass Alleinsein sehr politisch ist und welch große Bedeutung Zeit alleine insbesondere für Frauen* hat. Sarah Diehl ist Autorin, Aktivistin und Filmemacherin. Sie lebt und arbeitet in Berlin, wenn sie nicht gerade auf ihrem Fahrrad alleine die Welt erkundet. Wir sprechen mit ihr über Missverständnisse des Alleinseins, die feministischen Aspekte und über die negativen Auswirkungen von Einsamkeit.
Eigene Freiräume zu nehmen hat für mich nichts mit Egoismus zu tun. Es ist ein Raum, in dem du selbst verstehst, wie wichtig und wertvoll deine eigenen Bedürfnisse sind.
Sarah Diehl: Ich glaube, dass sich die allgemeine Vorstellung konträr zum Konzept von Gemeinschaft verhält. Alleinsein und Gemeinschaft betrachte ich als symbiotisch, man muss beides gut dosieren. Außerdem würde ich keine klare Grenze zwischen Alleinsein und Einsamkeit ziehen. Denn aus Einsamkeit, die erst mal nicht selbstgewählt ist, kann viel Positives erwachsen. Ich weiß, dass es viele Leute gibt, die das Bedürfnis nach einer klaren Trennung haben – zwischen dem Krankmachenden und dem Selbstermächtigenden.
Idealisierungen der Gesellschaft wie unter anderem die der Mutterschaft oder Schwangerschaft können dazu führen, dass sich Frauen* sehr alleine fühlen, da eine abweichende Wahrnehmung in der öffentlichen Narration nicht stattfindet. Aus solchen Erfahrungen kann aber dennoch etwas Positives erwachen, denn eine Kritik oder Abgrenzung kann entstehen.
Eigene Freiräume zu nehmen hat für mich nichts mit Egoismus zu tun. Es ist ein Raum, in dem du selbst verstehst, wie wichtig und wertvoll deine eigenen Bedürfnisse sind. Dieses Bewusstsein und das, was du in deinem Freiraum lernst, kannst du produktiv in die Gemeinschaft zurückbringen. Außerdem bin ich überzeugt, dass man wohlwollender für die Bedürfnisse anderer ist, wenn man seine eigenen akzeptiert. Die Ehrlichkeit, die man sich selbst im Alleinsein gibt, schafft man dann auch anderen Leuten zu geben.
Sehr! Vieles davon habe ich im letzten Drittel meines Buches thematisiert. Viele Formen von Gemeinschaft lassen Frauen* vereinsamen. Die Familie als der Hort der Gemeinschaft hat Frauen* über die letzten Jahrhunderte extrem vereinsamt. Diese Mutter–Vater–Kind-Lebensgemeinschaften haben Frauen* aus dem öffentlichen Leben isoliert.
Heutzutage ist es nicht mehr so tragisch, aber Frauen* denken teils immer noch, dass sie sich komplett für ihre Kinder aufopfern und alles zurückstecken müssen, was auf ihre eigenen Bedürfnisse einzahlt. Außerdem beobachte ich eine Entsolidarisierung unter Müttern, da es um den Wettbewerb der besten Mutter geht. Dieser Perfektionismus macht Frauen mundtot, da sie nicht mehr über ihre Bedürfnisse sprechen können.
Im Alleinsein ergeben sich vielmehr Ressourcen und Kapazitäten, die Welt neu zu denken.
Das zeigt, dass Gemeinschaften dazu führen können, dass man sich einsam fühlt, weil man nicht äußern darf, wie es einem wirklich geht. In familiären Kontexten ist das ganz oft der Fall, aber genauso in anderen Formen der Gemeinschaft. Einsamkeit ist also vor allem dann feministisch, wenn Frauen* sich erstens emotional unabhängiger von der Gemeinschaft und von Männern machen und spüren, dass sie konsequent eigene Wege gehen können. Und zweitens, wenn Frauen* verstehen, dass sie nicht nur dann wertvoll sind, wenn sie sich um andere kümmern. Sie merken, sie haben einen Selbstwert, welcher nicht abhängig von anderen ist beziehungsweise von den Menschen, um die sie sich kümmern.
Im Alleinsein ergeben sich vielmehr Ressourcen und Kapazitäten, die Welt neu zu denken. Alleinsein ist darüberhinaus eine extrem körperliche Sache. Denn man muss bedenken, wie sehr das Körperempfinden von Frauen* geprägt davon ist für andere schön und attraktiv zu sein oder Scham und Unsicherheit zu spüren. Wenn wir uns davon lösen, bekommen wir automatisch ein ganz anderes Körpergefühl.
Kanada ist ein großes Vorbild mit dem Konzept des Social Guardian. Im Rahmen dessen können bis zu vier Personen Eltern für ein Kind sein. Alle Beteiligten haben hierbei die gleichen Rechte und Pflichten. Es zeigt, dass man auch hin zu einer Verantwortungsgemeinschaft denken kann. Ich glaube, solche neuen Modelle können loyaler und stabiler sein als das der herkömmlichen Kleinfamilie. Denn die Personen kommen aus freien Stücken zusammen, anders als wenn es biologisch einfach so passiert und freundschaftliche Beziehungen können auch stabiler sein als Liebesbeziehungen.
Wenn wir als Gesellschaft wirklich das Problem der Einsamkeit angehen wollen, müssen wir neue Konzepte der Gemeinschaft etablieren, in denen Menschen tatsächlich leben wollen und die Frauen* guttun. Es müssen Konzepte sein, die auch der finanziellen Benachteiligung entgegenwirken. Man verlässt sich einfach darauf, dass Frauen* für die sozialen Aufgaben der Gesellschaft da sind. Es bewegt sich diesbezüglich politisch sehr wenig, weil wir uns darauf ausruhen, dass unsere Ökonomie darauf basiert, dass Frauen* diese Arbeit eben unbezahlt leisten.
Wenn wir als Gesellschaft wirklich das Problem der Einsamkeit angehen wollen, müssen wir neue Konzepte der Gemeinschaft etablieren in denen Menschen tatsächlich leben wollen und die Frauen* guttun.
Menschen isolieren sich, wenn sie keine oder keine ausreichenden finanziellen Ressourcen haben um an der Gemeinschaft teilzuhaben. Wenn die Gesellschaft, vor allem darauf fußt, dass man nur durch Geld partizipieren kann, ist das für Menschen, die nicht viel davon haben, ein riesiges Problem. Wenn man kein Geld hat, um in einem Verein eintreten zu können oder keine Kleidung hat, in der man sich wohlfühlt, um bei bestimmten Veranstaltungen teilzunehmen, dann partizipiert man nicht an der Gesellschaft.
Viele soziale Strukturen lassen sich schlichtweg nicht nutzen, wenn nicht die nötigen finanziellen Ressourcen vorhanden sind. Dazukommt, dass sozialer Stadtraum nicht als Ort des Zusammenkommens konzipiert ist. Wieviele Orte, an denen man Gemeinschaft findet und kein Geld braucht, um Zugang zu erhalten, gibt es?!
Schön, dass du das ansprichst, denn dieses Buch ist kein Buch übers Singlesein. Singles haben genauso Platz in meiner Auseinandersetzung mit dem Alleinsein, aber für mich war es wichtig zu betrachten, warum viele Menschen in Partnerschaften vereinsamen. Es passiert, weil sie sich stark auf diese eine Person, den*die Partner*in, fokussieren und sich emotional extrem abhängig von der Selbigen machen. Viel schlimmer noch: Sie machen ihr Selbstwertgefühl von ihrem*ihrer Partner*in abhängig. Sie tun folglich alles, um diese Partnerschaft aufrecht zu erhalten und verlieren sich letztlich selbst.
Für mich war es wichtig zu betrachten, warum viele Menschen in Partnerschaften vereinsamen.
Ich selbst bin in einer Beziehung und bin das sehr gerne. Auch weil ich mit meinem Partner Sinnlichkeit leben kann. Wir schätzen uns sehr für die Personen, die wir sind, gerade weil wir unser Selbstwertgefühl nicht voneinander abhängig machen. Für mich als Frau* hat mein Partner nicht die Rolle mich aufzuwerten. Es passiert oft in Partnerschaften, dass Frauen* ihren Wert aus dem vermeintlichen Wert des Mannes ziehen. Das ist natürlich auch etwas, das man im Kontext des Patriarchats verstehen muss. Ich wünschte sehr, dass sich Frauen* davon befreien.
Der soziale Status von Frauen* war jahrhundertelang abhängig von ihrem Ehemann, weil Frauen* ihren sozialen Status gar nicht selbst herstellen konnten – weder über ihren Beruf, noch konnten sie in die Wissenschaft gehen, geschweige denn in die Politik oder Kunst. Sie waren abhängig von einem Mann, der sie begehrt, von seinem sozialem Status und dem von ihm erarbeiteten Geld. Mittlerweile hat sich diese Abhängigkeit etwas aufgelöst, aber dennoch hat der Status des Mannes für Frauen* weiterhin eine gewisse Symbolik.
Es passiert oft in Partnerschaften, dass Frauen* ihren Wert aus dem vermeintlichen Wert des Mannes ziehen.
Aus dem Alleinsein ziehe ich eine ungestörte Selbstwahrnehmung. Diese ist ganz unabhängig von dem politischen Befreiungskampf, der das Alleinsein ist, auf einer sinnlichen Ebene wahnsinnig schön. Ich habe das Gefühl, dass meine Sinne und meine Wahrnehmung viel offener sind, wenn ich Zeit alleine verbringe. Im Alleinsein verbinde ich mich viel konzentrierter mit meiner Umwelt. Das empfinde ich als wahnsinnig wertvoll.
Ich weiß gar nicht, wie man sich langweilen soll, wenn man einfach nur wahrnimmt und keine andere Person in Form von Subjektivität, mit der ich auf eine Art kommunizieren muss, mich umgibt. Vor allem beim Reisen wird mir klar wie groß und komplex die Welt eigentlich ist. Das finde ich unglaublich schön. Sehr interessant finde ich auch, dass ich viel öfter und leichter ins Gespräch mit Fremden komme, wenn ich alleine bin. Denn durch eine (Reise-)Gruppe oder das Reisen mit Partner*innen oder Freund*innen stellt man doch eine Art Isolierung her.
Wie lange tut denn Alleinsein gut?
Um ehrlich zu sein, ich frage mich das auch manchmal. Denn ab und zu richte ich mich so sehr im Alleinsein ein, bis ich bemerke, dass ein paar Spiegelneuronen mir doch gut tun würden. Nach drei Tagen allein in meiner Bude denke ich schon, dass ich jetzt wieder mal ein Gegenüber bräuchte. Es ist wichtig, dass man Alleinsein als selbst gestaltbaren Raum wahrnimmt. Mir ist vollkommen klar, dass das Menschen nicht immer leicht fällt. Nur beißt sich die Katze hier in den Schwanz, weil ich glaube, dass man im Alleinsein ein stärkeres Selbstbewusstsein bekommt, was einem Wiederrum ermöglicht mehr Gemeinschaft zu finden.
In meiner Jugend war ich sehr einsam. Das hatte auch mit ein paar Erlebnissen zu tun, die ich alleine durchstehen musste. In dem Zuge wurde mir klar, dass ich sehr gut mit mir selbst klar komme; dass ich mir selbst eine sehr gute Freundin bin. Und vor allem: Ich kann aktiv entscheiden, ob ich alleine bin oder eben nicht. Sehr viele Menschen haben die Vorstellung, dass sie dem Alleinsein passiv ausgeliefert sind. Sie machen ihr Selbstwertgefühl davon abhängig, dass andere mit ihnen Zeit verbringen wollen. Sie haben nicht den Mut, Leute einzuladen. Ich musste das selbst lernen.
Von daher möchte ich ermutigen, dass man Alleinsein und Gemeinschaft als Raum begreift, den man selbst gestalten kann. Ich finde es etwas Schönes zu begreifen, dass es so viele Handlungsoptionen gibt. Dieses Wissen für die eigene Dosierung des Alleinseins verantwortlich zu sein, eröffnet mir einen guten Zugang zur Welt. Es ist für mich eine Quelle der Schönheit, der Gelassenheit und Selbstliebe.
Es gab einen Moment in meinem Leben, wo es mir wirklich richtig schlimm ging, weil der Aktivismus mich erschlagen hat. Ich habe sieben Jahre lang Frauen* bei Abtreibungen begleitet und diese organisiert. Die Arbeit war wirklich bereichernd und schön, wichtig und gut, aber nach dieser langen Zeit habe ich gemerkt, dass ich am Ende bin, weil ich einfach den Stress nicht mehr mittragen konnte – die negativen, sehr schlimmen Erfahrungen der Frauen*, den Zeitdruck.
Ich sollte am folgenden Tag bei einer Podiumsdiskussion sprechen, konnte aber absolut nicht dahin, weil ich nicht einmal mehr aufstehen konnte – drei Tage lang. Stattdessen habe ich einen Flug nach Bilbao gebucht, um in Spanien den Jakobsweg zu gehen. Ich bin einfach geflohen. Ich war ganz allein, aber es hat mir extrem geholfen. Absurderweise war ich als Abtreibungsaktivistin plötzlich auf diesem christlichen Pilgerweg. Ich habe das Pilgern allerdings als Kulturtechnik begriffen nicht als Ausdruck von Religiosität.
Du musst dich alleine auf den Weg machen, um die Welt zu verstehen und dich selbst. Du kannst allein den Weg gehen oder zusammen, aber alle akzeptieren, wenn du alleine weiterziehst. Diese Idee von Dosierung des Alleinseins und der Gemeinschaft kann man beim Pilgern sehr gut üben. Gleichzeitig stellen fremde Menschen für dich Refugien in Form von Herbergen bereit. Letztlich hat mich diese Pilgererfahrung wieder mit der Menschheit versöhnt, vor der ich geflohen bin. Beim alleine Reisen wurde mir so viel Liebe zurück gegeben. Alles was einem durch Konkurrenz und Leistungsgesellschaft ausgetrieben wurde, findet man beim alleine Reisen wieder. Das ist total kraftvoll. Ich wünsche Frauen* dieses Erlebnis sehr.
Ja, es hat sich aber eher zufällig ergeben. Das war keine strategische Entscheidung. Ich habe erst hinterher verstanden, dass es recht werbewirksam ist, 2.000 Kilometer als Frau* alleine zum Schwarzen Meer gefahren zu sein. Es hat mir selbst aber gezeigt, wie sehr das Thema alleine Reisen mittlerweile meins geworden ist.
Ähnlich war es bei den Themen kinderfreies Leben und Schwangerschaftsabbruch, über die ich zuvor geschrieben und auf die ich mich in meiner aktivistischen Arbeit konzertiert habe. Die beiden Themen haben mich zunächst gar nicht persönlich betroffen. Ich habe jedoch beobachtet, dass Frauen* sich von ihrem Außen sehr stark in diesen Bereichen beeinflussen lassen.
Letztlich lande ich in meiner Arbeit bei Themen, bei denen Frauen* sich stark selbst beschränken. Denn es treibt mich um und macht mich traurig, wenn sie sich in ihrem Mut und ihrem Selbstwertgefühl einschränken. Und weil es mir immer wichtig war Theorie und Praxis zusammenzubringen, gebe ich jetzt die Seminare „Will ich Kinder?, in denen Frauen klären können, ob sie Kinder haben wollen oder nicht. Denn Frauen beschränken sich in ihrer Lebensgestaltung immens für eine mögliche Familienplanung, und hegen diesbezüglich grosse Selbstzweifel.
Ich selbst begegne Dingen mit einer – nennen wir es – gesunden Ignoranz. Ich verstehe diese als Möglichkeit der Abgrenzung gegenüber äußeren Erwartungshaltungen.
Foto: Adobe Stock (Teaser), Ivo Mayer (Porträtbild)