Leise Abschlüsse, echte Klarheit: Eine andere Art der Jahresreflexion
18. Dezember 2025
geschrieben von Gastautor*in

Nicht jedes Jahr lässt sich in klaren Kategorien erzählen. Manche Jahre bestehen nicht aus Höhepunkten und Tiefschlägen, sondern aus Übergängen: leisen Entscheidungen, inneren Verschiebungen, Momenten, in denen sich etwas löst – oder neu sortiert. 2025 war für viele genau so ein Jahr. Eines, das viel abverlangt hat, ohne immer eindeutige Antworten zu liefern.
Audrey Kaiser, Systemische Beraterin und Mentorin für Grenzen setzen in Köln, sieht den Jahresrückblick nicht als Leistungsschau oder Optimierungsübung, sondern als Einladung zur Selbstzuwendung – und fragt nicht danach, was erreicht wurde, sondern danach, wie wir mit uns selbst umgegangen sind, als vieles gleichzeitig in Bewegung war.
"Wie gehe ich eigentlich mit mir um, wenn ein Jahr viel von mir wollte?“
Was für ein Jahr war 2025 für dich?
2025 war kein klassisches „Höhen-und-Tiefen“-Jahr, sondern eher eine Sammlung von Lebensübergängen, Umbrüchen, Wendepunkten – manchmal gewollt, manchmal viel zu plötzlich. Einige Menschen sind beruflich komplett neu gestartet, andere haben sich nach Jahren das erste Mal wieder erlaubt, zur Ruhe zu kommen.
Manche haben eine Freundschaft beendet, die eigentlich längst vorbei war, andere haben sich endlich getraut, eine neue zu beginnen und während manche noch damit beschäftigt sind, die eigene mentale Gesundheit zu stabilisieren, durfte jemand anderes zum ersten Mal spüren, wie sich echte Unterstützung anfühlt.
"Viele Menschen erzählen, dass ihr Nervensystem 2025 irgendwie immer „an“ war: zu viel Input, zu wenig Erholungspausen."
Viele Menschen erzählen, dass ihr Nervensystem 2025 irgendwie immer „an“ war: zu viel Input, zu wenig Erholungspausen. Zu viele Erwartungen. Zu wenig echte Orientierung. Gleichzeitig gab es auch Momente der Klarheit. Das Gespräch, das man ewig vor sich hergeschoben hat. Die Erkenntnis, dass eine Grenze neu gesetzt werden darf. Der Mut, eine Entscheidung diesmal nicht für andere zu treffen, sondern für sich selbst.
Ein Jahresrückblick bedeutet nicht, jede Erinnerung wieder hervorzuholen. Es bedeutet vielmehr, sich selbst bewusst zuzuhören: "Wie gehe ich eigentlich mit mir um, wenn ein Jahr viel von mir wollte?“.
Systemisch betrachtet dürfen wir uns am Jahresende folgende Räume öffnen:
- Das Jahr anerkennen, ohne es bewerten zu müssen. Es muss nicht „gut“ oder „schlecht“ gewesen sein. Es darf komplex gewesen sein.
- Gefühle benennen, die kein Publikum brauchen. Traurigkeit, Stolz, Wut, Enttäuschung – alles darf gleichzeitig existieren, ohne erklärt werden zu müssen.
- Die kleinen, unscheinbaren Fortschritte bemerken. Nicht nur die großen Ereignisse formen uns. Oft sind es Routine-Entscheidungen, innere Gespräche oder stille Momente.
- Abschiede würdigen, auch wenn sie leise waren. Wir verlieren nicht nur Menschen – wir verlieren Versionen von uns, die Teil dieser Zeit waren. Ein stiller Abschied darf genauso gültig sein wie ein lauter.
- Themen parken, für die jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist. Manche Prozesse brauchen innere Stabilität, Zeit oder Begleitung, bevor man sie weiterführt.
"Du darfst einen Übergang gestalten, der sich nach dir anfühlt."
Dein ganz persönlicher Jahresrückblick
Wenn du möchtest, kannst du deinen Rückblick ritualisieren, nicht durch ein Fest, nicht durch einen Jahresabschluss-Post, sondern durch etwas Intimeres. Vielleicht durch ein paar notierte Fragen, ein Foto, das du dir ausdruckst, oder einen Satz, der dein Jahr in seiner Widersprüchlichkeit zusammenfasst.
Du kannst dich zum Beispiel fragen: Wo bin ich gewachsen - auch, wenn es wehgetan hat? Welche Erfahrung hat mich verändert? Welcher Moment war heilsam - und welcher darf verabschiedet werden, damit er mich nicht länger festhält?
2025 muss nicht aufgeräumt sein, um abgeschlossen zu werden.
Du darfst einen Übergang gestalten, der sich nach dir anfühlt: leise, kraftvoll, vorsichtig oder klar. Und vielleicht liegt genau darin die sanfteste Form von Selbstfürsorge.
Hier findet ihr Audrey Kaiser:
Text: Audrey Kaiser
Foto: Anna-Maria Langer