Man sagt den Schweizern nach, sie hätten einen Hang zum strengen und funktionalen Design – das Dekorative liege ihnen eher weniger. Interior Designerin Virginia Maissen bildet in diesem Szenario dann zweifelsohne die große Ausnahme. Mit ihrem Studio Maissen setzt sie vielfältigste und immer innovative Inneneinrichtungsprojekte um – vom Hotel über das Café bis zur Privatwohnung. Dabei designt mit ihrem Team alles selbst, ob Vorhänge oder Teppiche, und achtet immer auf den gewissen Stilbruch in ihrem Konzept. Projekte wie das neue Interieur im Hotel Walther oder im House Engadin haben Studio Maissen über die Schweizer Landesgrenzen bekannt gemacht. Bevor Virginia Maissen sich voll und ganz dem Innendesign verschrieb, machte sie Karriere als Model und Moderedakteurin und bereiste die Welt. Wir treffen Virginia in ihrer schönen Wohnung in Zürich-Wiedikon zum Gespräch über globalisierte Ästhetik, den Mut, alte Wege zu verlassen, und natürlich über ihre Wahlheimat Zürich.
Ich habe meinen Weg immer wieder verlassen, um neue Wege zu suchen.
Virginia Maissen: Mein Lebensweg war nie gerade. Als Kind schon wollte ich Innenarchitektin werden, bin es aber erst seit ein paar Jahren. Ich habe meinen Weg immer wieder verlassen, um neue Wege zu suchen. Bei meinen Kreationen als Innenarchitektin ist es genauso. Ich schaue gern, was es gibt – aber nicht, um diese alten Wege zu verfolgen, sondern um neue Wege zu gehen. Das ist natürlich mit viel Aufwand und Kosten verbunden.
Sie kosten erstmal Geld, ja. Wenn wir immer jede Arbeitsstunde aufschreiben würden, müssten wir anders funktionieren. Wir haben uns nichts aufgebaut, was wir immer wieder aus der Schublade ziehen. Jedes Projekt ist neu. Wir wollen nichts auffrischen und kopieren, sondern bei Null starten. Das ist aufwändig.
Das fällt mir leicht. Ich habe ein Bilderarchiv in meinem Kopf, das größer als jede Festplatte ist. Ich habe schon immer in Bildern gedacht und alles in Bildern aufgesogen. Da ich als Model und Moderedakteurin viel gereist bin, habe ich viel gesehen. Daraus schöpfe ich bis heute.
Ich habe als Kind gern mein Puppenhaus neu eingerichtet. Mein Vater war Architekt und hatte Musterarchive, also habe ich immer wieder neu tapeziert und Teppiche verlegt. Ich wollte Innenarchitektin werden, aber mein Vater riet mir davon ab. Ich habe dann 15 Jahre als Model, Stylistin und Moderedakteurin gearbeitet.
Zuerst habe ich das Kreativstudio Gustave gegründet, mit dem wir Branding, Kreativdesign und Modekampagnen konzipiert und umgesetzt haben. Eine Freundin fragte mich dann für das Innendesign eines Bed & Breakfasts im Engadin an. Das war der Startschuss und nach dem Projekt ging es über Mund-zu-Mund-Propaganda weiter. Also habe ich vor zwei Jahren Studio Maissen gegründet, mit dem ich Projekte im Innendesign umsetzen.
Hotels sind meine Leidenschaft. Ich liebe es, zu beobachten, wie ein Hotel funktioniert.
Ich liebe Hotels! Hotels sind meine Leidenschaft. Ich liebe es, zu beobachten, wie ein Hotel funktioniert. Warum sind die einen gut besucht? Die anderen nicht? Warum ist die eine Lobby leer und die andere wird wie ein Catwalk frequentiert? Es ist spannend, die Leute zu beobachten und die Essenz sowie die Gesellschaft dazu zu studieren. Heute gibt es viele neue Bedürfnisse – am Nachmittag zu frühstücken, im Liegen zu arbeiten … Gleichzeitig geht es darum, das Alte zu bewahren. Man darf den Schweizer Hotels den Zauber, den sie früher einmal hatten, nicht wegnehmen. Er muss auf die Moderne umgemünzt und komfortabler gestaltet werden.
Ich versuche, in dem jeweiligen Hotel zu übernachten, ein paar Stunden in der Lobby zu verbringen und das Klientel zu studieren. Auch der Gastgeber macht einen wesentlichen Teil aus. Bei unserem Vorzeigeprojekt, dem Hotel Walther in Pontresina, herrschte ein sehr großes Vertrauen. Das musste erstmal gewonnen werden.
Die Grandezza und die herrschaftlichen Räume alter Hotels wurden in den Achtzigern und Neunzigern oft kaputt gemacht. Dann kam die Idee auf, dass in diese Räume ultimatives Design rein muss. Alten Hotels wurde reihenweise die Seele genommen. Stattdessen wurden vermeintlich angesagte Items reingestellt, die nach zwei Jahren wieder out waren. Dann hat man ein altes Hotel, was nicht mehr alt ist, mit hippen Sachen, die nicht mehr hip sind. Also muss man wieder bei Null anfangen. Hotels im Schweizer Tourismus können nicht trendy trendy sein. Die können es sich nicht leisten, nach drei Jahren wieder alles umzugestalten. Das geht vielleicht in London, aber nicht in der Schweiz.
Die verbauten Materialien auf jeden Fall, da gehen wir auch stimmig mit der Bausubstanz um. Bei den Möbeln halte ich es mit der Formensprache immer klassisch. Ich bringe dann aber andere Sachen rein, die das Ganze spannend machen: spezielle Vorhänge, selbst designte Teppiche und Tapeten. Die sind allesamt unique, weil sie sich so auf keiner Messe finden lassen.
Genau, die kaufen alle bei den gleichen Messen ein und entsprechend ähnlich und langweilig sehen die Hotels dann auch aus. Gefräßte Wände kommen dort aus China, wir lassen sie beim Dorfschmied fertigen.
Dabei möchte ich die niedrigpreisigen Hotelketten wie 25Hours oder MotelOne in Schutz nehmen, denn die bewegen sich in ihrer Preiskategorie auf einem unglaublich hohen Level. Da lässt sich fast kein Unterschied mehr zu einem Vier-Sterne-Hotel feststellen, außer vielleicht beim Service.
Eins steht fest: zu viel Ästhetik wird langweilig.
In gewisser Weise schon. Das lässt sich gerade bei Pinterest beobachten, wo oftmals die gleichen Bilder gepinnt werden. Gleichzeitig ist das Niveau höher geworden, viele junge Leute kaufen heute bei Vitra ein. Das Bewusstsein hat sich geändert, früher wurde hauptsächlich bei Ikea eingekauft.
Es geht dabei auch viel um Status, klar. Und mit dem Vitra Stuhl geht man natürlich immer auf Nummer sicher. Eins steht fest: zu viel Ästhetik wird langweilig und ist ein Killer. Mich haben immer Unorte interessiert, verlassene Häuser oder offene Dächer. Es braucht einen Bruch.
Das finde ich auch. Ich habe mich gerade in eine Bronzestatue in einer Galerie verliebt, in deren Gesicht alles schief ist. Das Leben ist nicht symmetrisch, es besteht nicht nur aus Symmetrien und Ästhetik. Die Ära der perfekt operierten Nasen ist vorbei …
… dafür gibt es einen überästhetischen Fitness- und Muskelwahn.
Das kann eine textile Lampe aus Hanfseilen oder ein Sisal-Teppich sein, es gibt viele Möglichkeiten. Gerade die Hotellobbys sind oft total shiny, da glänzt der Marmor mit dem Messing und dem Gold um die Wette und dazu gesellt sich der perfekte Blumenstrauß. Das ist genau das, was ich vermeiden möchte: Zu viele kahle, glatte Oberflächen schaffen Distanz. Es werden optische Barrieren gesetzt und der Gast wird nicht mehr abgeholt. Ich setze im Bruch auf matte und rauhe Oberflächen – die schaffen eher Nähe.
Es dröhnt vielleicht mal der Kopf, aber das liegt eher an zu vielen Baustellen und dann müssen Prioritäten gesetzt werden. Visuelle Pausen mache ich beim Yoga und beim Töpfern. Bei beidem darf keine Ungeduld an den Tag gelegt werden. Das sind meine Achtsamskeitübungen. Und die Natur spielt für mich eine große Rolle, ich bin sehr gern in den Bergen – das Engadin ist ein Traum.
Ich liebe Marrakesch, dort ist alles so liebevoll gemacht. Man sieht unglaublich viel Handwerk. Die Villa d’Este am Comer See finde ich fantastisch, da steckt so viel Geschichte drin und es ist einfach traumhaft gelegen. Mich begeistern auch vermeintliche Kleinigkeiten, wie der Skiraum im Hotel Chedi in Andermatt – sowas hat man noch nicht gesehen. Das ist wie eine Prada Boutique in den Bergen, aber eben als Skiraum. Solche Räume können auch mit Liebe zum Detail gestaltet werden. Ich frage mich oft, warum die Spielzimmer für die Kinder in den Hotels nicht toll gemacht sind? Warum sind die so oft im Keller? Die Mütter müssen sich schließlich auch drei Stunden da hinsetzen und mit Klötzen spielen.
Die überschaubare Größe! Kurze Wege steigern enorm die Lebensqualität. Und wir haben hier alle Kulturinstitutionen wie man sie auch in anderen Großstädten finden kann. Aber Zürich ist eben auch sehr teuer. Es lässt sich nicht so günstig leben.
In Sachen Lebensfreude sind wir Zürcher wahrscheinlich nicht die Besten.
Ich habe noch keine andere Stadt gefunden, in der ich gern leben würde. (Das Telefon klingelt.) Moment, ich frage meinen Freund Max: Max, in welcher Stadt lässt es sich besser leben als in Zürich? Napoli? Milano! Rom! (Sie legt auf.) Ich kann verstehen, was er meint. Die Lebensfreude ist in Rom wahrscheinlich noch einen Tick besser. In Sachen Lebensfreude sind wir Zürcher wahrscheinlich nicht die Besten.
Zürich ist eine sehr, sehr schnelle Stadt. Es gibt Studien, die ermitteln, wie viel man im Alltag schafft – also wie wenig Zeit man bei der Post oder auf die Bahn wartet. Zürich gehört diesbezüglich zu den schnellsten Städten der Welt.
Es ist aber ein Indikator für ständige Effizienz. Alles muss reibungslos funktionieren und du passt dich eben dieser Effizienz in deinem Alltag an. Du hast wenig Freizeit und kommst wenig zur Ruhe.
Ja, aber die meisten schnappen sich eben ein Sandwich und sitzen schnell wieder im Büro – während die Franzosen drei Stunden lang essen gehen. Es gibt wenig Zeit für Muße und du lässt dich nicht gehen. Die Stadt lässt wenig Spontaneität zu.
Aber es erfordert Mut und Selbstbestimmung, aus diesem Rhythmus auszubrechen. Im Sinne einer gesteigerten Lebensfreude sollte dies aber jeder wagen. Einfach mal die Selbstdisziplin etwas lockern und nicht immer ein schlechtes Gewissen haben.
Als frei Arbeitende bist du jedenfalls nicht wirklich frei, sondern immer between work. Wenn die Grundhaltungskosten etwas niedriger gehalten werden könnten, dann hätte man mehr Freiheit. Für mich bedeutet Freiheit, ins eigene Büro zu gehen und selbst zu bestimmen, mit wem ich zusammenarbeite. Den Tag so zu gestalten, wie es für mich Sinn macht.
Ja und ich kenne nicht viele Leute, die den Mut haben, zu gründen. Man braucht Selbstvertrauen und muss wirtschaftlich die Balance halten. Ich musste mein Team auch schon mal reduzieren, weil ein Projekt nicht stattgefunden hat. Jetzt zeichnet sich ein neues größeres Projekt ab und ich muss das Team wieder vergrößern. Das Wichtigste ist, eine Beschäftigung zu finden, für die man eine Leidenschaft hat!
Fotos: Mojca Vidmar
Layout: Carolina Moscato