Als Künstlerinnenduo „Jeschkelanger“ haben Marie Jeschke und Anja Langer ein neues Material entwickelt, das zu Beginn diesen Jahres lanciert wurde. Im Showroom im Direktorenhaus in Berlin präsentieren die beiden Künstlerinnen die von ihnen gestalteten Fliesen aus Basis Rho, dem Baustoff, der eine Symbiose aus Beton und geschliffenen Glassteinen bildet, und den sie als Neo-Terrazzo bezeichnen. Wir haben Marie und Anja im Garten beim Direktorenhaus zum Gespräch darüber getroffen, wie sie dieses neue Material kreiert haben, wie sie die Grenze zwischen Kunst und Design beurteilen, und warum mehr Künstler*innen sich als Unternehmer*innen verstehen sollten.
Irgendwann haben wir begriffen, dass wir nur durch Austausch tatsächlich wachsen und Teil der Gegenwart sein können.
Marie Jeschke: Uns ist Austausch extrem wichtig. Als wir damals als Duo gestartet sind, hatten wir beide eigentlich unsere individuelle künstlerische Laufbahn vor uns. Aber irgendwann haben wir begriffen, dass wir nur durch Austausch tatsächlich wachsen und Teil der Gegenwart sein können. Denn wenn du dich zurückziehst und dich in deinem Atelier einschließt, bist du nur mit deiner Selbstreflexion beschäftigt. Wir haben relativ schnell gemerkt, dass dieser Austausch über uns hinausgehen muss.
Anja Langer: Gleichzeitig glauben wir nicht nur an die Emanzipation der Frau, sondern auch an die Emanzipation des Mannes. Unser Zeitalter hat so viel Nicht-Gleichberechtigung. Für Frauen war diese lange sichtbar und offensichtlich, aber bei Männern gibt es genauso feste Bilder, unter denen viele leiden. Frauen könnten sich viel wohler fühlen, würden sich auch die Männer emanzipieren und könnten sich weicher zeigen. Die Gleichberechtigung ist gesamtgesellschaftlich. Es wäre schön, wenn man gemeinsam daran arbeiten könnte. Wir wollen nicht nur die Feministinnen sein, die für Frauen kämpfen, sondern wir wollen für alle kämpfen, mit allen sprechen und diskutieren und mit unser Kunst niemanden ausschließen.
Marie: Aber wir haben auch gemerkt – weshalb es interessant ist, mit Gesprächspartnerinnen wie euch zusammenzukommen – wie wenig Gründerinnen mit Künstlerinnen-Background es in Deutschland gibt. Wir sind leider, was dieses Kombination betrifft, eine Seltenheit.
Marie: Dass wir heute zusammenarbeiten, war eher ein Zufall. Wir haben im selben L-förmigen Atelier gearbeitet. Anja war in dem einen Flügel und ich in dem anderen, weshalb wir uns beim Arbeiten eigentlich nie gesehen haben. Anja war mit Malerei und ich mit interdisziplinären Mixed Media-Installationen beschäftigt. Dann wurden wir von der Schweizer Kuratorin Marie DuPasquier eingeladen, gemeinsam auszustellen, weil unsere Arbeiten so gut zueinander passten. Wir haben sehr spontan entschieden, dass wir etwas zusammen machen wollen und uns dann mit der Infrastruktur der Galerie beschäftigt. Nach den Eröffnungstagen einer Ausstellung wird nämlich das komplette Büroequipment wieder in den Galerieraum geholt, das für die Ausstellung selbst entfernt wurde. Das ist die Kontaktzone zwischen Kommunikation, Management und Kunst und total ineinander verzahnt, aber nie sichtbar.
Anja: In unseren Arbeiten setzt sich endlos fort, was Kontaktzonen sein können. Der kleinste gemeinsame Nenner ist die Arbeit zwischen Marie und mir als „Contact Zone“. Das, was wir damals letztlich gewählt haben, auch verweisend auf die Infrastruktur der Galerie, waren Glastische. Keine von uns hatte vorher mit Glas gearbeitet. Wir haben die Glasplatten der Tische von beiden Seiten bearbeitet, auch dadurch ist eine Kontaktzone, an der Stelle, an der wir uns auf dem Tisch trafen, entstanden. Aber auch die Materialität von Glas erzeugte sowohl eine Trennung als auch eine Verbindung zwischen Marie und mir und öffnete Fragen wie: Wer ist wer? Was sieht man durch das Glas? „Contact Zones“ trennen, aber verbinden auch gleichzeitig. Und sie besitzen immer etwas Prozesshaftes.
Glas ist das Material der Gegenwart, aber es ist mehr oder weniger unsichtbar.
Marie: Uns fasziniert, dass eine Kontaktzone etwas Immaterielles ist. Ähnlich ist das auch mit Glas. Wir sind komplett umgeben von Glas, aber keiner nimmt es als solches wahr. Wir leben in einer Zeit, in der wir alles durch Glas hindurch wahrnehmen und das Material täglich mit der Nutzung unserer Smartphones berühren – fast mehr als unsere Partner*innen. Glas ist das Material der Gegenwart, aber es ist mehr oder weniger unsichtbar. Da sehen wir auch einen Vergleich zu gesellschaftlich unterrepräsentierten Gruppen: Sie sind nicht sichtbar, aber essentiell für die Gesellschaft. Glas thematisiert Kontakt. Zu Corona-Zeiten fühlen wir es umso stärker. Die Acryl-Glasscheiben, die zum Schutz dienen, thematisieren Kontakt, aber auch die Gefahr von Kontakt.
Anja: Es ist immer beides gleichzeitig: Es trennt und schützt dich, aber dadurch, dass es unsichtbar ist, bleibt auch immer eine Restskepsis. Es ist einerseits zerbrechlich und kann dich schneiden, andererseits besitzt es eine Schönheit und Stärke. Es steckt schon fast etwas Schizophrenes in diesem Material. Für uns als Künstlerinnen ist auch interessant, dass Glas nicht als vorkonfiguriertes Material für den Künstlerbedarf erhältlich ist und daher auch kein von sich aus aufgeladener Kunstwert darin steckt, wie zum Beispiel bei einer Leinwand.
Marie: Unsere Arbeit mit dem Material entwickelte sich über die Jahre immer weiter. Von Kooperationen mit verschiedenen Performer*innen, die von uns gestaltete Glasplatten im Raum bewegt haben, bis hin zu den „empty_glass“ Arbeiten.
Anja: Die Leute, die an den Tisch kommen, sind alle willkommen und eingeladen, es geht um die Diskussion, den Austausch. „empty_glass“ ist wie das große Fest der Kontaktzone.
Marie: Als wir Hayk kennengelernt haben, haben wir ihn gefragt, wie wir mit 50 Euro eine Weihnachtsfeier für 40 Leute ausrichten können, denn wir hatten kein Geld für eine große Feier. Hayk kam zu uns ins Atelier und meinte, dass er sich einen halben Tag frei nimmt und wir etwas zusammen auf die Beine stellen könnten. Die Idee war schnell geboren. Mit ganz viel Hilfe von verschiedenen Partnern haben wir das erste Essen bei uns im Atelier ausgerichtet. Das war so magisch, dass wir das noch einmal in einem größeren Rahmen ausprobieren wollten. Ein besonderer Moment war, am nächsten Morgen zwischen all den Resten im Atelier aufzuwachen und diesen Blick durch die mit den Essensresten versehene Glasplatte, auf der die Spuren der „Contact Zone“ dadurch deutlich zu erkennen waren, zu erleben. Jeder ist in diesen Spuren vertreten.
Wir haben zu Beginn überhaupt nicht daran gedacht, ein Neo-Terrazzo zu entwickeln, sondern waren erstmal fasziniert von dem Gedanken, Abfälle anderer Künstler*innen und Architekt*innen zu archivieren.
Anja: Wir nennen es lieber Symposium. Dieser spannende Reibungsmoment zwischen der Auslegung des Begriffs im antiken griechischen Ursprung und dem heutigen Verständnis fasziniert uns sehr. Bei den Griechen wurde gegessen, getrunken und ein Thema vorgegeben. Es ging darum, alle Sinne an den Tisch einzuladen, die Diskussion war nur ein Teil des Genusses. Heute ist das Symposium schon fast das Gegenteil. Das Wort ist überproportional im Fokus und wenn man einen trockenen Keks oder einen Schluck Wasser bekommt, hat man noch Glück.
Marie: Auch das Verlieren von Zeit, das wirkliche Eintauchen in das Erlebnis, ist bei einem Symposium heutzutage überhaupt nicht mehr gegeben. Das Thema wird rational in bestimmte Timeslots portioniert und du bist aufgefordert, mit dem Beginn des Symposiums zu denken anzufangen und danach deinen Kopf wieder auszuschalten. Wir glauben, das Entwickeln von Kultur kann nur über das Eintauchen passieren. Es ist nur möglich, wenn man sich fallen lassen kann, sonst ist man permanent nur am Wiederholen.
Anja: Es passt gut, dass wir gerade von „empty_glass“ gesprochen haben, denn das war der initiale Moment. Ein Gast bei einem der ersten Dinner war der Besitzer einer Glashütte. Und er hatte Container voll mit Glasabfällen, die für uns Edelsteine waren. Er hat uns freie Hand gegeben, mit diesen Glassteinen zu experimentieren. Wir haben zu Beginn überhaupt nicht daran gedacht, einen Neo-Terrazzo zu entwickeln, sondern waren erstmal fasziniert von dem Gedanken, Abfälle anderer Künstler*innen und Architekt*innen zu archivieren. Wir haben uns für Beton als weiteres Material entschieden und erste Prototypen entwickelt. Wir sind unversehens in das Ganze hineingestolpert, aber wir sind Tag für Tag mehr in diesen Kosmos eingestiegen und nach einem Jahr war das Material entwickelt.
Marie: Kunst hängt oder steht momentan im architektonischen Raum, kann aber jederzeit wieder aus dem Raum entfernt werden. Also ist es eigentlich viel interessanter zu überlegen, wie sich Kunst im Raum manifestieren kann. Wie eine dreidimensionale abstrakte Malerei von uns aus der Farbpalette und den Resten anderer Künstler*innen in die Böden und Wände zu integrieren. Und so war der inhaltliche Kontext geboren. Wir greifen hier auch das Thema der Transparenz auf. Was ist eigentlich hinter dem Boden oder der Wand? Uns umgeben nur verschlossene Oberflächen, aber wenn wir morgens im Bad stehen und uns die Zähne putzen, ist um uns herum auch Leben. Wir sind alle miteinander verbunden. Das ist Basis Rho. Einerseits ist es ein Neo-Terrazzo, aber gleichzeitig ist es für uns ein Start in eine neue Dekorative, bei der alles miteinander im Verbund stehen darf. Wir müssen diese Schnittstellen zwischen Mensch, Natur und Architektur viel mehr thematisieren.
Wenn man gesellschaftlich partizipieren will, muss man unternehmerisch denken können.
Marie: Wir hatten das große Glück, dass wir über die Universität der Künste in Berlin und die EU Sozialfonds das „Prototyping Stipendium“ bekommen haben. Wahrscheinlich hätten wir ohne die Unterstützung auch gar nicht die Kraft in das Projekt stecken können. Wir haben neben einem monatlichen Einkommen auch Coachings erhalten, die uns einen betriebswirtschaftlich Funken von Wissen vermittelt haben. Den bekommst du im Kunststudium nicht, da ist BWL und alles, was damit zu tun hat, eine Teufelstür. Künstler*innen sind Harlekine, die alle bespaßen sollen, aber dass sie in der Wirtschaft oder der Politik auch mit am Tisch sitzen? Keine Chance. Dazu wurden wir nicht erzogen und uns wurde diese Möglichkeit gar nicht erst eröffnet. Uns wurden diese Türen im Studium eher verschlossen. Bloß nicht betreten! Aber warum eigentlich nicht? Es hindert uns doch, wenn wir nicht wissen, was Umsatzsteuer ist und wie man Verträge aufsetzt. Wenn man gesellschaftlich partizipieren will, muss man unternehmerisch denken können. Man kann sich später davon distanzieren, aber ein bisschen Background muss man schon haben.
Anja: Auch weil wir gemerkt haben, dass die Alternative nur Abhängigkeit sein kann. Das hat uns dazu getrieben, das Self-Empowerment des Unternehmertums als zweites Forschungsfeld zu begreifen.
Marie: Das war für uns ein wichtiger Schritt. Sonst hätten wir weitaus länger als nur anderthalb Jahre gebraucht, um Basis Rho marktfähig zu machen.
Es ist wichtig, dass Künstler*innen auch Unternehmer*innen sind. Nicht nur, um in die finanzielle Unabhängigkeit zu kommen, sondern auch, um das Unternehmertum zu revolutionieren.
Anja: Künstler*innen waren früher auch in Gilden, wurden als Handwerker*innen gesehen, hatten Angestellte und waren stolz darauf, Unternehmer*innen zu sein. Ab irgendeinem Punkt wurde das ausgeklammert. Aber selbst große Künstler*innen, die heute sehr viel verdienen, haben Assistent*innen, große Werkstätten und sind vielleicht selbst auch Aktionär*innen. Ab wann das in der Uni verloren gegangen ist, dass Künstler*innen Unternehmer*innen sind und auch schon immer waren, bedarf einer Aufarbeitung, die wirklich interessant wäre.
Marie: Das Thema der Wirtschaft ist für Künstler*innen eigentlich das beste Feld und keiner traut sich ran, weil keiner das Hintergrundwissen hat. Das entmündigt uns als Künstler*innen. Es ist deshalb umso wichtiger, dass Künstler*innen auch Unternehmer*innen sind. Nicht nur, um in die finanzielle Unabhängigkeit zu kommen, sondern auch, um das Unternehmertum zu revolutionieren.
Ist das eine Fliese? Oder Malerei oder eine Skulptur?
Marie: Gute Frage. Wir haben seit einer Weile Praktikant*innen, die immer verwirrt sind, wenn wir mir dem ganzen Unternehmertum daherkommen. Wir merken aber nach einer Weile, dass sie eine Offenheit dafür entwickeln. Wahrscheinlich würden wir ihnen raten, viel mit anderen in Kontakt zu kommen und sich auszutauschen, wo es nur geht. Und sich nicht nur mit anderen Künstler*innen in den schon lange vorgegebenen Wegen aufzuhalten, sondern zu Treffen für Gründer*innen zu gehen oder Geschäftsführer*innen anzusprechen.
Anja: Es fängt schon damit an, die Uni genau auszusuchen. Wo brennt meine Leidenschaft? An welcher Uni komme ich wirklich in Kontakt mit Inhalten? Wo wird mir die Möglichkeit geboten, mich zu zeigen und auszuprobieren? Oder werde ich einfach nur in einer Schachtel gehalten, wie es vielen von uns ging? Schachtel auf, reingesteckt, dann rumpelst du dadrin ein bisschen rum und nach dem Studium machst du die Schachtel auf und bist überrascht, was da draußen eigentlich passiert. Es gibt mittlerweile Unis, die offener sind und auch Kollaborationen mit anderen Studiengängen anbieten.
Marie: Ist das eine Fliese? Oder Malerei oder eine Skulptur? Als wir das Material im Januar auf der „Service Design Show“ in London gelauncht haben, haben wir nur zwei Fliesen an die Wand gehängt. Das hat nochmal gezeigt, mit welchem anderen Hintergrund wir zu dieser Messe gekommen sind. Man kann Basis Rho als Fliese verbauen und Bäder damit auskleiden, aber gleichzeitig kann man auch nur eine einzige Fliese als Bild an die Wand hängen. Und dieser schmal Grad zwischen praktischer Anwendung und scheinbar auratischer Kunstwelt, ist das, was uns bis heute reizt. Man kann Basis Rho aus zwei Perspektiven betrachten: als Kunstwerk oder als Fliese. Nichts ist weniger wichtig.
Gerade diese Kontaktzone zwischen Kunst und Design ist spannend. In allen Bereichen wird Gestaltung weiter gedacht als nur dekorativ zu sein.
Marie: Wir machen diese Trennung nicht. Für uns ist es genauso ein Kunstwerk, wenn diese Fliese in den Boden einzementiert ist. Aber es ist leider so, dass über viele Generationen diese Kategorien gebildet worden sind, weshalb wir uns sprachlich damit noch rumplagen. Wir wollen diese Kategorien nicht aufmachen, aber um zu kommunizieren, müssen wir das. Es bedarf deshalb neuer Worthülsen. Wir sagen gerne, dass wir als Künstlerinnenduo „polypositional“ agieren. Gerade diese Kontaktzone zwischen Kunst und Design ist spannend. In allen Bereichen wird Gestaltung weiter gedacht als nur dekorativ zu sein.
Anja: Das ist nicht nur in der Kunst so. Vieles von dem, was uns angeboten wird, wird von großen Firmen mit einem wahnsinnigen Kapital auf den Markt geschoben. Da hängt eine riesige Marketingmaschinerie dran.
Anja: Es funktioniert aber genauso. Jede Galerie, die eine Ausstellung eröffnet und etwas zu sagen hat, beherrscht den PR-Markt und die Netzwerk-Maschinerie. Es gibt genauso eine Hierarchie von Wertsteigerung und Kommerzialisierung wie in anderen Bereichen. Kunst ist Kommerz. Die Käuferschaft ist extrem exklusiv und Kunst ist ein Luxusartikel. Die Marktmechanismen sind gleich. Nur entsteht in der Kunst oft der Eindruck, dass die Künstler*innen nichts damit zu tun haben, weil sie die Einzelheiten nicht kennen und deshalb nicht darüber sprechen.
Marie: Das ist eine total wichtige Frage, die wir aber nicht so richtig beantworten können. Beeinflusst wird man auf jeden Fall, ob positiv oder negativ. Ich kenne keinen Künstler und keine Künstlerin, der oder die sich nicht wünscht, von der eigenen Arbeit leben zu können. Der Markt und der künstlerische Schaffensprozess können nicht voneinander getrennt werden. Die Kunst ist auch eine Produktionsmaschine. Und sie hat Beweggründe. Ob diese besser oder schlechter sind als bei einem Schokoladenhersteller, kann jeder für sich selbst abwägen.
Layout: Kaja Paradiek