Ein Paar wird schwanger und verliert das Kind. In unserer Gesellschaft ist das immer noch ein Tabuthema, über das viel zu selten gesprochen wird. Dabei endet jede zehnte bestätigte Schwangerschaft in Deutschland mit einer Fehlgeburt. Sally Schulze ist Psychotherapeutin und Psychologin für Frauengesundheit. Sie hilft Paaren über den Verlust bei einer Fehlgeburt hinweg. Dazu hat sie den Onlinekurs “Wegweiser Fehlgeburt” entwickelt, der viele Tutorials zum Thema Schwangerschaftsverlust beinhaltet. Diese helfen dabei, das Lebensereignis emotional, in der Partnerschaft sowie körperlich zu verarbeiten.
Sally Schulze: Das stimmt. Im Englischen hat sich der Begriff Pregnancy Loss durgesetzt, also Schwangerschaftsverlust. Leider ist aber auch dieses Wort auf Deutsch nicht 100% stimmig. Trotzdem verwende ich als Psychologin und Psychotherapeutin ihn viel lieber, weil es einer guten Beschreibung näherkommt, als das Wort Fehlgeburt.
Die Definitionen der Begriffe sind nicht wirklich trennscharf. Für die emotionale Verarbeitung einer verlorenen Schwangerschaft ist es wichtig, sich keine fremden Wörter in den Mund legen zu lassen. Ich frage meine Klient*innen in der Beratung daher immer, welches Wort für sie am besten passt.
Fehlgeburten können so unterschiedlich sein – manchmal mit richtigen Wehen und manchmal unbemerkt.
Meistens geht es bei solchen Listen um „begleitende“ Faktoren, das sind gleichzeitig beobachtete Umstände in Studien. Das heißt aber nicht, dass zum Beispiel ein bestimmter Sport eine Fehlgeburt verursacht. Diese Unterscheidung bleibt bei diesen Listen oft unklar. Eine Studie hat meist kein allgemeingültiges Ergebnis. Oft fehlen konkrete Handlungsempfehlungen. Dass sowas trotzdem geklickt wird, kann ich verstehen. Die Kinderwunschzeit ist einfach eine Zeit, in der viele eine große Leere spüren und unbedingt handeln möchten.
Es ist nicht so entscheidend, wann genau es passiert, sondern eher, was drum herum passiert ist. Wenn eine Frau* spürt „es stimmt was nicht“ und sie bekommt gute medizinische Begleitung und kann zu Hause in sicherer Umgebung mit Unterstützung die Fehlgeburt durchleben, dann ist es anders, als wenn sie beispielsweise auf einer Geschäftsreise in ihrer professionellen Rolle ist.
Fehlgeburten können so unterschiedlich sein – manchmal mit richtigen Wehen und manchmal unbemerkt. Und obwohl ich seit vielen Jahren mit Frauen* darüber spreche, frage ich immer jede Frau*: „Wie geht es Dir damit und was ist für Dich das Schwerste daran?“
Es ist eigentlich gut, erstmal optimistisch vom Besten auszugehen und das heißt beim schwanger werden „das wird schon klappen“. Wichtig ist nur, dass man sich im Fall eines Schwangerschaftsverlusts selbst ernst nimmt und das Geschehene nicht pseudo-optimistisch wegwischt.
Konkret heißt das, sich zu fragen „Wie geht es mir damit?“, „Wo haben meine Gefühle Platz?“ und „Wer ist bei mir, wenn ich traurig bin?“ Sich so den Gefühlen zuzuwenden ist eine Form von Akzeptanz. Einfach am Motto „wird schon“ festzuhalten und Gefühle nicht zum Thema zu machen, erzeugt eher mehr emotionalen Ballast.
Bei den Männern* kann ich sagen, dass es für sie grundsätzlich schwer ist, ihren Gefühlen bei einer Fehlgeburt Raum zu geben. Oft sagen sie „Für meine Frau* ist das ja viel schlimmer, weil…“ Aber auch für Männer* ist es wichtig, sich selbst zu fragen „Wie geht es mir damit?“. Die Beziehung wird gestärkt, in dem das ehrlich dem*der Partner*in mitgeteilt wird – durch Offenheit, aber auch durch Geduld.
Ja, aber leider hilft keine Vorbereitung dabei, dass man nicht traurig ist oder es einem nichts ausmacht. Ein Frau*, die die medizinische Diagnose bekommen hat, dass die Schwangerschaft nicht intakt ist und leider eine Fehlgeburt als Trennung passieren muss, kann sich mental darauf vorbereiten. Sie kann sich damit auseinandersetzen, wie die Fehlgeburt passieren wird: nämlich auf natürlichem Weg durch Abwarten, angestoßen durch Medikamente oder durch eine Ausschabungs-OP.
Es macht Sinn sich selbst das Versprechen zu geben „Ich nehme meine eigenen Gefühle ernst und sorge für mich – wenn ich traurig bin genau so wie wenn ich fröhlich bin“. Mehr geht aus psychologischer Sicht leider nicht – es gibt kein Mittel nicht traurig zu sein, wenn man sich das Baby gewünscht hat.
Es gibt ein Recht auf Leistungen des Gesundheitssystems. Dazu gehört auch die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit. Das ist allerdings abhängig von der individuellen ärztlichen Einschätzung. Wir haben in Deutschland keine standardisierte Freistellung von der Arbeit.
Wenn eine Ausschabung vorgenommen wird, hat jede Frau* das Recht zu sehen wie das entstehende Baby und die Planzenta(ansätze) aussehen, wenn sie geboren sind. Manche möchten das nicht sehen, aber für andere ist gerade bei einer Ausschabung unter Narkose wichtig zu realisieren, was passiert ist. Wenn man das möchte, muss man danach fragen. Die meisten Menschen haben spontan ein Bauchgefühl, ob sie es eher möchten oder eher nicht.
Außerdem gibt es die Möglichkeit, den Fötus mit der Sternenkinderbestattung beisetzen zu lassen. Leider geht das meist nur in größeren Kliniken, die so eine Sammelbestattung mehrmals im Jahr organisieren.
Sätze wie „Das wird schon“ oder „Einfach nochmal probieren“ sollte man bitte in den mentalen Papierkorb werfen.
Ein gut Tipp ist zu fragen: „Möchtest Du mir erzählen, wie es abgelaufen ist oder hilft es Dir mehr, wenn ich etwas von mir erzähle?“ Manchmal werden Fragen gestellt, die zu dem Zeitpunkt noch überfordernd sind.
Noch ein wichtiger Tipp: Die meisten Betroffenen sind traurig, da helfen keine Ratschläge. Es hilft auch „nur“ zuhören, also Aufmerksamkeit und Zeit zu schenken. Als Abschluss kann man sagen „Danke, dass Du das mit mir geteilt hast.“ und vielleicht eine Umarmung. Sätze wie „Das wird schon.“ oder „Einfach nochmal probieren.“ sollte man bitte in den mentalen Papierkorb werfen.
Leider ist Trauer vor allem unsichtbar. Was bei Trauer hilft, sind Rituale, die unaussprechlichen Gefühlen eine Form geben. Sie machen das Fehlen von etwas oder jemandem real. Für den Verlust einer Schwangerschaft fehlen solche Rituale und ich arbeite viel mit meinen Klient*innen an deren eigenen Ritualen. Eine Erinnerungskiste oder ein Gedenkort in der Natur, den man anderen zeigen kann, können helfen.
In meinem Verständnis heißt Zuversicht nicht „Ich gebe niemals auf.“, sondern eher so etwas wie „Wenn ich mich entscheide, diesen Weg, den ich gerade gehe, nicht mehr zu gehen, dann traue ich mir zu, einen anderen zu finden. Auch wenn ich aktuell keine Ahnung habe, wie der aussehen könnte“. Es geht also viel um Vertrauen in sich selbst und um den Glauben, das Narrativ positiv zu verändern.
Interview: Sabrina Proske
Collage/Foto: „Canva“/Sally Schulze