Söhne feministisch erziehen? Anne Dittman weiß, wie es geht
25. Juni 2025
geschrieben von Lisa van Houtem

Was passiert, wenn eine feministische Frau* einen Sohn bekommt – und sich plötzlich mit einer Männlichkeit konfrontiert sieht, der sie selbst nie etwas Positives abgewinnen konnte? Die Autorin und Journalistin Anne Dittmann stellt in ihrem neuen Buch „Jungs von heute, Männer von morgen“ genau diese Frage – radikal ehrlich, persönlich und gesellschaftspolitisch klug.
Im Interview beschreibt Anne Dittmann den täglichen Spagat zwischen feministischer Haltung und elterlicher Fürsorge, den Druck, der heute auf Jungen lastet – und warum sie glaubt, dass Mütter dringend einen neuen Begriff von Männlichkeit brauchen.
"Es hat mich überfordert und ohnmächtig gemacht, dass ich einen Jungen bekommen sollte."
femtastics: Du beschreibst zu Beginn deines Buchs die ambivalenten Gefühle, die du hattest, als du das biologische, männliche Geschlecht deines Kindes erfahren hast. Was ging dir damals durch den Kopf?
Anne Dittmann: Ich war zunächst enttäuscht über das Geschlecht und habe angefangen zu weinen. Es hat mich überfordert und ohnmächtig gemacht, dass ich einen Jungen bekommen sollte. Bis dahin war ich mir sicher, das Baby in meinem Bauch sei ein Mädchen. Ich hatte eine Vision davon, wie man ein Mädchen feministisch sozialisiert.
Ich habe eine Ost-Vergangenheit und alle Frauen* in meiner Familie waren wunderbare, emanzipierte Vorbilder. Was Jungen betrifft, hatte ich kein positives Männerbild. Lauter Fragen und männliche Klischees gingen mir durch den Kopf - aber keine Korrektur. Dann hatte ich einen sehr speziellen Traum, in dem ich einem Jungen begegnet bin, der mir ein bestimmtes Gefühl gegeben hat. Ab da wusste ich: Wir gehören zusammen. Ich habe meinen Sohn von meinen Männlichkeitsvorstellungen getrennt, für die kann er schließlich nichts.
"Viele Jungen haben gesagt, dass sie Angst davor haben, zum Mann* zu werden."
Wie leicht oder schwer ist dir das gelungen?
Es ist eine andauernde Herausforderung. Mein Sohn sitzt am Tisch, hat Durst und sofort denke ich: ‘Du bist ein Junge, du wirst ein Mann* und Männer* sollen nicht erwarten, dass Frauen* sie bedienen.’ Das passiert super schnell und ich muss dann durchatmen und mich darauf besinnen, dass er ein Kind ist. Ich bringe ihm also bei, wie er sich ein Glas holt und sich Wasser einschenkt. Und manchmal ist es doch auch verständlich, dem eigenen Sohn gerne ein Glas Wasser bringen zu wollen - wir alle fühlen uns manchmal schlapp. Oder bitten darum, weil jemand direkt neben den Gläsern steht.
Ähnlich verhält es sich mit Körperlichkeit: Bei Jungen wird bestimmtes Verhalten als aggressiv gewertet mit dem Reflex, es zu unterbinden. Bei Mädchen ist der Gedanke: Cool, die ist stark und setzt sich durch.
Kinder merken sehr schnell, was sie dürfen und was nicht. Wichtig ist, dass Kinder alles ausleben dürfen. Sie dürfen sich bedienen lassen und auch mal wütend sein. Dürften sie es nicht, würden wir Kinder heranziehen, die nie ihre Wut zeigen dürfen. Das ginge in eine falsche Richtung.
Es heißt, Jungs seien heute verwirrt, finden in keine Rolle rein, hadern mit ihrer Definition von Männlichkeit. Wie und warum leiden Jungs heute an ihrer und an der gesellschaftlichen Männlichkeitsvorstellung?
Ich beziehe mich auf Dr. William Pollack, ein US-Psychologe, der sich seit Jahrzehnten mit Jungen auseinandersetzt und das Projekt “Listening to boys voices” geleitet hat. Er hat mit Jungs darüber gesprochen, wie sie sich fühlen in Bezug auf ihre Mannwerdung. Viele Jungen haben gesagt, dass sie Angst davor haben, zum Mann* zu werden.
"Wir leben immer noch in einer Gesellschaft, in der oft Männer* weiterkommen, die eine Ellenbogenmentalität haben und nicht ein halbes oder ein Jahr in Elternzeit gehen."
Warum haben sie diese Angst?
Sie sehen Männer*, die nur noch arbeiten und keine Freunde mehr haben. Sie sehen ihre Väter und ihre Onkel und haben kein gutes Gefühl dabei. Pollack hat auch herausgefunden, dass diese Jungen sich sehr unter Druck gesetzt fühlen, weil es einerseits diese alten Männlichkeitsvorstellungen und -Normen gibt, die messbar sind. Wir leben immer noch in einer Gesellschaft, in der oft Männer* weiterkommen, die eine Ellenbogenmentalität haben und nicht ein halbes oder ein Jahr in Elternzeit gehen. Letztere werden eher rausgemobbt aus den Unternehmen.
Es sind alte Hierarchien, die in vielen Peer Groups gelten: Cool sein, hart sein - und bloß nicht verletzlich. Auch in Familien werden Jungs immer noch auf eine bestimmte Art und Weise erzogen und bekommen Privilegien, wenn sie der alten Männlichkeitsnorm folgen. Dafür bezahlen sie aber auch und sind zunehmend aufgewühlt. Und sie registrieren natürlich, dass es auch andere Bilder von Männlichkeit gibt.
Wie reagieren sie?
Sie stehen vor einer Weggabelung - und das täglich - und haben immer wieder Momente, in denen sie überlegen, wie sie unterschiedlich reagieren können und bei wem das wie ankommt bzw. bei wem sie sich wie unbeliebt machen könnten. Sie müssen immer wieder entscheiden: Was für ein Junge will ich sein? Sie können es nie allen recht machen und stehen insofern vermehrt unter Druck, die richtige Entscheidung zu treffen und sich von einer Seite abzugrenzen. Dieser Druck bringt sie noch mehr zum Verstummen. Sie verschließen sich, denn sie wissen nicht mehr, wie sie sich zeigen und was sie sagen sollen. Es ist eine schwierige Phase inmitten einer gesellschaftlichen Transformation.
"Jungs nutzen verschiedene Codes, je nachdem, was wo zu mehr Handlungsfähigkeit, Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Selbstwert führt."
Was würde ihnen helfen? Wie können wir einen Safe Space für unsere Söhne kreieren?
Ich habe viel mit Eltern gesprochen, die ihre Söhne feministisch erziehen. Diese Jungs haben verschiedene Codes drauf, verschiedenes Vokabular und verschiedene Arten zu sprechen: diese Wörter verwende ich zu Hause, diese Wörter verwende ich in der Peer Group, diese Wörter verwende ich mit meinen Freund*innen. Das ist schlau, es ist eine Anpassungsmaßnahme. Sie nutzen verschiedene Codes, je nachdem, was wo zu mehr Handlungsfähigkeit, Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Selbstwert führt.
Diese Eltern nun sind sehr am Austarieren: Es gibt einerseits die Peer Group zum Beispiel in der Schule und dann gibt es Freundschaften, beides muss man auseinanderhalten. Es kann vorkommen, dass Jungs in ihren Peer Groups Begriffe zur Abwertung benutzen - zum Beispiel “gay” oder “behindert”. Das lassen wir zu Hause nicht zu, hier können wir zur Reflektion anregen, welche Menschen sich dadurch verletzt fühlen.
Wichtig ist auch, dass unsere Söhne reflektieren und herausfinden, wie wichtig diese Peer Group für sie ist und ob sie sich überhaupt in der Peer Group wohlfühlen. Vielleicht verspüren sie einen Druck, sich auf eine bestimmte Art zu verhalten, weil sie sonst nicht Teil der Gruppe sind. Wir können ihnen helfen, indem wir mit ihnen darüber sprechen und sie erzählen können, wie sie sich damit fühlen. Und wir können darüber sprechen, wie sich Freundschaften anfühlen und wie sie sich gern in einer Freundschaft fühlen möchten. In der dritten Klasse habe ich intensiv mit meinem Sohn darüber gesprochen. Er hat gesagt, dass er sich wertgeschätzt fühlen möchte, geborgen und nicht ausgegrenzt. Nach 1,5 Jahren konnte er für sich festmachen, mit wem er sich wohl fühlt und mit wem nicht - und wer seine richtigen Freunde sind.
"Als Eltern müssen wir ihnen Reflektionsräume bieten, in denen sie sich so zeigen können, wie sie sind. In denen sie weinen und verzweifelt sein und über ihre Gefühle sprechen können."
Du sprichst im Buch von einer gesunden Verletzlichkeit. Wie erreichen wir diese? Wie schaffen wir es, dass Jungen sich mehr öffnen?
Erstmal müssen wir sensibel mit ihnen umgehen und verstehen, dass es teilweise nicht leicht für sie ist. Als Eltern müssen wir ihnen Reflektionsräume bieten, in denen sie sich so zeigen können, wie sie sind. In denen sie weinen und verzweifelt sein und über ihre Gefühle sprechen können. Diese Erfahrung, all das mit jemandem teilen zu können, das Gefühl, akzeptiert zu werden, ist sehr wertvoll.
Sind die Erwartungen der Eltern an Jungen (bzw an Kinder) heute zu hoch?
Feministische Eltern waren bisher noch nicht so weit, dass sie eine feministische Jungserziehung diskutiert haben. Feministische Mütter können Ängste haben, die dazu führen, dass sie sehr große Erwartungen auf ihre Söhne projizieren. Die Söhne geraten unter Druck, grenzen sich unter Umständen ab und die Beziehung kann leiden. Mein Buch soll zusammenbringen und einen gemeinsamen Nenner bieten, um diskutieren zu können.
"Moderne Mütter haben oft einen neuen Begriff von Weiblichkeit, aber keinen neuen Begriff von Männlichkeit."
Man könnte meinen, dass gerade die Generation der Millenial Eltern einen anderen, offeneren Umgang mit den eigenen Kindern hat und mehr auf Augenhöhe kommuniziert. Gleichzeitig neigen insbesondere Jungs zu Konservatismus. Machen moderne Mütter automatisch moderne Söhne? Oder ist das ein Trugschluss?
Es ist kein Automatismus. Moderne Mütter haben oft einen neuen Begriff von Weiblichkeit, aber keinen neuen Begriff von Männlichkeit. In meiner Familie waren die Frauen* emanzipiert und haben alles gewuppt, die Männer* aber waren eher resigniert und haben sich rausgehalten. Wurde von den Söhnen das gleiche erwartet wie von den Töchtern? Nein! Von Töchtern wurde alles erwartet, insbesondere Perfektion. Von den Söhnen wurde keine Fürsorglichkeit erwartet. Mütter müssen eine neue Idee von Männlichkeit in sich tragen und verstehen, wie wichtig Care-Praktiken sind. Das super Individualistische und das Outsourcen von Care-Arbeit ist hier übrigens keine Hilfe. Wir müssen lernen, von Jungen zu erwarten, fürsorglich, verletzlich und zärtlich zu sein. Und, dass sie sich engagieren und Selbstfürsorge betreiben.
"Weiblichkeit wird in dieser Gesellschaft Männlichkeit untergeordnet. Kinder sehen das!"
Im medialen Diskurs wird oft beschworen, dass es mehr moderne männliche Vorbilder braucht. Du hältst dagegen und fragst erstmal, wo die plötzlich alle herkommen sollen und hebst den Einfluss moderner Mütter hervor. Wie ist das denn nun, die Sache mit den Vorbildern?
Bei diesem Thema müssen wir unbedingt umdenken. Ja, Väter müssen sich bitte auch eigenmotiviert weiterbilden und beispielsweise entsprechende Erziehungsliteratur lesen. Ich fühle mich absolut als Vorbild für meinen Sohn, das mag bestimmt daran liegen, dass wir eine enge Bindung haben. Als sein Vater und ich uns getrennt haben, war mein Sohn ein Jahr alt. Ich musste immer Vorbild sein, dieses Wegschicken à la “guck doch mal, was der Papa” macht, gab es nicht. Mir fällt tatsächlich öfters auf, dass feministische Männer* alleinerziehende Mütter hatten. Was ich mich gefragt habe: Lässt sich dieser Ruf nach männlichen Vorbildern wissenschaftlich untermauern?
Welche Antworten hast du gefunden?
Expert*innen aus der Medizin haben spannende und logische Modelle vorgeschlagen. Weiblichkeit wird in dieser Gesellschaft Männlichkeit untergeordnet. Kinder sehen das! Sie beobachten, dass nicht Mama die Entscheidung treffen darf, sondern Papa das letzte Wort hat. Oder dass Papa das Geld hat und Mama nach Taschengeld fragt. Kinder wollen erwachsen werden und eine Handlungsfähigkeit erreichen, entsprechend lehnen sie Weiblichkeit immer mehr ab. Bei Söhnen wird dies auch gefördert.
Die US-Psychoanalytikerin Nancy Chodorow hat beobachtet, dass, wenn die Mütter bemerken, dass ihre Söhne langsam erwachsen werden, wenn also das Kindliche im Altern zwischen 8 und 12 Jahren im Gesicht verschwindet, der Sohn dann zum Mann* werden muss. Denn das Schlimmste, was passieren könnte, wäre, dass der Sohn zu einem Muttersöhnchen wird. Mütter distanzieren sich von ihren Söhnen, sie geben ihnen ab 12 Jahren keinen Gute-Nacht-Kuss mehr und lassen sie weniger an ihrer weiblichen Welt - sei es Gedanken, Probleme, Hobbys - teilhaben. Stattdessen werden sie in die männlichen Sphären geschickt, raus aus der Küche etc. Mütter identifizieren sich viel kürzer mit ihnen als mit ihren Töchtern, die als Mini-Me angesehen werden.
Söhne werden wirklich weggeschickt und das ist eine tiefe Verletzung, die ihnen angetan wird. Mütter sind ja immer noch die Personen, die sich die meiste Zeit um ihre Kinder kümmern und für Söhne ist es nicht nachvollziehbar, warum sie sich plötzlich von ihnen distanzieren. Es ist in dem Sinne auch ein Schutzmechanismus der Mütter, damit ihnen nichts unterstellt wird.
"Wir können unsere Söhne genauso mitnehmen wie unsere Töchter, uns mit ihnen identifizieren und sie in unsere Erfahrungswelten einbinden."
Was rätst du Müttern diesbezüglich?
Dass sie sich diese bewusst machen, sie nicht an sich ranlassen und dem entgegenwirken. Wir können unsere Söhne genauso mitnehmen wie unsere Töchter, uns mit ihnen identifizieren und sie in unsere Erfahrungswelten einbinden. Das heißt auch, sie beispielsweise über unsere Menstruation aufzuklären und ihre Fragen zu beantworten. Wir können ihnen das erklären und sie bitten uns zu helfen, zum Beispiel uns eine Binde zu reichen.
NYU Professor Scott Galloway hat dieses und letztes Jahr bei den “OMR” auf die Gefahr der einsamen jungen Männer* hingewiesen. Diesen seien besonders gefährdet, da sie sich aufgrund KI nur noch in der virtuellen Welt tummeln, dort vielleicht sogar Freund*innen finden – und der realen Welt den Rücken kehren. Er spricht von einer Generation junger Menschen, die zuhause bleiben, nicht wirklich ihr Leben leben und extrem anfällig für Verschwörungstheorien sind. Wo siehst du hier Wege raus aus dieser Krise?
Ich kenne seine Zahlen dazu nicht, habe aber die Entwicklungen der KI Freund*innen mitbekommen. Wir müssen dies als ein Symptom einer Gesellschaft und einer Männlichkeit betrachten, die offenbar einsam macht. Ich verstehe, dass Eltern sich sorgen, dass ihr Sohn der Internetsucht verfallen oder sich im Netz radikalisieren könnte. Tatsächlich werden auch mehr Jungen als Mädchen spielsüchtig. Jungen sind eher so sozialisiert, dass sie eine Brücke brauchen, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Zocken, also in Action sein, ist für sie eine gute Möglichkeit. Sie wollen miteinander in Beziehung kommen, es darf aber nicht ihre männliche Identität verletzen.
Die Social Media Algorithmen wiederum merken sehr schnell, dass ein Junge gerade was sucht, zum Beispiel zu Mental Health. Schnell werden ihm Inhalte eines Coaches mit radikalen Inhalten ausgespielt, das passiert innerhalb weniger Minuten. Diese Sorgen sind also real. Was wir machen können ist einerseits, unsere Söhne schon früh an solche männlichen Narrative heranführen - noch bevor sie Bock auf Social Media haben - und darüber aufklären und sie ihnen nicht panisch vorenthalten. Zum Beispiel: 'Es gibt leider Männer, die glauben Frauen* seien weniger wert als Männer' oder 'Es gibt Coaches die versprechen einfache Lösungen, dass du erfolgreich im Job wirst oder eine Freund*in findest, die hören sich toll an - stimmen aber nicht'. Wir müssen sie sensibilisieren.
"Wir können unsere Söhne früh an männlichen Narrative heranführen - noch bevor sie Bock auf Social Media haben - und darüber aufklären und sie ihnen nicht panisch vorenthalten."
Und wie hältst du es mit dem Thema Computerspiele?
Wir können Jungs das Zocken nicht verbieten, dann machen sie es heimlich. Mein Ansatz ist, zu sehen welche soziale Bedürfnisse sie haben und dafür sorgen, dass die soziale Währung beim Zocken oder im Internet nicht das einzige ist, was ihnen wichtig ist. Im besten Fall machen sie Sport in einem Verein, Spieleabende in der Familie und pflegen mehrere Hobbys. Die Freizeit sollte so attraktiv gestaltet werden, dass sie merken, dass diese auch gut ist. Das dürfen wir Erwachsene unseren Kindern übrigens gern vorleben!
Hier findet ihr Anne Dittmann:
Fotos: Birte Filmer (Porträtbild), "Canva"