Wie verhalte ich mich, wenn sich mein Kind als queer outet? Was löst es in mir aus, wenn mein Kind sich außerhalb der vermeintlichen Norm im Spektrum Geschlecht und Sexualität positioniert? Und wie kann ich ihm die bestmögliche Unterstützung geben – auch wenn ich mich plötzlich mit gemischten Gefühlen wiederfinde?
Die Journalistin und Autorin Verena Carl widmet sich zusammen mit der Sexualwissenschaftlerin Christiane Kolb für ihr neues Buch „Queere Kinder“ dem großen Themenfeld „Queerness bei Kindern- und Jugendlichen“ – und findet aus einer persönlichen Geschichte heraus Antworten. Das Buch soll ein Mutmacher sein, der schambefreit und verständnisvoll versucht, die Identitätsreise der Kinder verständlicher zu machen. Gleichzeitig gibt es Hilfestellung, wie man selbst mit komplexen Gefühlen seinem queeren Kind bestmöglich zur Seite stehen kann, ohne Ablehnung und verletzte Gefühle auf beiden Seiten. Wir haben mit Verena Carl und Christiane Kolb über ihr neues Buch gesprochen und gefragt, wie Eltern ihren Platz in dem Raum der Identitätsfindung ihrer LGBTQAI+-Kinder finden können.
Eines meiner Kinder hat sich selbst im Laufe seines jugendlichen Lebens zunächst als bi [bisexuell] und dann als nicht-binär bzw. genderfluid geoutet.
Verena Carl: Eines meiner Kinder hat sich selbst im Laufe seines jugendlichen Lebens zunächst als bi [bisexuell] und dann als nicht-binär bzw. genderfluid geoutet. Das ist sowohl eine sexuelle Orientierung als auch eine Geschlechtsidentität, die ich von mir so nicht kenne. Ich bin cis und hetero. Als Mutter war ich mit der Situation zunächst ein bisschen überfordert und hilflos. Wie kann ich mein Kind gut unterstützen? Hinzu kamen Fragen wie: Hat das was mit mir zu tun? Hat das was mit unserer Familie zu tun? Ist es vielleicht eine Reaktion auf etwas? Fühlt sie sich nicht genügend gesehen? Stimmt irgendwas nicht? Geht das von alleine wieder vorbei? Letztlich habe ich den Stier bei den Hörnern gepackt und das Buch geschrieben, was ich selber gerne in dieser Situation gelesen hätte.
Dafür hatte ich meine Weggefährtin und Kollegin Christiane an meiner Seite. Aus den vielen Gesprächen mit Menschen meiner mittleren Generation weiß ich, dass sie mit ihren Kindern teilweise ähnliche Themen haben und auf eine ähnliche Weise ratlos sind, wie sie damit umgehen können. Es braucht also Aufklärung, aber auch Empathie für Eltern und für Erziehende, die unsicher sind und Wissenslücken haben.
Christiane: Das Thema sexuelle Orientierung und geschlechtliche Vielfalt wird umfangreich beforscht. An die Grenze stößt die Forschung immer dort, wo es um Gefühle und Wissen zur eigenen Identität geht, vor allem in der psychosexuellen Entwicklung in der Kindheit. Denn die Gewissheit und der Ursprung der Identität, vor allem im Hinblick auf ihre Herkunft lassen sich schwer beweisen. Es ist aber überdeutlich, dass Vielfalt ein Fakt ist und sich früh zeigen kann. Das beweisen Umfragen unter Jugendlichen wie die Coming-Out-Studie des „Deutschen Jugendinstituts“ sowie die Tatsache, dass es diverse Menschen in allen Kulturen gibt. Queere Identität ist ein Fakt, den wir akzeptieren müssen und keine Glaubensfrage.
Es braucht also Aufklärung, aber auch Empathie für Eltern und für Erziehende, die unsicher sind und Wissenslücken haben.
Verena: Es gibt heute ein Bewusstsein für Queerness – eine Sprache, Begrifflichkeiten. Darin erkennen sich Kinder und Jugendliche wieder und haben die Möglichkeit, sich überhaupt klar zu werden, wer sie sind. Wenn sie das nach außen kommunizieren, stoßen sie aber oft auf eine Elterngeneration, die ein rudimentäres Wissen hat.
Zudem verbreiten rechtspopulistische Kreise viele Halbwahrheiten: Informationen, die im Grunde eine Art False Balance erzeugen und verbreiten. Wenige persönliche Fälle (also etwa, wenn ein geringer einstelliger Prozentsatz von Menschen, die eine Transition hatten, im Nachhinein eine geschlechtliche Transition bereut) werden instrumentalisiert, um daran etwas abzuleiten – die Vorstellung, dass es ein Hype ist und wir übertreiben oder unsere Kinder verstümmeln. Auch in Deutschland gibt es Stimmen, die in verschiedenen Schattierungen in diese Richtung argumentieren. Das erzeugt bei Eltern natürlich das Gefühl: „Ich muss das meinem Kind ganz schnell ausreden. Es wird sich ins Unglück stürzen“. Das ist ein ernstzunehmendes Problem.
Rechtspopulistische Kreise verbreiten viele Halbwahrheiten: Informationen, die im Grunde eine Art False Balance erzeugen.
Verena: Bisher hat das Thema in der Welt von mittelalten Erwachsenen wenig Raum eingenommen. Dieses Verständnis würde ich erstmal ausdrücken, statt gleich zu sagen: „Kind, du hast keine Ahnung“. Ansonsten kann man nur versuchen, sich selbst Wissen anzueignen, um mit sachlichen Argumenten und Wissen zu überzeugen. Gleichzeitig muss man akzeptieren, dass es immer Menschen geben wird, bei denen man auf Granit beißt.
Das kann eine Lehrperson sein, Ärzt*innen oder jemand, die*der es gar nicht so genau wissen will und es von vornherein abwertet. Ich gehe erstmal optimistisch davon aus, dass viele Menschen deswegen dichtmachen, weil sie sich überfordert fühlen und dadurch ganz schnell auf Abwehr gehen. Daher glaube ich, dass man mit Verständnis für diese Überforderung in Kombination mit möglichst sachlichen Informationen mit vielen ins Gespräch kommen kann.
Verena: Tatsächlich müssen Lehrkräfte hier sowohl die Jugendlichen mitnehmen als auch zum Teil noch selbst mitgenommen werden. Da ist noch viel zu tun, aber wir erleben die Schulen in unserem städtischen Umfeld als offen und unterstützend. Eine große Aufgabe für Bildungsinstitutionen ist aber, Mobbing in der Schule zu unterbinden. Etwa jede*r zweite queere Jugendliche berichtet von solchen Erfahrungen. Dennoch finden Jugendliche heute durch die größere Offenheit eher Support in der Peergroup und Unterstützung von Seiten der Schule als früher. Man darf nicht vergessen: Schulen haben schon immer mit Jugendlichen auf Identitätssuche zu tun.
Es wäre ideal, wenn Queerness selbstverständlich wäre, eben keine „Herausforderung“.
Christiane: Die Jugendlichen, die sich irgendwann unter dem großen LGBTQAI+-Schirm wiederfinden, haben natürlich einen realistischen Blick auf die Welt. Je nachdem, in welchem Umfeld sie leben, kommen mehr oder weniger begründete Ängste dazu, dass das nicht auf Begeisterung und Gegenliebe stößt. Hier macht es sicherlich einen Unterschied, ob sie sich zum Beispiel in einer liberalen Großstadt-Bubble befinden, wo man zumindest viele positive Role Models hat. Natürlich sind da die Ängste geringer. Es kann aber auch sein, dass ein Kind in einer Umwelt aufwächst, also Elternhaus, Schule, Peergroup, wo homophobe Witze gerissen werden und es ganz genau weiß, wenn ich mich jetzt oute, dann wird es mir nicht gut gehen! Kinder können das gut einschätzen. Die Umgebung und das politische Klima sind also immer entscheidend.
Christiane: Ich finde, dass es nicht generell ein negativ behaftetes Vorurteil ist, sondern einfach die Frage, aus welcher Perspektive aus wir schauen. Es wäre ideal, wenn Queerness selbstverständlich wäre, eben keine „Herausforderung“. Aber aus der Sicht von Menschen, die im heterosexuellen Denken und dazu passendem Selbstwertkonzept, heterosexuellen Rollen und Werturteilen aufgewachsen sind, ist es eben doch eine Herausforderung, über den eigenen Gefühlshorizont hinauszuwachsen. Sie müssen eigene Gewissheiten und Wissen, mit dem sie sich Jahrzehnte selbst definiert haben, über Bord werfen. Das ist nicht leicht. Darum zeigen wir Mitgefühl für Eltern, die sich da schwertun und eröffnen Wege des Verständnisses für Kinder, deren Entwicklung sie gerne besser verstehen möchten.
Übrigens tappe auch ich manchmal in stereotype Denk- und Formulierungsfallen. Aber eine Lernherausforderung ist eben auch dazu da, über sich hinauszuwachsen und sich neues Wissen anzueignen. Wie Verena immer sagt: Wir gewinnen etwas hinzu. Mein bzw. unser Mitgefühl endet aber dort, wo Menschen angesichts einer queeren Person oder nach der Lektüre des Buches dabeibleiben, Identität abzusprechen und abzulehnen.
Es gibt nicht das eine vermeintlich „Normale“.
Christiane: Viele Leute denken, die einzelnen Begrifflichkeiten unter dem LGBTQAI+-Schirm seien wahnsinnig kompliziert. Sie verstehen sie selbst nicht und wissen nicht, wie sie sie ihrem Kind vermitteln sollen. Dabei ist es gar nicht so schwierig, es zu erklären. Letztlich geht es zunächst um das innere Empfinden für das Geschlecht. Das andere ist die Richtung des Begehrens, etwas, das die meisten Jugendlichen eher später für sich spüren. Während trans Kinder teilweise schon sehr früh sehr klar sagen können, dass sie nicht das sind, was in ihrem Ausweis steht. Daher ist es wichtig, die Begriffe zu differenzieren und zu verstehen, dass sich die Dimensionen natürlich überlagern können. Es gibt Menschen, die sowohl trans als auch homosexuell sind. Genauso wie es auch alle anderen Kombinationen gibt. Kreuz und eben – queer.
Wenn man das in unterschiedliche Dimensionen denkt, wird ganz schnell klar, es gibt nicht das eine vermeintlich „Normale“. Im Grunde ergibt sich daraus, dass alle Menschen einen sehr individuellen geschlechtlichen und sexuellen Fingerabdruck haben. Nur gibt es wie bei vielem eine Mehrheit – ein geballtes Cluster von Menschen, die cis sowie hetero sind.
Christiane: Elternsein ist in vieler Hinsicht komplexer geworden, aber das ist eine gute Nachricht. Nicht nur, aber auch. Es gibt mittlerweile die Bestrebung, ein Kind stärker als Individuum zu sehen. Das gilt nicht für alle Familien; das gilt nicht für alle Kinder. Aber insgesamt überlegt man sich heute eher: Was ist das richtige für mein Kind und was könnte ihm*ihr gefallen?
Es geht weniger darum, welchen Weg haben die Geschwister eingeschlagen, was hat in der Familie Tradition. Aber natürlich wird es komplexer, wenn ich nicht von vornherein weiß, was der vorgezeichnete Weg ist, den mein Kind einschlagen wird. Wenn ich aber als Elternteil bereit bin, sensibler zu sein und mir einzugestehen, dass vielleicht nicht alles an dem Idealbild stimmt, was ich mir vorgestellt habe, dann wird es natürlich anspruchsvoller – für beide Elternteile, aber auch den*die Einzelne*n. Die Frage, die sich daraus ergibt, ist: Wie werde ich meinem Kind gerecht?
Verena: Es ist wichtig wahrzunehmen und interessiert nachzufragen. Wie fühlst du dich? Wie kann ich dich unterstützen? Viel Eltern haben diese Vorstellung, wenn es erst mal ausgesprochen ist, wenn es mehr sein könnte als nur ein kleines spielerisches Ausprobieren, dann ist der Weg vorgegeben. Dem ist nicht so. Ich glaube, wenn man den Raum eröffnet und signalisiert, dass „ich liebe dich“ bedingungslos ist und man sein Kind unterstützt, dann sind die Fronten nicht gleich von vornherein festgefahren.
Man sollte vermeiden, das Kind mit den ganzen Ängsten zu überfrachten.
Verena: Eltern sollten sich erlauben einzugestehen, dass möglicherweise eine Form von Enttäuschung vorhanden ist. Sie haben sich bis dato das Leben mit dem Kind und für das Kind anders vorgestellt. Wichtig ist jedoch, dass diese Enttäuschung nicht bei dem Kind landet, sondern sie einen Raum für sich finden, wo diese Gefühle Platz haben. An der Stelle möchte ich Eltern dazu ermutigen, sich genau diesen Raum zu suchen, um für sich selbst einen Umgang mit der neuen Situation zu finden.
Gleichzeitig muss man mit dem Kind keine riesige Coming-out-Party feiern, wenn einem eigentlich zum Heulen zumute ist. Das wäre gegen die eigenen Gefühle. Umgekehrt sollte man jedoch vermeiden, mit den ganzen Ängsten das Kind zu überfrachten: „Ich werde niemals Enkel haben. Du wirst einsam an Aids sterben.“
Verena: Ja. Hier sollte man für sich selbst einen Realitycheck machen und die eigenen Glaubenssätze und Vorstellungen, was zum „guten Leben“ gehört, hinterfragen. Stimmt es, dass die Option auf Enkel völlig vom Tisch ist? Nein. Es gibt viele homosexuelle Familien und umgekehrt viele heterosexuelle Menschen ohne Kinder, die sich nie fortpflanzen.
Häufig kommen Outing-Prozesse in der Pubertät auf. In dieser Lebensphase können Kinder damit leben, wenn Mutter oder Vater sagen „Hör mal, das ist für mich jetzt nicht so ganz einfach zu verstehen oder zu verarbeiten“. Man kann dem Kind sagen: „Ich muss da jetzt auch dran knabbern, aber mach dir keine Sorgen, es liegt an mir!“ Oder: „Ich weiß, für dich war es nicht einfach zu merken, dass du anders bist als die Masse deiner Freund*innen, aber ich bin für dich da.“
Wenn man den emotionalen Kontakt hält, bleibt eine gute Beziehung. Dann kann sich entwickeln, was Raum finden muss.
Christiane: Falls man sich unsicher ist, sollte man sich beraten lassen und zwar unabhängig. Etwa in einer Erziehungsberatungsstelle oder einer Beratungsstelle für queere Themen. Auch ein Elterngespräch in der Schule kann helfen, um Eindrücke abzuklären. Der Verwandten- und Bekanntenkreis ist oft nicht gut geeignet. Es kann sein, dass dort erst recht verunsichernde Vorurteile vorgebracht werden. Und keine Angst: Das wird alles! Wenn man den emotionalen Kontakt hält, bleibt eine gute Beziehung. Dann kann sich entwickeln, was Raum finden muss. Solange man alles dafür tut, dass eine gute Eltern-Kind-Beziehung bleibt – auch über Gefühle hinaus, die man selbst nicht versteht.
Verena: Im Gespräch mit meinem Kind sowie vielen anderen Familien und Jugendlichen habe ich gemerkt, wie stark das Gefühl „Wer bin ich sexuell und geschlechtlich“ ausgeprägt ist. Auch schon mit 12 oder 15. Daher möchte ich an das Vertrauen in diese jungen Menschen appellieren. Daran, dass sie schon wissen, wovon sie reden. Daran, dass sie im Grunde am besten wissen, was sie betrifft, was sie umtreibt und wie sie fühlen. Ich glaube, das ist häufig das, was bei den jüngeren Leuten zu Unglück und Verzweiflung führt. Besonders wenn sie den Eindruck haben: Ich weiß doch genau, was ich bin, wie ich fühle, wie ich liebe, wie ich begehre, wie ich geschlechtlich bin – und muss es ständig beweisen. In solchen Situationen ein bisschen mehr Vertrauen zu entwickeln, war für mich ein wichtiger Lernprozess. Als Eltern macht man leicht den Fehler zu denken, dass man es besser weiß. Nur weil man älter ist und eigene Erfahrungen oder Bilder im Kopf hat.
Illustration: Adobe Stock