Vor zehn Jahren läuft die gebürtige Estin Helis Reimann in Hamburg ihrem Traummann förmlich in die Arme – und stellt fest, dass der gebürtige Italiener ihr Nachbar ist. Die beiden werden ein Paar, ziehen nach Italien und bekommen drei Kinder (heute fünf, drei und zwei Jahre alt). Heute lebt die Familie in Torre Annunziata bei Neapel. Dass die bisher größte Herausforderung für die Familie die Viruserkrankung Covid-19 sein würde, hätten sie – wie so viele Menschen weltweit – niemals gedacht. Helis‘ Verlobter leitet ein privates Medizinzentrum, Helis ist Englischlehrerin in einer Vorschule. Wie das Virus ihren Familienalltag bestimmt, wie die Lage in Süditalien ist und warum wir alle möglichst zu Hause bleiben sollten, erzählt Helis uns am Telefon.
Helis Reimann: Sehr schwierig. Seit einer Woche haben wir Ausgangssperre. Du siehst quasi niemanden auf den Straßen. Höchstens vereinzelt Menschen, die noch arbeiten können oder müssen. Wenn ich allein mit dem Hund rausgehe, habe ich immer dieselbe Jacke und dieselben Schuhe an. Mein Hund bekommt Einmalüberzieher für die Pfoten, die ich nach jedem Gassi Gehen entsorge. Jedes Mal, wenn wir einkaufen gehen, sind wir in Sorge. Die Polizei hält dich mehrfach an und fragt, wohin du willst und bittet dich, nach Hause zu gehen. Mein Freund leitet ein privates Krankenhaus. Wenn er nach Hause kommt, zieht er im Flur alles aus und geht erstmal duschen und desinfiziert sich komplett, bevor er die Kinder begrüßt. Er schläft getrennt von uns im Gästezimmer. Er trägt zu Hause die ganze Zeit eine Maske, weil er viel Kontakt zu Menschen hat.
Wenn mein Freund nach Hause kommt, zieht er im Flur alles aus und geht erstmal duschen und desinfiziert sich komplett, bevor er die Kinder begrüßt.
Das Virus ist wie ein unsichtbarer Feind, der keine Grenzen kennt. Du weißt nie, ob du es vielleicht schon in dir trägst. Mehrere Freunde von uns haben sich mit Covid-19 infiziert. Ein befreundeter Zahnarzt hatte leichte Symptome wie Fieber und Husten, er ist seit längerer Zeit zu Hause. Ein anderer Bekannter ist gestorben und ein weiterer Bekannter befindet sich auf der Intensivstation. Covid-19 hat viele verschiedene Gesichter – der Vergleich mit einer gewöhnlichen Grippe ist schlichtweg falsch. Im Norden Italiens ist das Gesundheitssystem besser aufgestellt. Uns ist vollkommen klar, dass es den Süden schwerer treffen wird, sollte das Virus sich hier ausbreiten. Das Gesundheitssystem hier ist deutlich schlechter aufgestellt.
Covid-19 hat viele verschiedene Gesichter – der Vergleich mit einer gewöhnlichen Grippe ist schlichtweg falsch.
Meine Mutter lebt in Estland, sie kommt alle zwei Monate für drei Wochen zu uns. Ende Dezember ging es mit der Epidemie in China los. Sie ist am 2. Februar zu uns kommen und musste in Frankfurt umsteigen. Da sich damals die Aufmerksamkeit noch auf China konzentrierte, haben wir – wie so viele – die Lage nicht als ernst eingeschätzt. Ich weiß noch, wie ich mich darüber lustig gemacht habe, wie sie mit Schutzmaske angereist ist. Kurz danach ging es in Mailand mit den ersten Infizierten los. Eine Freundin arbeitet als Ärztin in Mailand. Sie weint jeden Abend, denn hunderte Patienten kommen am Tag zu ihr. Sie versucht zu helfen und hat gleichzeitig ihre Kinder zu Hause, die nicht zur Schule können. Es ist eine unfassbar schwierige Situation für sie.
Alle drei gehen in den Kindergarten und ich hatte sofort Sorge, dass andere Eltern oder Kinder sich in Mailand aufhalten und infiziert werden könnten. Ich habe auch Angst um mich – denn wer soll sich um meine drei Kinder kümmern, wenn ich ins Krankenhaus müsste? Ich habe die Kinder seit Mitte Februar nicht mehr in den Kindergarten gebracht.
Meine Kinder machen das alles toll mit. Sie wachen um 6:30 Uhr auf und dann geht’s los! (lacht) Zum Glück haben wir einen Balkon, auf dem sie sich aufhalten können. Für die Vorschule lernen wir natürlich auch. Da Italienisch nicht meine Muttersprache ist, muss ich erstmal alles lesen und mir das ins Estnische übersetzen, dann erkläre ich ihnen den Lerninhalt.
Meine Zweijährige hat gefragt: Wann ist das vorbei? Kann ich das Virus sehen? Ich möchte es sehen!
Wir haben ihnen erklärt, dass es ein Virus gibt, wir gerade nicht raus, nicht einkaufen und auch nicht in unseren Garten können. Das haben sie verstanden und akzeptiert. Nur meine Zweijährige hat gefragt: „Wann ist das vorbei? Kann ich das Virus sehen? Ich möchte es sehen!“ Ein Problem ist, dass unsere eigentliche Wohnung gerade renoviert wird, was jetzt gestoppt wurde, weil die Handwerker nicht mehr arbeiten. Wir sind gerade in einer Ausweichwohnung, die nicht so schön ist. Aber wichtiger ist, dass die Kinder gesund sind und mein Freund noch arbeiten kann. Das ist bei vielen italienischen Familien anders. Hier gibt es auch keine finanzielle Soforthilfe wie in anderen europäischen Ländern.
Es gibt gute und schlechte Seiten an Covid-19. Das Negative ist natürlich, dass die Situation für die ganze Welt schrecklich ist. Ich versuche aber, auch etwas Positives in der Situation zu sehen: Ja, ich darf nicht raus, ich muss drinnen bleiben – ohne Hilfe oder Unterstützung bei der Kinderbetreuung. Aber das bedeutet, dass ich meine Kinder noch mal viel besser kennenlernen kann. Ich liebe es, die ganze Zeit mit ihnen zusammen zu sein und zu sehen, wie sie in verschiedenen Situationen reagieren, wie schnell sie lernen. Ich würde mir wünschen, dass die Situation anders ist – aber sie ist, wie sie ist, und wir haben keine andere Wahl. Ich muss für meine Kinder positiv bleiben.
Genau, und wenn in der ganzen Wohnung jetzt Chaos ist, dann ist das eben so. Es ist sehr, sehr anstrengend und ich war in meinem ganzen Leben noch nie so müde. Aber ich bin gesund und meine Kinder sind gesund, wir haben keine finanziellen Sorgen und werden die nächsten Monate zurechtkommen. Ich beschwere mich nicht.
Die Lage ist angespannt, viele Menschen haben keine festen Arbeitsverträge und wissen nicht, wie es in den nächsten Monaten weitergehen soll, wie ihre Familien das überleben sollen. Es bricht mir das Herz. Ich war es gewohnt, immer lächelnde, laute Italiener zu sehen. Jetzt blickst du nur noch in traurige Gesichter. Noch schlimmer ist die Stille – die macht mich verrückt. Dennoch ist allen bewusst, dass niemand Schuld an der Lage hat und dass wir uns nur schützen können, wenn wir so wenig soziale Kontakte wie möglich haben.
Ich habe mich bereits drei Wochen, bevor die offizielle Ausgangssperre kam, mit meinen Kindern an die Regeln gehalten. Wenn wir draußen waren, dann nur in unserem Schrebergarten. Da gibt es nicht mal Nachbarn. Ich habe schnell gespürt, dass die Entwicklung so rasant ist, dass die Lage entsprechend gefährlich ist. Viele andere sind noch mal zu den Großeltern gefahren oder haben Freund*innen besucht – wir haben das sofort gelassen. Jeder Kontakt birgt ein Risiko in sich. Ich hätte eher FFP2-Masken und Einweghandschuhe besorgen müssen. Jetzt werden wir mindestens bis August ohne Masken oder Handschuhe nirgendwo mehr hinfahren. Wir werden nicht mehr reisen und einfach zu Hause bleiben. Mein Eindruck ist, dass immer noch viele Menschen nicht verstanden haben, wie schlimm das Virus ist. Selbst wenn ein Impfstoff entwickelt wird, dauert es noch Monate, bis der bei uns allen ankommt. Wir müssen begreifen, jede*r von uns hat eine Rolle in diesem schrecklichen Film – wir sind nicht die Zuschauer.
Ganz ehrlich, nein. Ich weiß überhaupt nicht, wie es weitergehen soll. Es wird nicht den Tag X geben, an dem alles vorbei ist. Viele Italiener sind gerade zu Hause und denken immer noch, dass nach Ostern alles vorbei ist und das normale Leben weitergeht. Auf gar keinen Fall wird es so sein.
Es wird nicht den Tag X geben, an dem alles vorbei ist. Viele Italiener sind gerade zu Hause und denken immer noch, dass nach Ostern alles vorbei ist und das normale Leben weitergeht.
Wir wussten sofort, dass wir die Bedrohung ernst nehmen müssen. Wir haben beschlossen, unser Familienleben so ruhig wie möglich weiterzuführen und alle anderen sozialen Kontakte vorerst einzustellen. Für mich ist das Virus eine große Lektion und ich habe gemerkt, was wirklich wichtig ist. Wir werden vorerst nicht mehr reisen, das kommt – solange es keine Impfung gibt – überhaupt nicht für uns in Frage, auch nicht innerhalb Italiens. Aber das ist vollkommen in Ordnung, auch wenn es zwei Jahre dauert. Wir sind hier und machen unser Ding.
Ich bin irritiert, dass das Tagesgeschehen vor ein paar Tagen noch relativ normal war. Die Menschen sind in den Parks unterwegs, gehen shoppen in der Innenstadt, tragen keine Masken und keine Handschuhe. Hier halten alle zwei Meter Abstand, es wird sich nicht zur Begrüßung geküsst, nicht umarmt, keine Berührung, noch nicht mal mehr gesprochen. Das geht an die Substanz, ich habe zum Glück noch meine Kinder, die mich umarmen. Aber viele ältere Menschen hier sind komplett isoliert.
Kaum. Niemand weiß, wann es vorbei ist. Es ist wie ein Krieg gegen einen unsichtbaren Feind. Du kannst nichts tun, du bist komplett blockiert. Du hoffst einfach, dass es niemanden aus deiner Familie und aus dem Freundeskreis trifft. Ich hoffe, dass auch die Deutschen das nun ernst nehmen. Dennoch: Auch wenn ich nur zu Hause bin, nur zum Supermarkt und zurückgehe – ich bin glücklich. Basta.
Ein Kommentar
Es ist interessant, wie die Lage in Italien beurteilt wird. In vielen Aussagen stimme ich überein, da ich auch nicht glaube, dass nach Ostern alles wie vorher ist. Das Virus wird uns länger beschäftigen. Ich hoffe, dass Süditalien nicht so schwer getroffen wird. Eine immens große Gefahr sehe ich auch für Afrika, mir tut es leid für jeden der gestorben ist und wünsche allen das Beste für die Zukunft.