Wie Familie, nur besser: Warum wir neue Formen des Zusammenlebens brauchen
07. Oktober 2025
geschrieben von Julia Allmann

Die eine Person finden, mit der wir eine Liebesbeziehung führen, gemeinsam Kinder großziehen, das Konto teilen und im Alter noch glücklich sind? Das ist ein gesellschaftlich akzeptiertes Bild in vielen Köpfen, das oft nicht aufgeht – und das nicht mehr zeitgemäß ist, findet Dr. Andrea Newerla. Die 47-jährige Soziologin, Paar- und Beziehungsberaterin zeigt in ihrem neuen Buch „Wie Familie, nur besser“, wie das Zusammenleben abseits dieser gesellschaftlichen Norm aussehen kann. Warum wir alle von neuen Perspektiven profitieren können und wie man eine Freundin fragt, ob sie die Kontovollmacht übernimmt? Das verrät Dr. Andrea Newerla im Interview.
"Ich finde es wichtig, dass wir uns die Frage stellen, wie wir zusammenleben wollen. Jetzt und auch, wenn wir älter sind."
femtastics: Wie ist dir die Idee für das Buch gekommen? Sind die Missstände, die du in Familien beobachtet hast, so groß?
Andrea Newerla: Es war eine logische Schlussfolgerung meines ersten Buchs „Das Ende des Romantikdiktats“. In vielen Gesprächen zu dem Buch und auf Lesungen ging es um Familienmodelle und ich wollte mehr darüber nachdenken, welche Möglichkeiten es gibt – jenseits der Norm, die wir alle kennen und die viele Menschen in Richtung der klassischen Kleinfamilie drängt.
Das Romantikdiktat ist Grundlage von den kleinfamiliären Verhältnissen, in denen viele Menschen leben. Sie kommen über eine Verliebtheit und eine Paarsituation in die Situation der Kleinfamilie. Es war naheliegend, darüber nachzudenken, warum es heute hauptsächlich diese Familienform gibt, die sehr nuklear funktioniert.
Du nennst in deinem Buch viele Zahlen, die belegen, dass das Kleinfamilienmodell häufig nicht aufgeht. Jede*r kennt sicher aus dem eigenen Umfeld viele Trennungen. Sollte uns das zu einem Umdenken inspirieren?
Wenn wir Statistiken zu Scheidungen oder zu Gewalt in Familien angucken, ist das Bild erschreckend. Da fragt man sich schon, warum wir eigentlich so sehr an dieser Form des Zusammenlebens festhalten beziehungsweise nichts anderes zulassen. Ich bin gar nicht für die Abschaffung der Kleinfamilie oder Herkunftsfamilie, ich finde es aber wichtig, dass wir uns die Frage stellen, wie wir zusammenleben wollen. Jetzt und auch, wenn wir älter sind.
"Ich finde es interessant, dass wir in romantischen Beziehungen schnell sehr verbindlich sind. Obwohl wir die Person oft noch nicht lange kennen."
Bei Familienmodellen geht es stark um Zusammenhalt – ist das für dich ein zentraler Punkt, wenn es um Formen des Zusammenlebens geht?
Mir geht es im Kern um Verbindlichkeit. In meinen Augen ist Zusammenhalt ein Gefühl und Verbindlichkeit eine Entscheidung. Ich finde es interessant, dass wir in romantischen Beziehungen schnell sehr verbindlich sind. Obwohl wir die Person oft noch nicht lange kennen, machen wir sehr verbindliche Zukunftspläne miteinander, denken vielleicht über gemeinsame Kinder und Altersvorsorge nach.
Bei Freund*innen, die wir teilweise seit 15 oder 20 Jahren kennen, machen wir uns solche Gedanken nicht. Ich frage mich: Warum nicht? Warum spreche ich nicht mit guten Freund*innen über so etwas wie Altersvorsorge? Kann ich mit Menschen, die schon sehr lange in meinem Leben sind und es vermutlich auch bleiben, nicht dieses Thema angehen? Stattdessen planen wir alles mit der Person, mit der wir eine Liebesbeziehung eingehen. Obwohl wir der Realität ins Auge schauen müssen und wissen, dass solche Beziehungen kommen und gehen. Deshalb finde ich, wir können uns für diese Verbindlichkeit bewusst mit Freund*innen entscheiden.
Wie könnte das konkret aussehen?
Es gibt verschiedene Abstufungen, es muss nicht „ganz oder gar nicht“ sein: Ich kann darüber nachdenken, ob ich bestimmte Aspekte aus einer Beziehung auslagere. Zum Beispiel, indem ich sage: „Hör zu, ich möchte diese Liebesbeziehung mit dir führen, aber meine Altersvorsorge oder mein Geld, das teile ich mit einer guten Freundin. Das mache ich schon seit einer Weile so und das möchte ich beibehalten.“
In meinem Buch nenne ich vier Aspekte, die das betreffen kann: Einander lieben, miteinander wohnen, sich umeinander sorgen und sich verantwortlich fühlen und zuletzt das Thema Geld. Das sind Dinge, die für unser Leben wichtig sind, und die wir oft an die Person knüpfen, mit der wir eine Liebesbeziehung führen.
"Bei einer romantischen Liebesbeziehung und in der Kleinfamilie sind viel Vorannahmen im Gepäck, die nie ausgesprochen oder verhandelt wurden."
Wir könnten diese Aspekte aus deiner Sicht trennen. Bedeutet das, ich führe mit einer Person eine Liebesbeziehung, schließe mich aber finanziell mit einer anderen zusammen?
Genau, ich würde das sogar für schlau halten. Gleichzeitig plädiere ich nicht dafür, plötzlich alles auf eine Freundschaftsbeziehung zu verlagern – wenn die wegbricht, wird mir dann auch der Boden unter den Füßen weggerissen. Deshalb finde ich eine Aufteilung sinnvoll: Mit diesen Menschen wohne ich und teile meinen Alltag, mit diesen Menschen führe ich eine Liebesbeziehung auf sehr intimer Ebene, mit diesen Menschen bekomme ich Kinder und mit diesen Menschen teile ich mein Geld.
Natürlich können Ebenen davon verschwimmen und ich bin nicht der Meinung, dass wir diese Verbindlichkeiten auf möglichst viele Ebenen aufteilen müssen. Es muss ein Rahmen bleiben, der realisierbar ist – und wie groß die Zahl an Menschen dabei ist, ist individuell unterschiedlich.
Spannender Gedanke. Dein Buch heißt „Wie Familie, nur besser“ und nicht „nur anders“. Wo liegen die Vorteile aus deiner Sicht?
Das Potenzial von selbstgewählten und aktiv gestalteten Familienstrukturen ist, dass wir nicht von Selbstverständlichkeiten und unausgesprochenen Erwartungshaltungen ausgehen. Bei einer romantischen Liebesbeziehung und in der Kleinfamilie sind viel Vorannahmen im Gepäck, die nie ausgesprochen oder verhandelt wurden. Nach acht Jahren Beziehung stellt man plötzlich fest, dass die andere Person nicht den gleichen Kinderwunsch hat – dann steht man vor einem großen Dilemma. Es nimmt die Last aus Liebesbeziehungen, wenn man klar abspricht: Ich muss für dich nicht kochen oder putzen, ich muss mich nicht allein um die Kinderbetreuung kümmern, weil du der besserverdienende Part bist und ich als weiblich sozialisierte Person einfach Pech gehabt habe.
Fernab von einer rosaroten Brille kann ich viel besser in Verhandlungen gehen und sagen: Wir haben ein Thema zu besprechen, das müssen wir organisieren, wie bekommen wir das hin? Wir können auch viele Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten aus dem Weg räumen.
Hast du ein Beispiel?
Nehmen wir zum Beispiel eine Co-Parenting-Situation mit drei Freundinnen: Hier wird aktiv und bewusst besprochen, wer sich um welche Aufgaben kümmert. Ich habe einige Beispiele in meinem Buch, bei denen das gut funktioniert, auch wenn die betroffenen Personen meist sagen: In Gänze lassen sich Konflikte und Ungerechtigkeiten nicht rausnehmen, zum Beispiel gibt es oft große Unterschiede zwischen gebärender und nicht-gebärender Person. Aber wir können versuchen, bewusst entgegenzusteuern und unser Miteinander viel aktiver gestalten.
Das klingt plausibel. Woran liegt es aus deiner Sicht, dass sich trotzdem noch so viele Menschen auf die klassische Liebesbeziehung und Gründung der Kleinfamilie einlassen?
Es ist dieses Glücksversprechen und die Sehnsucht danach, dass es bei einem selbst klappt. Es gibt auch keine anderen Erzählungen in unserer Gesellschaft. Alles, was wir an schönen Geschichten zu hören bekommen, hat mit dem Glück in der romantischen Liebesbeziehung zu tun. Am Ende erwartet uns der goldene Herbst mit dieser einen Person und den genießen wir bis zum Lebensende. Aber das ist oft einfach nicht die Realität.
Trotzdem kann ich mir seit Jahren den Mund fusselig reden – es wird sich nicht so schnell ändern. Ich selbst bin selbst in dieser Gesellschaft sozialisiert und merke, wie das auch mich beeinflusst. Ich muss selbst immer wieder gegensteuern, wenn ich meine Beziehungen aktiv und bewusst gestalten will. Wenn ich Verbindlichkeiten erschaffen will, die abseits dieses Konstrukts sind.
"Es kann also eine Chance sein, bestimmte Bereiche aus der Liebesbeziehung herauszunehmen, ohne dass sie eine Gefahr für die Beziehung sind."
Und wie könnte es konkret aussehen, wenn man sich als Freund*innen verbindlich zusammenschließt?
Es kann sein, dass Menschen entscheiden, dass sie zusammenziehen wollen. Sie leben beide in Single-Wohnungen, haben ein gewisses Alter erreicht und wollen nun bewusster aufeinander gucken und füreinander sorgen. Eine andere Option ist, die geteilte Verantwortung rechtlich abzusichern. Eine recht niedrigschwellige Möglichkeit stellt eine Vorsorgevollmacht dar, man findet dafür online verschiedene Formulare, für die man nicht mal einen Notar oder eine Notarin braucht. Man kann auch gemeinsam zur Bank gehen und eine Konto-Vollmacht erteilen – wenn man möchte, dass sich die Person um das Geld kümmert, falls einem etwas passiert. Manche Menschen unterschreiben auch einen kleinen symbolischen Vertrag miteinander, wenn sie beschließen, füreinander zu sorgen. Das kann ein kleiner feierlicher Akt sein, um die Beziehung zu würdigen.
Du hast gerade von Singles gesprochen. Wie sieht es aus, wenn ich in einer Paarbeziehung lebe, aber lieber möchte, dass eine Freundin, die ich bereits seit 30 Jahren kenne, eine Vollmacht über mein Konto bekommt. Wie kommuniziere ich das?
Da kommt natürlich das Romantikdiktat wieder ins Spiel. Wir sind gesellschaftlich so sozialisiert, dass alles in Liebesbeziehungen stattzufinden hat. Dass in der Kleinfamilie alle Bedürfnisse erfüllt werden. Deshalb ist das natürlich ein heikles Thema, aber ich würde raten, frühzeitig darüber zu reden und hier low-level zu starten. Es gibt spannende Tools aus der Ecke der Beziehungsanarchie, in denen man zum Beispiel alle Lebensbereiche gemeinsam anschaut und darüber spricht, wie wir welche Aufgaben aufteilen und umverteilen können. Die größte Belastung einer Liebesbeziehung und einer Kleinfamilie ist aus meiner Sicht heute die Überfrachtung – das wird auf Dauer nicht gut gehen. Wir haben das Bedürfnis nach Zusammenhalt und Vergemeinschaftung, gleichzeitig wollen wir ein Individuum sein und eigene Bereiche außerhalb der Partnerschaft haben.
Es kann also eine Chance sein, bestimmte Bereiche aus der Liebesbeziehung herauszunehmen, ohne dass sie eine Gefahr für die Beziehung sind. Aus meiner Sicht kann das eher ein Rettungsanker sein, weil es den Beteiligten mehr Freiraum gibt. Gleichzeitig ist das eine Übungsfläche, um ins Gespräch zu gehen, zu verhandeln, über Ungerechtigkeiten zu sprechen. Für mich steckt hier großes basisdemokratisches Potenzial, wenn wir uns darin üben, solche Gespräche zu führen.
"Die Frage, wie wir gesellschaftlich mit älteren Menschen umgehen und wie sie eingebunden sind, die muss uns alle mehr beschäftigen. Sie rast gesellschaftlich auf uns zu."
Du stellst in deinem Buch verschiedene Menschen vor, die es anders machen. Sie wohnen in Hausprojekten, setzen auf Co-Elternschaft mit mehreren Personen, suchen Erfüllung in Freundschaften und als Tante statt in der klassischen Kleinfamilie. War es schwer, diese Menschen zu finden oder gibt es viele solcher Modelle, wenn man den Blick dafür öffnet?
Historisch gesehen ist das meiste nicht neu, deshalb war es auch nicht schwer, diese Personen zu finden. Es gibt vor allem im Zusammenleben mit Kindern heute verschiedene Optionen, Co-Parenting wird immer beliebter, auch Solomutterschaft findet Verbreitung. Was für mich schwierig war: Familienmodelle finden, in denen sich Menschen um selbst gewählte sogenannte Omas und Opas kümmern.
Die gibt es nicht oft?
Ich habe leider niemanden gefunden, der sich bereit erklärt hat, darüber zu reden. Es muss gar nicht die körperliche Pflege sein, auch das Umsorgen von älteren Menschen spielt eine große Rolle. Die Frage, wie wir gesellschaftlich mit älteren Menschen umgehen und wie sie eingebunden sind, die muss uns alle mehr beschäftigen. Sie rast gesellschaftlich auf uns zu.
Gibt es deiner Erfahrung nach noch viele Mehrgenerationenhäuser mit der Herkunftsfamilie?
Es gibt sie, aber Mobilität und berufliche Veränderungen führen zu einer starken Differenzierung unserer Gesellschaft. Es ist unwahrscheinlich, dass Menschen an dem Ort bleiben, an dem sie aufgewachsen sind. Deshalb interessieren mich Konzepte, die unabhängig von Herkunftsfamilien sind, stärker. Es braucht Szenarien, in denen jemand sagt: Ich habe in der Nachbarschaft eine ältere Person, die ist total nett, aber sie hat niemanden, der*die sich um sie kümmert. Und man braucht keinen Pflegedienst, um eine Glühbirne auszuwechseln, um etwas einzukaufen oder einfach ins Gespräch zu gehen. Vereinsamung im Alter ist ein großes Thema – und hier müssen wir neue Modelle finden.
"Ich verstehe nicht, was Menschen fürchten, was ihnen weggenommen wird, wenn wir eine Alternative zur Ehe auf die Beine stellen."
Du hast mehrfach die Gesellschaft angesprochen, die das Bild der klassischen Kleinfamilie prägt und fördert. Was wäre aus deiner Sicht wünschenswert, damit wir dieses Bild aufbrechen können – auch aus politischer Sicht?
Die Ampel-Koalition hatte anfangs die Einführung einer Verantwortungsgemeinschaft geplant, die als Pendant zur Ehe mit rechtlichen und steuerrechtlichen Bevorteilungen für bis zu sechs Personen gedacht war. Davon wurde dann vieles reduziert und dann ist die Regierung zerbrochen – aber das war ein guter Ansatz. Gesellschaftlich gesehen weiß ich nicht, woher diese Angst kommt. Ich verstehe nicht, was Menschen fürchten, was ihnen weggenommen wird, wenn wir eine Alternative zur Ehe auf die Beine stellen. Wenn wir rechtlich absichern, dass Menschen füreinander Verantwortung übernehmen können, auch wenn sie keine Liebesbeziehung führen. Rechtlich gesehen darf es laut Grundgesetz nichts geben, das bessergestellt ist als die Ehe – aber eine Gleichstellung wäre kein Problem.
Auch bei der Mehrelternschaft gibt es teilweise riesige Vorbehalte, dabei halte ich es für sehr sinnvoll, wenn man die Verantwortlichkeiten auf mehr als zwei Personen aufteilt. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Vaterschaft automatisch der Person zugeschrieben wird, die mit der Mutter des Babys verheiratet ist – auch wenn die Person biologisch-genetisch nicht der Vater ist. Bei verheirateten Frauen* hingegen ist ein aufwändiger Adoptionsprozess nötig, um als Elternteil anerkannt zu werden. Das ist eine patriarchalische Bevorzugung und ein Relikt aus einer Zeit, in der viele von uns nicht mehr leben wollen.
Wenn wir uns auf die Politik hier nicht verlassen wollen: Was können wir Einzelne tun, wenn wir ein Familienmodell abseits der klassischen Kleinfamilie leben wollen? Wie mutig muss man sein, um dieses Leben für sich zu erschaffen?
Ich finde interessant, dass in dem Kontext oft von Mut die Rede ist. Die Gespräche für mein Buch haben mich gelehrt, dass die Personen sich gar nicht besonders mutig finden, für sie ist es eine Selbstverständlichkeit, so zu leben. Man muss eine Entscheidung treffen: Ich entscheide mich für diese Art des Lebens, das ziehe ich durch – das ist die Grundvoraussetzung für Verbindlichkeit.
Ich kann verstehen, dass es für Menschen, die gerade in Kleinfamilien mit kleinen Kindern stecken, schwierig ist, aus dieser Situation heraus ein anderes Zusammenleben zu gestalten. Schon die Organisation der Kleinfamilie ist völlig überfordernd, aber hier könnten Verbindlichkeiten mit anderen Menschen ja total hilfreich sein. Man kann eine Tante- oder Onkelrolle bewusst ausbauen, auch mit Freund*innen, die nicht mit dem Kind verwandt sind. Hier braucht man auf beiden Seiten die Verbindlichkeit: Die Eltern lassen eine weitere Person in ihre Familie hinein und gewähren auch ein gewisses Mitspracherecht – und es braucht die Verbindlichkeit der Tante-Onkel-Seite, dass man sich wirklich mit um das Kind oder die Kinder kümmert und Verantwortung übernimmt. Wenn man das einmal anspricht und gut abspricht, ist das gewinnbringend für beide Seiten. Dafür braucht man nicht viel Mut, sondern einfach ein offenes Gespräch.
Hier findet ihr Dr. Andrea Newerla:
Foto/Collage: Sven Serkis, "Canva"