Christina Diehl: „Wie ich die innere Leere nach meinen Fehlgeburten wieder füllen konnte.“

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19. Oktober 2021

Als Christina Diehl mit Mitte 30 bereit für eine Familie ist, wird sie sofort schwanger. Voller Vorfreude und Zuversicht startet sie gemeinsam mit ihrem Partner in ein neues Leben – bis zur niederschmetternden Diagnose der Frauenärztin: Das Herz des Babys schlägt nicht mehr. Sie fällt in ein Loch, verliert aber nicht den Mut. Doch nach fünf weiteren Fehlgeburten findet sie aus der Leere kaum mehr heraus. Der Druck der biologischen Uhr, Schuld und Schamgefühle überrollen sie und sie sucht bei sich und ihrem Körper nach der Ursache für ihre Fehlgeburten.

Als Christina Diehl erfährt, dass sie mit diesem Schicksal nicht alleine ist und es so viele Frauen gibt, die mit ihrem Schmerz zurückgelassen werden, beschließt sie, Betroffenen eine Stimme zu geben. In ihrem neuen Buch „Netter Versuch, Schicksal“ erzählt sie, wie es ihr gelungen ist, mit dem Verlust umzugehen und wieder einen neuen Sinn im Leben zu finden. „Ich kämpfe für die Enttabuisierung von Fehlgeburten und ungewollter Kinderlosigkeit und möchte vor allem Frauen darin bestärken sich zu diesem Themen zu öffnen. Gleichgesinnte sollen sich dadurch weniger alleine fühlen und ihren Wert nicht durch die Erfüllung eines Kinderwunsches definieren müssen“, sagt die 47-Jährige im Gespräch mit femtastics. Der folgende Textauszug stammt auf dem Kapitel „Guter Hoffnung kann ich trotzdem sein“.

Wird das Leben ohne Kind auch später für mich okay sein? Oder werde ich irgendwann nochmal von einer Welle des Bedauerns überrollt?

Mir geht es gut. Immer noch. Dabei liegt meine letzte Schwangerschaft schon über ein Jahr zurück. Diese Tatsache hätte mich vor einer Weile noch in den Wahnsinn getrieben. Aber diesmal fühle ich mich gefestigt. Und entspannt. Zum Glück. Schließlich hätte es auch anders kommen können.

Natürlich habe ich auch schlechte Tage. An denen ich mich frage, warum ausgerechnet uns das passieren musste. Sechs Fehlgeburten innerhalb von fünfeinhalb Jahren. Warum ich? Warum wir? Das sind die Momente, in denen der Zweifel manchmal noch zaghaft bei mir anklopft. Wird das Leben ohne Kind auch später für mich okay sein? Oder werde ich irgendwann nochmal von einer Welle des Bedauerns überrollt?

Wenn sich diese Fragen leise in meinen Kopf einschleichen, erinnere ich mich an meinen Entschluss: Ich will auf keinen Fall noch einmal schwanger werden! Deshalb verhüte ich seit ein paar Monaten auch wieder. Aber diese Tatsache allein schützt mich nicht vor diesen kleinen emotionalen Rückfällen. Um die zu überstehen, habe ich deshalb eine Art Abkommen mit mir selbst geschlossen: Sobald mich die Trauer wieder einholt, registriere ich sie einfach nur. Ohne zu handeln. Ich stelle mir in solchen Momenten einen Lehrer vor, der mir eine unlösbare Aufgabe gibt. Tausendmal hätte ich schon versucht, sie zu bestehen, und bin dafür alle erdenklichen Lösungswege durchgegangen. Und bin am Ende doch nicht auf das gewünschte Ergebnis gekommen. Anstatt also ein weiteres Mal über diese Challenge zu grübeln und daran zu verzweifeln, gehe ich auf den Schulhof und geselle mich zu meinen Klassenkameraden. Und vergesse vor lauter Ablenkung den Test, den der Lehrer mir auf den Tisch gelegt hat. Ist das nicht cool? So eine Arbeitsverweigerung hätte ich mir während meiner Schulzeit mal erlauben sollen. In meiner Fantasie kann ich mich jedenfalls einfach umdrehen und gehen. Ich pfeife auf die Aufgabe – ich haue ab!

Dieses Gedankenspiel funktioniert. Auch in meiner Realität fliegt auf diese Weise jede schwierige Phase an mir vorbei. Ähnlich wie bei einer Meditation, in der ich mein Kopfkino ausschließlich beobachte und anschließend vorüberziehen lasse. So klopft der nächste, richtig gute Tag irgendwann von selbst wieder bei mir an.

Genau wie der heutige, an dem es absolut nichts zu meckern gibt. Markus und ich sitzen auf dem Balkon und chillen in der Sonne. Es ist Samstag, wir haben keine weiteren Pläne und genießen unser ungetrübtes Nichtstun. Nach dem späten Frühstück gönne ich mir gerade den zweiten Milchkaffee und scrolle auf der Suche nach ein paar lesenswerten News durch mein Handy.

»Diese Frau hält Seehofer den Rücken frei« steht als Überschrift über dem Artikel, den mir Facebook auf meine Chronik spielt. Darunter ein Bild mit dem passenden Paar auf irgendeinem roten Teppich. Ich fühle mich nicht animiert, den Text weiterzulesen, bleibe aber trotzdem an der Headline hängen. Schon klar, was sie aussagen soll, aber warum nutzt die Presse diese Redewendung eigentlich immer nur in eine Richtung? Das weibliche Geschlecht, das dem Typen für seine steile Karriere den Alltagskram vom Latz hält. Wie veraltet ist diese Kackscheiße eigentlich? Als würde das umgekehrt nicht existieren. Wo ist die Schlagzeile über die Politikerin, die auf einem Chefsessel Platz nimmt und sich nach einem anstrengenden Tag von ihrem Mann bekochen lässt? Ja, wow, das gibt es tatsächlich: Willkommen in dieser schon seit vielen Jahren existierenden Welt!

Aber einseitige Darstellungen wie diese gehen mir nicht erst seit gestern auf den Sack. Sie fallen mir nur immer häufiger auf, und zwar seit der Therapiesitzung, in der mir Frau Friesenberg geraten hat, weniger Wert auf die Meinungen anderer zu legen. Das ganze Netz überschwemmt mich seither mit mediengemachten Normen à la »So ist es richtig, so war es schon immer, das sagen alle und der Rest ist leider falsch«. Damit werden ähnlich verstaubte Urteilskeulen aus der Schublade geholt wie diejenige, die mir seit Jahren so zu schaffen macht: »Sei ein Vorbild, gründe eine Familie. Damit du als Kinderlose nicht sinnsuchend zurückbleibst.«

Warum heißt es eigentlich Plan B? Ist der Plan A dann automatisch das Leben mit Kind?

Jo, ist klar. Diesen Quatsch lese ich mir noch nicht mal mehr durch. Weil ich es satthabe, mich länger von angeblichen gesellschaftlichen Regeln abstempeln zu lassen. Was soll das denn auch? Als würden Frauen wie ich nicht schon genug unter dem steinigen Kinderwunschweg leiden! Muss ich mich dann noch von diesem abgeschmackten Kram runterziehen lassen? Weil die Medien nur von Bilderbuchfamilien berichten und dabei die schwierigen Fälle ignorieren? Könnt ihr vergessen, nicht mit mir! Das mit der Familie haben Markus und ich schließlich versucht, hat aber nicht geklappt. Und deshalb machen wir ab sofort unser eigenes Ding.

»Warum heißt es eigentlich Plan B?«, frage ich Markus, als ich das Handy zur Seite lege. »Ist der Plan A dann automatisch das Leben mit Kind?« Auch sowas. Das ewige Gerede vom Plan B, sobald es mit dem Kinderkriegen nicht geklappt hat. Kein Wunder, dass sich das nach Trostpreis anhört.

»Gute Frage«, antwortet der und schaut von seiner Sportzeitschrift hoch. »Na ja, vielleicht, weil das kinderlose Leben zunächst tatsächlich eine Alternative ist, wenn man sich wie wir mal Kids gewünscht hat.« »Ja, sicher. Aber ist es deshalb auch immer die zweite Wahl? Für jeden kann der Plan A doch etwas anderes bedeuten. Schließlich hat doch jeder seine eigene Definition vom Glück, oder?«

»Absolut richtig. Deshalb kümmern wir uns jetzt um unseres«, grinst er, legt seine Zeitschrift zur Seite und greift zum Laptop, das neben seinem Liegestuhl liegt. »Gut, dass du mich daran erinnerst. Da recherchiere ich doch direkt noch ein paar Reiseetappen für uns!«

Recht hat er, grandioser Plan! Markus und ich werden nämlich für eine ganze Weile Urlaub machen. Für drei Monate, um genau zu sein. In dieser Zeit wollen wir durch Australien und Südostasien reisen. Und uns damit den Traum einer Auszeit erfüllen. Die Idee dazu schwirrt schon länger in unseren Köpfen herum. Eigentlich von dem Moment an, als wir unseren Kinderwunsch endgültig auf Eis gelegt haben. Aber so richtig fix ist unser Vorhaben erst seit vier Wochen, nachdem unsere Arbeitgeber unseren kurzen Sabbaticals zugestimmt haben. Seitdem steht fest, dass wir den kommenden Winter in der Sonne verbringen werden. Bei dem Gedanken daran rauscht mir die Aufregung wie eine Welle aus Endorphinen durch den Körper. In acht Wochen soll es losgehen, und ich könnte jetzt schon ausrasten vor Freude!

»Wahnsinn, dass Sie noch zusammen sind«, haben wir oft in Arztpraxen zu hören bekommen, sobald wir von unserer Geschichte erzählt haben. »Andere Paare können diesem immensen Druck nicht standhalten.«

Markus fängt an zu tippen, während ich ihn noch eine Weile mustere. Er gefällt mir mit seinem dunkelblauen Shirt und der Sonnenbrille auf der Nase. Zufrieden liest er sich durch die Traveltipps irgendwelcher Webseiten und wirkt, als ob ihn gerade nichts aus der Ruhe bringen könnte. Und das ist ja auch meistens so: Für mich ist er noch immer der unerschütterliche Fels in der Brandung und ich bin dankbar, dass ich ihn habe. Zusammen haben wir die schweren Jahre echt gut gemeistert.

Ich fühle mit jeder einzelnen mit. Weil ich weiß, wie sehr der Schmerz lähmen kann.


»Wahnsinn, dass Sie noch zusammen sind«, haben wir oft in Arztpraxen zu hören bekommen, sobald wir von unserer Geschichte erzählt haben. »Andere Paare können diesem immensen Druck nicht standhalten.«

Das glaube ich sofort, habe ich jedes Mal gedacht und war gleichzeitig stolz auf uns. Natürlich war das alles nicht leicht. Diese ewig lange Zeit, in der vor allem ich in meiner Trauer gefangen war. Das hat uns beide oft an unsere Grenzen gebracht. Aber wir haben zusammengehalten. Und konnten schließlich gemeinsam loslassen. Vielleicht war das unser Glück im Unglück. Weil das sicher nicht selbstverständlich ist. Sobald nämlich einer von beiden nicht aufgeben kann, wird dieser Weg sicher zum noch größeren Albtraum. Weil er genau deshalb nicht selten in einer Trennung endet. Was für eine Horrorvorstellung, wenn in dieser Phase voller Verzweiflung auch noch der Partner Schluss macht. Meine Güte. Wer weiß, was andere über meine Erlebnisse hinaus noch zu erleiden haben. Ich fühle mit jeder einzelnen mit. Weil ich weiß, wie sehr der Schmerz lähmen kann. Da würde man Betroffenen, die gerade noch knietief in der Scheiße stecken und kein Licht am Ende des Tunnels sehen, doch am liebsten unter die Arme greifen. Und ihnen zurufen: »Ihr könnt es schaffen, gebt nicht auf! Ich dachte auch lange Zeit, dass ich das in keinem Fall durchstehen würde, aber wie ihr seht: Ich lebe noch!«


»Sag mal, was glaubst du?«, frage ich Markus, um ihn an meiner Eingebung teilhaben zu lassen. »Kann es sein, dass meine Geschichte anderen Hoffnung schenken könnte? Weil sie zeigt, dass der Weg aus einer richtig heftigen Krise gelingen kann?«

»Hm, ja«, antwortet der und schaut kurz vom Bildschirm hoch. »Das kann durchaus sein und ist gar keine schlechte Idee. So hätten Betroffene ein positives Beispiel vor Augen, sobald der Kinderwunsch zum Problem wird. Und daran könnten sie sich vielleicht hochziehen. Das hätte dir doch sicher auch geholfen, oder?«

»Absolut! Zu hundert Prozent! Schon in dem Moment, wo sich mir jemand mit seinem Schicksal offenbart hätte. Dann wäre ich mir nicht so unendlich alleine vorgekommen und ich hätte mich vielleicht schneller damit abfinden können.« Ja, da bin ich mir sogar ganz sicher: Ein positives Beispiel hätte mich aufgebaut! Und genau das hat mir gefehlt, als mich die Zweifel über meine unvorhersehbare Zukunft in Dauerschleife gequält haben. Woher hätte ich wissen sollen, dass am Ende alles gut sein würde? Und nicht nur Schmach und Elend auf mich warten würden? Ohne einen menschlichen Rettungsanker konnte ich lediglich blind darauf hoffen, irgendwann wieder auf die Füße zu kommen.


Aber vielleicht könnte ich doch für andere genau solch ein Rettungsanker sein, oder? Indem ich von meiner Rückkehr ins sorgenfreie Leben erzähle und sie auffangen würde, sobald sie nicht mehr weiterwüssten. Irgendwie gefällt mir diese Vorstellung immer besser: meine Story als Mutmacher! Das gäbe ihr eine Art Sinn. Und mir das Gefühl, sie nicht umsonst durchlitten zu haben.

Christina Diehl arbeitet als Autorin und Speakerin. Ihr neues Buch „Netter Versuch, Schicksal“ ist im mvg Verlag erschienen.

Hier findet ihr Christina Diehl

 

Buch „Netter Versuch, Schicksal“


Fotos: privat

4 Kommentare

  • Sabine sagt:

    Was soll ich sagen. Ich bin freiwillig kinderlos. Meine Mutter hat ihre Mutterrolle gehasst und ich wollte nie so enden. Jetzt wo ich meiner Stieftochter mit ihrem Einjährigen zusehe, denke ich manchmal “ Scheisse, das hätte ich nicht geschafft.“ Vermutlich hätte ich es geschafft. Es wäre halt ein anderes Leben gewesen. Ich war viel unterwegs, geschäftlich und privat, habe Karriere gemacht, habe tonnenweise Freundinnen (mit und ohne) und hatte ein geiles Leben. Und mir fehlt nichts. Sorry. Ach ja, und eine Stieftochter und einen Enkel habe ich auch. Warum sollte mir was fehlen? Und wenn mir doch was fehlt, dann weiss ich es nicht. Ich habe es ja nie gehabt, also kann ich es auch nicht vermissen.

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