Wie wir mit fiktiven Utopien unsere Zukunft gestalten können – Zukunftsforscherin Aileen Moeck

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22. April 2021

Aileen Moeck glaubt fest daran, dass wir unsere Zukunft aktiv selbst gestalten müssen, anstatt sie passiv über uns ergehen zu lassen. Die 30-jährige Berlinerin ist Zukunftsforscherin und bringt, neben ihrem politischen Engagement im Bereich Bildung, mit ihrem Projekt „Die Zukunftsbauer“ Zukunftsdenken an Schulen. Im Gespräch in ihrem Büro in Prenzlauer Berg in Berlin verrät uns Aileen, wie in der Zukunftsforschung gearbeitet wird, warum fiktive Utopien dafür wichtig sind und wie sich die Corona-Krise auf unsere Zukunft auswirken kann.

femtastics: Du bist Zukunftsforscherin. Was kann man sich darunter vorstellen?

Aileen Moeck: Ich hatte das Glück, dass ich Zukunftsforschung im Master an der FU Berlin studieren durfte. Mittlerweile gibt es verschiedene Ausrichtungen. Die einen beschäftigen sich mit der Wissenschaft der Zukunft, die anderen eher mit der Philosophie, wieder andere verstehen es mehr im Bereich der Trend- und Strategieforschung. Für mich ist Zukunftsforschung das Grundwissen, um Zukunft zu gestalten. Deswegen heißen wir auch „Die Zukunftsbauer“, weil es bei uns darum geht, anhand von systemischem, aber auch visionärem und kritischem Denken herauszufinden, welche Auswirkungen in der Zukunft unser Handeln hat. Gleichzeitig wollen wir verdeutlichen, dass wir Dinge heute gestalten können, die wir dann morgen in der Realität sehen.

Was sind die wichtigsten Frage- und Problemstellungen in Bezug auf unsere Zukunft, mit denen du dich befasst?

Zum einen: Was ist Zukunft überhaupt? Das ist etwas total Abstraktes und eigentlich gar nicht greifbar. Ist es etwas Zeitliches? Ist es ein Raum oder ein Handlungsrahmen? Wir arbeiten viel daran, Menschen zu zeigen, dass wir Zukunft viel zu oft auf einen Plan oder ein Ereignis in der Zukunft reduzieren und gar nicht verstehen, dass dahinter auch eine gewisse Komplexität steht. Unsicherheiten wie Corona zum Beispiel. Das ist ein Zukunftsbeben, ein Ereignis, das plötzlich passiert ist, ganz viel Impact hat und uns jetzt in eine neue Richtung schiebt. Das konnte man nicht wirklich ahnen, auch der oder die beste Trendforscher*in nicht. Es geht vielmehr darum, wie wir mit solchen Unsicherheiten umgehen können, als zu sagen, dass wir die Zukunft planen. Das ist immer der erste Mythos, mit dem wir aufräumen. Wir sprechen deswegen auch von „Zukünften“. Weil das, was wir hier in unserer Kultur als Zukunft verstehen, nicht das sein muss, was man beispielsweise in Chile unter Zukunft versteht. Oder auch, was deine und meine Großeltern als Zukunft verstehen.

Wir beschäftigen uns auch viel damit, dass wir im menschengemachten Zeitalter leben, im Anthropozän. Das ist der Begriff dafür, dass wir Menschen ein Erdzeitalter geschaffen haben, in dem man auf dem Planeten erkennt, dass wir da waren – und wir unseren Planeten vor allem in den letzten 200 Jahren durch den technischen Fortschritt und unseren Konsum auch negativ verändert haben. Auch Ereignisse wie Corona lassen sich darauf zurückführen, dass wir die Ökologie schon die letzten 100 Jahre nicht wertgeschätzt haben. Also geht es ganz stark um die Frage: Wie können wir ein gutes Leben im Anthropozän gestalten? Was gehört dazu und wie sind Themen miteinander verbunden? Müssen wir nicht Umwelt, Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft immer im Einklang denken? Das wird einfach zu selten gemacht oder bekommt zu wenig Aufmerksamkeit.

Auch Ereignisse wie Corona lassen sich darauf zurückführen, dass wir die Ökologie schon die letzten 100 Jahre nicht wertgeschätzt haben

Als Drittes steht der einzelne Mensch im Fokus. Wie kann jede*r für sich einen Beitrag zur Zukunft leisten und was kann das sein? Wir sagen immer, dass man mit der eigenen Arbeit, mit der man viel Zeit verbringt – hoffentlich auch gerne und mit viel Energie – ein tolles Instrument hat, mit dem man Zukunft gestalten kann. Also nicht nur durch die Möglichkeit, politisch wählen zu gehen, ehrenamtlich in Parteien aktiv zu sein oder durch seinen eigenen Lebensstil, wie die Kaufentscheidung, die ich Supermarkt treffe, sondern auch durch die Arbeit. Und indem man hinterfragt, welche Mission Zukunft man mit dem, was man tut, verfolgt.

Man sollte hinterfragen, welche Mission Zukunft man mit dem, was man tut, verfolgt.

Bedeutet das, dass man seinen Beruf danach aussucht wie man die Zukunft verändern möchte? Oder dass man in seinem Beruf aktiv wird?

Beides. Es gibt die Annahme vom „World Economic Forum“, dass 65 Prozent der Kids, die jetzt in die Schulen kommen, später in Berufen arbeiten werden, die es noch gar nicht gibt. Auch wenn wir zurück gucken: Vor zehn Jahren waren Themen wie Social Media Management oder Brand Management noch nicht so präsent und heute sind es wichtige Berufe, weil man ohne eine starke Marke seine Botschaft gar nicht transportieren kann. Neue Berufe gibt es in zahlreichen Branchen. Das wird sich in den nächsten Jahren noch verstärken. Deswegen ist ganz wichtig, für sich zu verstehen, warum man seinen Beruf hat – oder ob es vielleicht auch nur ein Werkzeug in seinem Werkzeugkasten, den man als Mensch hat, ist. Und sich zu fragen, welche Auswirkungen man damit vielleicht auch positiv mitgestalten kann.

In der Zukunftsforschung unterscheidet man zwischen Konstruieren und Dekonstruieren. Was ist der Unterschied?

Beim Konstruieren werden Szenarien, Zukunftsbilder und Visionen entwickelt. Szenarien basieren immer auch auf bestimmten Fakten und dem bisschen Wissen, das man schon hat. So wie Trends, bei denen wir sehen können, dass sie mögliche Entwicklungen sind. Zukunftsbilder können alles Mögliche sein: von Science Fiction über Dystopien und Utopien. Das muss überhaupt keinen Realitätsbezug haben. Und Visionen sind das, was wünschbar ist. Das Konstruieren von Zukunft ist also gedanklich und abstrakt.

Das ist aber tatsächlich auch unsere größte Stärke als Menschen: Wir können uns Bilder vorstellen, die dann vielleicht Realität werden. Der Historiker Yuval Noah Harari hat das so schön gesagt und hinterfragt: „Wie haben es Menschen geschafft, sich zu verbünden, eine Kultur zu entwickeln und an Ideologien, wie Demokratie oder Kapitalismus, zu glauben? Indem sie sich Geschichten darüber erzählen.“. Unsere Welt ist letztlich eine große Geschichte, die wir uns erzählen. Deswegen ist das Gestalten von Bildern so wichtig.

Das Dekonstruieren ist eher ein jüngeres Feld in der Zukunftsforschung der letzten zehn Jahre. Dekonstruieren bedeutet, kritisch zu hinterfragen. Warum sind bestimmte Zukunftsbilder so? Was sehen wir in ihnen? Elon Musk mit Tesla ist zum Beispiel gerade super stark darin, Bilder zu platzieren und zu sagen: „So wird die Zukunft und mit meinen Innovationen zahle ich jetzt schon darauf ein.“. Hier ist es wichtig zu hinterfragen, was eigentlich dahintersteckt. Was sind seine Werte? Was treibt ihn an, welche Megatrends unterstützt er damit? Also wirklich zu analysieren, auseinanderzunehmen und auch durchaus kritisch zu fragen. Brauchen wir den Fortschritt? Was tut das mit uns? Was ist sozialer Wandel?

Unsere Welt ist letztlich eine große Geschichte, die wir uns erzählen. Deswegen ist das Gestalten von Bildern so wichtig.

Und was ist der Unterschied zwischen der Prognose und der Regnose?

Bei der Prognose versucht man mithilfe von Wahrscheinlichkeiten zu sagen, wie es sein könnte. Da kommen wir aber eigentlich nicht weiter als bis zum Wetterbericht übermorgen. Weil die Welt so komplex ist. Der andere Ansatz, die Regnose, hat sich letztes Jahr vor allem durch den Zukunftsforscher Matthias Horx etabliert, ist aber nichts Anderes als der Ansatz des Back Castings. Sprich, sich vorzustellen, zum Beispiel im Jahr 2050 zu sein und zu überlegen, wie es wünschenswerterweise dann aussehen könnte. Und sich daraufhin zu fragen, was man in zehn, fünf oder auch schon in einem Jahr dafür tun kann, dass es so wird. Das ist sozusagen eine Rückwärts-Prognose, also die Regnose. Die Regnose ist viel motivierender und gibt einem viel mehr Möglichkeiten nicht passiv zu sein, sondern aktiv Dinge selbst zu setzen. Im Moment ist auch unser Problem, dass ganz viele immer abwarten, ob Trends wichtig werden, statt selbst Trendgeber zu sein und vorzugeben, in welche Richtung es geht.

In einem Interview mit dem „Spiegel“ sagst du: „Zukunft wird oft fälschlich sehr linear gedacht.“ Wenn man aber eher von Verflechtungen ausgeht, wie können dann überhaupt Prognosen und Regnosen festgesetzt werden? Woran werden die wahrscheinlichsten Ereignisse festgemacht: durch mathematische Berechnungen oder eher durch die Analyse menschlichen und gesellschaftlichen Verhaltens?

Um das lineare Denken von Zeit zu verstehen, muss man ein bisschen zurückgehen. Vor ungefähr 600 Jahren, als die Uhr und damit auch die Zeit für jede*n verfügbar wurde, haben wir mit dem verstärkten Eintreten von Wissenschaft und Fortschritt die Zukunft überhaupt erfunden. Ganz früher war die Zukunft eine Utopie. Sie war ein physischer Ort, irgendein Land auf der Welt, wo alles besser war. Die Vorstellung von Zukunft war einfach eine Alternative zum Status quo. Durch die Wissenschaft wurde die Zeit immer granularer. Mittlerweile sind wir Sekundenhorter, durch das Digitale ist alles bis auf die Millisekunde planbar. Dadurch haben wir Zukunft immer mehr zu einem linearen Feld, das vor uns liegt, entwickelt und denken, dass wir Dinge berechnen können und dadurch wissen, was passieren wird. Aber wir merken, dass das gar nicht funktionieren kann. Ich arbeite nicht mit Wahrscheinlichkeiten und Analysen. Es gibt auf jeden Fall Zukunftsforscher*innen, die das machen, und es ist an der Börse oder beim Wetterbericht auch wichtig. Aber das funktioniert nur für einen sehr kurzen Zeitraum.

Aktuelle Themen, wie gerade der strukturelle Rassismus oder auch Feminismus, sind vor allen Dingen politisch-gesellschaftliche Themen, die durch Menschen angestoßen werden. Deswegen ist es auch ganz wichtig, dass Zukunftsforscher*innen gar nicht so sehr mit irgendwelchen mathematischen Wahrscheinlichkeiten rechnen, sondern eher versuchen zu verstehen, wie sich die Gesellschaft entwickelt. Was beschäftigt uns? Welche Werte sind gerade im Umbruch? Und dann anhand dessen abzuleiten, wohin es geht.

Bei Zukunftsbeben wie Corona denkt man, es geht in eine Richtung und es gibt eine Kontinuität, und dann passiert ein Ereignis, wie auch Tschernobyl, 9/11 oder der Zweite Weltkrieg, und plötzlich ist alles anders. Oder es kommt eine Erfindung, wie die Dampfmaschine oder die Stahlindustrie, die auf einmal ganz andere Dinge möglich macht und entscheidet, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt.

Im Moment ist auch unser Problem, dass ganz viele immer abwarten, ob Trends wichtig werden, statt selbst Trendgeber zu sein und vorzugeben, in welche Richtung es geht.

Das Interview führt femtastics-Autorin Kira Rosenkranz.

Also kann man solche Zukunftsbeben wie die Corona-Pandemie gar nicht vorhersehen?

Man hätte es bestimmt abschätzen können. Corona kam auch nicht aus dem Nichts, sondern ist darauf zurückzuführen, dass wir das systemische Denken nicht etabliert und uns immer weiter von dem Ökologischen entfernt haben. Letztlich ist Corona ein Ergebnis davon, wie wir die letzten Jahre die Welt gestaltet haben, weil wir immer mehr die Natur in eine Ecke treiben. Damit, dass unser Handeln diese Auswirkung hatte, haben sich wahrscheinlich nur Wenige beschäftigt. Wir nennen das Wildcards. Das sind unwahrscheinliche Ereignisse, wie ein Asteroideneinschlag, die aber, wenn sie passieren, einen großen Impact haben.

Wie wirkt sich die Corona-Krise auf unsere Zukunft aus? Und wie würdest du vorgehen, um Prognosen und Regnosen zu erstellen?

Viele Probleme, die Corona gerade ans Tageslicht bringt, sind auch schon vorher dagewesen: dass wir darüber sprechen müssen, wie wir internationale Handelsketten gestalten; dass wir über den Wert von Arbeit und Leistung im Pflege- und Gesundheitswesen sprechen müssen; dass Flugreisen und viel Pendelverkehr nicht gut für die Umwelt sind … Das wussten wir auch schon vorher. Nichtsdestotrotz hängen daran Schicksale. Wenn ich mir die aktuellen Strategien zum Lockdown angucke, frage ich mich schon, ob sie dazu führen werden, dass wir eine Wirtschaftskrise erleben. Und ob sie im schlimmsten Fall, wenn die Politik nicht bald bestimmte Bilder setzt, im Westen dazu führen, dass sich die Gesellschaft noch mehr polarisiert.

Vielleicht wird aber auch der Trend unterstützt, dass der Einzelhandel, das Erleben und die Wertschätzung von Handwerk ein Revival bekommen und die Menschen das wieder schätzen lernen. Ich würde mir wünschen, dass wir wieder Straßen mit kleinen Boutiquen und Künstler*innen haben und keine großen Malls. Gleichzeitig sehen wir aber auch, wie schnell wir Dinge wie E-Commerce und die schnelle Lieferung vor die Haustür lieben lernen. Was machen wir, wenn in ein paar Jahren immer mehr Leute nicht viel Geld haben, weil sie es durch die Krise verloren haben? Dann können sie sich nicht das leisten, was ein*e Handwerker*in oder ein*e Künstler*in herstellt und müssen wieder Billigprodukte kaufen. Das sind zwei Dinge, bei denen ich mehrere Szenarien im Kopf habe. Das ist eine politische Aufgabe, da jetzt die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen, damit das eben nicht passiert.

Wo liegt die Grenze zwischen fiktiven Utopien und realistischen Zukunftsvisionen?

Wir arbeiten bewusst mit Design Fiktion. Mit den „Zukunftsbauern“ haben wir damit angefangen, Zukunftsdenken an Schulen zu bringen. Das muss jede*r lernen. Wir brauchen viel mehr Kreativität und positive Zukunftsbilder. Unser Ansatz ist, dass wir Schüler*innen eine Welt entwickeln lassen, in der sie leben möchten, und dann zu fragen, welche Mission wir heute stärken müssen, damit das Realität wird. Eine Schüler*innengruppe hat gesagt, es brauche eine Welt, in der es gute Luft für alle gibt. Denn Luft kann wirklich knapp werden, wenn wir so weitermachen. Schon jetzt sieht man, wie schlecht die Luftqualität in Großstädten ist. Eine Mission, um das zu erreichen, wäre, dass man aus Algen künstlich Sauerstoff herstellt und dafür bräuchte es ein Berufsbild wie Sauerstoff-Produzent*in. Wir arbeiten bewusst mit fiktiven Berufsbildern und Zukunftsrollen, die auf der einen Seite ein bisschen utopisch zeigen wie eine Welt aussehen kann, aber auf der anderen Seite auch wieder greifbar sind. Wenn man den Beruf der Sauerstoff-Produzentin zerlegt, dann findet man Berufsbilder und Ausbildungsplätze, die es auch heute schon gibt.

Wir brauchen viel mehr Kreativität und positive Zukunftsbilder.

Bildung, Stadtentwicklung, Beratung: Du bist in ziemlich vielen Projekten involviert. Worum geht es bei deinem Projekt „Zukunftsgarten“?

In der Familie haben wir ein Grundstück, das derzeit als Brachland in einer Brandenburger Gemeinde komplett ungenutzt ist. Und wir wollen das ändern, was ein mühsamer Prozess und sehr viel Gesprächsarbeit im Bereich der Stadtentwicklung ist. Die Idee ist, in dieser Gemeinde, die sehr nah an Berlin liegt, ein Mehrgenerationenkonzept zu entwickeln. Gerade jetzt während Corona haben wir gemerkt, dass die Art und Weise, wie wir leben, nicht so richtig zu unserer Welt passt. Muss man als alleinstehende Witwe mit 85 alleine in einem 200-Quadratmeter-Haus wohnen? Oder wäre es nicht schön, in einem „Zukunftsgarten“ zu leben? In einer kleineren Wohnung, aber vielleicht mit einer jungen Familie unter einem und der alleinstehenden Freund*in über einem. Man ist näher aneinander dran, gärtnert gemeinsam und hat auf dem Gelände auch noch ein Mehrzweckgebäude für Vereinsarbeit oder Ähnliches. Das ist aber ein langwieriger Prozess. Wir sind gerade mit einigen Akteur*innen im Gespräch. Wir wollen nachhaltig bauen, aber es müssen am Ende auch noch relativ faire Preise sein. Gleichzeitig haben wir viele Auflagen von der Gemeinde zum Thema Umweltschutz, was auch alles berechtigt ist, aber nicht einfach in Einklang gebracht werden kann. Schließlich sind wir auch nur eine Familie, die gar nicht das Geld hat, mal eben mit mehreren Tausend Euro für Gutachten in Vorleistung zu gehen.

Stadtentwicklung ist neben dem Thema Bildung eine zweite Baustelle, wo ich sehe, wie viel in Deutschland gerade falsch läuft und an der eigenen Bürokratie erstickt. Und beides sind wichtige Zukunftsfelder, bei denen ich wirklich Bedenken habe. Wenn wir in den nächsten Jahren nicht das Mindset in der Verwaltung ändern, dann fällt uns da einiges auf die Füße.

Stadtentwicklung ist neben dem Thema Bildung eine zweite Baustelle, wo ich sehe, wie viel in Deutschland gerade falsch läuft und an der eigenen Bürokratie erstickt.

Du hast schon das Bildungsprojekt „Die Zukunftsbauer“ angesprochen, dessen Mitgründerin du bist. Was ist eure Mission?

„Wir bringen Zukunft an Schulen“ ist die einfachste Erklärung. Anfangs haben wir Workshops in Schulen angeboten, aber jetzt legen wir den Fokus darauf, die Lehrer*innen zu erreichen, denn sie sind die Multiplikatoren. Wir produzieren Materialien, die wir Lehrer*innen kostenlos oder sehr günstig zur Verfügung stellen und unterstützen auch andere Initiativen. Zum Beispiel die Initiative „Schule im Aufbruch“ von Margret Rasfeld, bei der freitags an Schulen unterrichtsfrei ist und sich die Schüler*innen stattdessen einem Zukunftsprojekt widmen. Was das genau ist, können die Schüler*innen sich aussuchen – vom urbanen Garten auf dem Nachbargrundstück bis zum Entwickeln einer Schüler*innenfirma. Also all das, wofür man von Montag bis Donnerstag neben dem Leistungsdruck keine Zeit hat.

Was müsste eine Bildungsreform für Deutschland enthalten, um eine Veränderung im Bildungssektor zu leisten?

Erstens muss prinzipiell mehr Geld bereitgestellt werden. Im EU-Vergleich sind wir gemessen am Bruttoinlandsprodukt weiter hinten. Deutschland will eine Wirtschaftskraft und innovationsfähig sein, aber Bildung ist uns überhaupt nicht wichtig. Bildung muss viel mehr auf die nationale Ebene gebracht werden. Im Moment ist sie Ländersache, dadurch kocht jedes Bundesland sein eigenes Süppchen, statt bei Themen wie der Digitalisierung Dinge von oben zu entscheiden. Eine Säule, die ich ganz wichtig finde, ist das Lehrer*innenkollegium und die Schulleitung, denen man letztlich doch sehr viel überlässt. Es wird ihnen aber gar kein Freiraum gegeben, weshalb sowas wie die „Schule im Aufbruch“-Initiative richtig ist. Die gibt nämlich auch den Lehrer*innen frei, damit sie wiederum Zeit für kreative Konzepte und Weiterbildung haben. Lehrer*innen haben teilweise gar keine Zeit für die eigene Weiterbildung, was natürlich schwierig in einer Zeit ist, in der Wissen eine Halbwertszeit von etwa drei Jahren hat. Wir haben außerdem gemerkt, dass im Bildungsbereich viele soziale Innovationen gemeinnütziger Akteur*innen überhaupt nicht wertschätzend – auch finanziell – unterstützt werden. Eine Möglichkeit wäre es, jeder Schule ein gewisses Innovations-Budget zu geben, mit dem Lehrer*innen Projekte realisieren können, ohne dass es tausende von Anträgen und Prozessen gibt.

Wenn es jetzt um Feminismus und strukturellen Rassismus geht, dann merken wir, dass wir unsere Sprache komplett zerlegen müssen und auch unsere Werte, wie wir mit anderen Menschen umgehen.

Du forderst dazu auf, die Zukunft selbst aktiv mitzugestalten. Wie können wir unser Leben als Gesellschaft praktisch anders gestalten, damit wir in Zukunft besser leben können?

Ein Thema, mit dem ich mich viel beschäftige und viel Inspiration bei Hannah Arendt gefunden habe, ist die Rolle des öffentlichen Raums. Wir haben ganz viele Themen in den privaten Raum gesteckt. Wir gehen arbeiten und danach haben wir unser Privatleben. Aber das Dazwischen, die Infrastruktur, die Bildung, das nach Hause Gehen, das ist alles öffentlicher Raum. Und dafür fehlt es oft an Geld, an Ideen und auch an Zuständigkeit, weil man sich damit gar nicht so richtig identifiziert. Das wird ein großer Trend in den nächsten Jahren, wie wir diesen öffentlichen Raum besser gestalten und reaktivieren können.

Als zweites Thema finde ich spannend, dass wir im Moment in einem dekonstruierenden Zeitalter leben. Wenn es jetzt um Feminismus und strukturellen Rassismus geht, dann merken wir, dass wir unsere Sprache komplett zerlegen müssen und auch unsere Werte, wie wir mit anderen Menschen umgehen. Wir müssen uns von diesem hierarchischen Denken verabschieden, weil wir merken – auch durch Corona – dass wir eine Wertschätzung für alle Berufsgruppen haben sollten, die sich im besten Fall auch finanziell zeigt.

Vielen Dank für das interessante Gespräch, Aileen!

 

Hier findet ihr Aileen Moeck:

 

Layout: Kaja Paradiek

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