In einer Gesellschaft, die immer schneller und anspruchsvoller wird, bleiben bestimmte Themen oft im Hintergrund. Dazu gehört auch die steigende Zahl der Erwachsenen, die mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) diagnostiziert werden. Während ADHS oft als eine Störung betrachtet wird, die hauptsächlich Kinder betrifft, wird zunehmend klar, dass sie auch bis ins Erwachsenenalter andauern und erhebliche Auswirkungen auf das tägliche Leben haben kann.
Um die Komplexität von ADHS bei Erwachsenen besser zu verstehen und Einblicke in die Herausforderungen sowie Bewältigungsstrategien zu gewinnen, haben wir mit Svenja, 27, gesprochen. Sie wurde selbst im Erwachsenenalter mit ADHS diagnostiziert und klärt auf ihrem „Instagram“-Account @kunterbuntsein über ADHS und Neurodivergenz auf. Im Interview gibt sie uns Einblicke in ihre Welt. Sie erzählt, mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen hat und was ihr hilft, den Alltag besser zu bewältigen.
Ich hatte das Gefühl, nicht wirklich herauszukommen, anzukommen, im Moment oder in der Situation, in der ich gerade war. Es hat sich angefühlt wie ein Nebel, der sich über mich legt.
Svenja: Es gibt drei verschiedene Typen von ADHS. Ich wurde vor circa vier Jahren mit dem „unaufmerksamen Typ“ diagnostiziert. Der bekannteste Typ ist der „hyperaktive Typ“. Der verkörpert das, was sich viele Menschen unter ADHS vorstellen. Also starke körperliche Aktivität und dass es den betroffenen Personen eher schwer fällt, ruhig zu sitzen. Das nehmen die meisten Menschen im Außen bei diesem Typ wohl am stärksten wahr.
Dann gibt es noch den „Mischtyp“, der beide Typen in sich vereint und den „unaufmerksamen Typ“, oder auch „hypoaktiv“, mit dem ich diagnostiziert bin. Ich hatte immer das Gefühl, total müde zu sein, eher das Gegenteil von hyperaktiv. Ich hatte das Gefühl, nicht wirklich herauszukommen, anzukommen, im Moment oder in der Situation, in der ich gerade war. Es hat sich angefühlt wie ein Nebel, der sich über mich legt.
Der Ursprung war damals in der Veränderung meines Alltags nach dem Auszug von zu Hause. Ich hatte plötzlich mein eigenes Leben, fing an zu studieren und war eigenständig für die meisten Dinge verantwortlich. Diese Veränderung hat in mir etwas bewirkt, weil ich gemerkt habe, dass ich irgendwie nicht so gut zurechtkomme wie die Menschen in meinem Umfeld. Ich habe zum Beispiel mein Studium abgebrochen und mir sind alltägliche Dinge schwer gefallen, die andere vielleicht als einfach empfunden haben. Und ich habe einfach nicht verstanden, warum ich das nicht hinbekomme.
Nach der Diagnose habe ich gedacht: Warte mal, wenn mein Gehirn anders funktioniert, vielleicht brauche ich einfach andere Bedingungen. Vielleicht darf mein Weg anders sein.
Die Diagnose hat für mich sehr viel verändert. Vorher habe ich so sehr an mir gezweifelt und nicht verstanden, was das Problem ist. Ich habe immer geschlussfolgert, dass ICH das Problem sei. Nach der Diagnose habe ich gedacht: „Warte mal, wenn mein Gehirn anders funktioniert, vielleicht brauche ich einfach andere Bedingungen. Vielleicht darf mein Weg anders sein. Vielleicht darf mein Alltag anders aussehen.“
Ich habe nach der Diagnose nicht mehr so viel darüber nachgedacht, warum ich Sachen anders machen soll. Ich konnte alles leichter akzeptieren. Es hat verändert, wie ich mit mir selbst umgehe und mir zu mehr Selbstakzeptanz verholfen. Auch soziale Ängste oder depressive Phasen habe ich als Dinge erkannt, die durch die Neurodivergenz entstanden sind. Da ich endlich wusste, was los ist, haben sich diese mit der Zeit minimiert.
Ich war früher immer eher das „Träumelinchen“. Sätze wie “Jetzt wach doch mal auf!” oder “Jetzt träum‘ doch nicht schon wieder rum!” haben mich früher fast täglich begleitet. Dann tut man so als wäre man aufmerksam und die ganze Zeit voll da, dabei kann man es gerade einfach nicht. Das war sehr anstrengend und kostete viel Kraft und Energie. Man denkt die ganze Zeit, dass man falsch sei.
Als Telefonistin habe ich so viel Abwechslung. Als verträumter Mensch brauche ich einfach die Stimulation von außen ziemlich stark, damit ich “wach” bin und wirklich voll mit dem Kopf bei der Sache.
Ich studiere schon sehr lange und habe insgesamt dreimal mein Studium abgebrochen. Andere Leute in meinem Umfeld machen jetzt ihren Doktor oder arbeiten schon länger in festen Jobs. Wenn man in meinem Fall den Hintergrund nicht kennt, denkt man sich natürlich: „Was ist denn los mit der?“. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich zu blöd sei oder so, aber es gab immer wieder Probleme. Bei Praktika in Bürojobs hat mir zum Beispiel oft die Abwechslung gefehlt. Ich fand das einfach nicht stimulierend.
Als Telefonistin habe ich so viel Abwechslung. Als verträumter Mensch brauche ich einfach die Stimulation von außen ziemlich stark, damit ich “wach” bin und wirklich voll mit dem Kopf bei der Sache. Es tut mir so gut, diesen Job zu haben.
Die Akzeptanz. Ich habe zwar schon sehr viel aufgearbeitet, aber trotzdem ist Frust ein großer Trigger für mich. Es fällt mir immer noch schwer zu sagen “Es ist okay, du bist gerade nicht leistungsfähig“, denn das wird in unserer Gesellschaft so stark erwartet, dass du leistungsfähig bist. Da möchte man sich das Scheitern noch weniger eingestehen. Außerdem ist das Thema schambesetzt. Dem oder der Arbeitgeber*in zu sagen: “Sorry, heute bin ich nicht leistungsfähig”, ist ein Thema, welches man sich nur ungern eingesteht.
Eigenschaften oder Dinge, die mit ADHS in Verbindung gebracht werden, werden oft negativ bewertet.
Ich muss dann erstmal mit meinen eigenen Emotionen umgehen. Auch wenn ich das nicht unbedingt zeigen würde, verletzt mich das schon sehr. Ich hatte vor Kurzem eine Situation mit einer Person aus meinem privaten Umfeld. Eigenschaften oder Dinge, die mit ADHS in Verbindung gebracht werden, werden oft negativ bewertet.
Wenn ich zum Beispiel vergesse zu antworten, denkt die Person, dass ich sie nicht wertschätze. Dementsprechend kann das für die andere Seite verletzend sein. Dabei habe ich es einfach schlichtweg vergessen. Ich versuche immer mein Bestes zu geben, aber schaffe das nicht immer. Natürlich fühlt man sich unverstanden, weil man der Person ja nicht das Gefühl geben wollte, dass sie einem nichts wert sei.
Die ganze Sache mit „kunterbuntsein“ und „Instagram“. Ich habe dadurch einen tollen Platz für mich in der Welt gefunden und das mit einem Thema, das für mich immer sehr schlimm war. Jetzt habe ich das Gefühl, einen Ort kreiert zu haben, an dem ich ganz ich selbst sein kann. Auf „Instagram“ kann ich etwas bewirken und mit meiner Community und meiner eigenen Art irgendwie erfolgreich sein. Gerade in den sozialen Medien ist es als Mensch mit ADHS relativ leicht etwas hinzubekommen und was auf die Beine zu stellen. Dort lebt ja alles durch diese Schnelllebigkeit.
Gerade in den sozialen Medien ist es als Mensch mit ADHS relativ leicht etwas hinzubekommen und was auf die Beine zu stellen. Dort lebt ja alles durch diese Schnelllebigkeit.
Das liegt auf jeden Fall an der Unkenntnis, die es schon immer gab und die zum Glück immer weniger wird. Sehr, sehr vielen Menschen wurde ihre Diagnose im Alter auch wieder abgesprochen. Das heißt, diese Menschen wurden schon mal diagnostiziert und dann mussten sie quasi nochmal diagnostiziert werden.
Es gibt auch sehr viele Menschen, die jetzt im Erwachsenenalter sind und für die ADHS lange keine oder noch nie eine Rolle gespielt hat. Auch im Seniorenalter gibt es Menschen mit ADHS. Es gibt so viele Menschen im Erwachsenenalter, die ADHS haben und es nicht wissen! Wie auch?
Die Medikation ist ein wichtiger Punkt, aber auch Struktur im Alltag. Wobei das auch nicht für jede*n etwas ist. Es gibt Menschen mit ADHS, die können das Intuitive total gut und haben sich ein Leben zusammengeschustert, in dem sie um die Welt reisen. Denen ist diese Intuition ganz, ganz wichtig. Mir hilft aber die Struktur am meisten. Trotzdem muss alles selbstbestimmt sein und das ist machmal das Problem.
Der Tipp, der mir am besten hilft: An welcher Aktivität bleibe ich am einfachsten dran? Wenn mir zum Beispiel Videospielen super leicht fällt, dann kann ich schauen: Was sind die Bedingungen, warum mir das so leicht fällt? Man hat dort viele kleine Ziele und stimulierende Musik im Hintergrund, vielleicht auch Austausch mit anderen. Dann wende ich diese Dinge auf eine alltägliche Situation an, die mir schwerfällt.
Ich stelle mir im Studium beim Lernen alle fünf Minuten einen Wecker, damit ich immer ein kleines Ziel habe und nehme mir nicht eine, sondern drei verschiedene Aufgaben vor, die ich im Viertelstundentakt abwechsele. Dazu höre ich stimulierende Musik.
Das Wichtigste ist, Fragen zu stellen und schwierige Situationen nicht einfach hinzunehmen. Ab und an mal fragen: “Was brauchst du gerade?” oder “Wie geht es dir gerade? Wie sieht es in dir aus?”. Für die meisten, oder sehr viele neurodivergente Personen ist das “nicht verstehen werden” eine große Sache. Viele Menschen möchten hilfreiche Dinge tun, die aber oft genau das Falsche für die betroffene Person sind.
Manchmal ist es besser konkret zu fragen, was die Person gerade braucht, anstatt zu sagen: “Ja, so geht es mir auch manchmal und dann hilft mir dies und das“. Man sollte der Person das Gefühl geben, dass man ihr und ihrer eigenen Wahrnehmung vertraut. Wenn jemand sagt “Mir ist das gerade zu viel”, sollte das Umfeld das auch annehmen.
Ich kann auf jeden Fall verstehen, dass das kritisch betrachtet wird. Vor allem von Fachpersonal oder Personen, die in diesem Bereich professionell arbeiten. Die sagen natürlich: „Hey, ich führe hier die Diagnosen durch“ und natürlich ist es dann sinnlos, wenn sich jemand selbst diagnostiziert oder ADHS als Modediagnose abgetan wird.
Mein Standpunkt ist: Wem schadet es? Wenn eine Person ein Video sieht und denkt, sie habe ADHS – ganz egal ob das stimmt oder nicht – kann sie daraus irgendwas für sich mitnehmen. Genau das soll doch unser Gesundheitssystem im Endeffekt bewirken. Bei einer Diagnose geht es darum, dass irgendjemand etwas Positives daraus ziehen kann, dass man eventuell etwas dafür tun kann, dass es einem danach besser geht. Wenn eine Selbstdiagnose genau das für eine Person bewirkt, finde ich das mehr als okay.
Wenn ein Kind zum Beispiel super gut zuhören kann, wenn es auf einem Tisch liegt oder eine Kapuze aufsetzt, sollte man das akzeptieren und nicht sofort verbieten, nur weil es nicht der Norm entspricht.
Mehr Offenheit für alternative Wege ist wichtig. Voreingenommenheiten, wie bestimmte Dinge zu sein haben, sollten abgelegt werden. Wenn ein Kind zum Beispiel super gut zuhören kann, wenn es auf einem Tisch liegt oder eine Kapuze aufsetzt, sollte man das akzeptieren und nicht sofort verbieten, nur weil es nicht der Norm entspricht.
Ich habe ein großes und wichtiges Lieblingsthema: Filmmusik. Musik wie die von Hans Zimmer zum Beispiel. Da kann man so viel fühlen und es ist so stimulierend, dass ich nichts anderes mehr nebenher machen muss. Ich höre das zum Lernen oder generell, wenn ich mich auf eine bestimmte Sache besonders konzentrieren muss.