Autoimmunerkrankungen sind chronische, nicht heilbare Krankheiten. Sie gehen teilweise mit schweren Symptomen einher, die den Alltag der Betroffenen stark einschränken können. Mehr als drei Viertel der Betroffenen sind dabei aus medizinischer Sicht weiblich. In der Öffentlichkeit erfährt die Thematik bislang kaum Aufmerksamkeit. Warum sich das ändern sollte, wie sich Autoimmunerkrankungen genau auf das Leben der Betroffenen auswirken und warum Frauen so viel häufiger betroffen sind, erzählt Dr. med. Ahmadi-Simab im Interview.
Disclaimer: Wird im Folgenden der Begriff „Frauen“ verwendet, so bezieht sich dieser auf das biologische (und nicht das soziale) Geschlecht. Das biologische Geschlecht schließt etwa die Verteilung der Chromosomen, die Sexualhormone und primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale mit ein. Auch das biologische Geschlecht ist als Kontinuum und nicht als binäres System zu verstehen.
Autoimmunerkrankungen sind Erkrankungen, die durch chronisch-entzündliche Reaktionen gekennzeichnet sind. Diese Reaktionen entstehen durch eine fehlgeleitete Regulation des Immunsystems: Immunzellen, die sich normalerweise gegen Krankheitserreger und gefährliche Substanzen richten sollten, attackieren dabei das körpereigene Gewebe.
Autoimmunerkrankungen können spezifische Organe oder aber den ganzen Körper betreffen.
Da sich die fehlgeleiteten Immunzellen prinzipiell gegen jegliche Gewebetypen richten können, ist die Bandbreite der Autoimmunerkrankungen entsprechend groß: Es sind bereits etwa 100 solche Krankheiten bekannt und ständig werden neue entdeckt. Autoimmunerkrankungen können dabei spezifische Organe oder aber den ganzen Körper betreffen.
Schätzungsweise sind 5-8 Prozent der deutschen Bevölkerung, also 4,0 bis 6,5 Millionen Menschen, von einer oder mehreren Autoimmunerkrankungen betroffen, unabhängig vom Lebensalter.
Das liegt an einer Kombination aus genetischen, hormonellen und möglicherweise auch umweltbedingten Faktoren. Was die hormonellen Faktoren angeht, spielt das Geschlechtshormon Östrogen eine zentrale Rolle. Denn Östrogene können die Immunantwort verstärken. Das heißt, es werden dann mehr Antikörper produziert.
Ja, einerseits ist das von Vorteil, da Infektionen effektiver bekämpft werden. Andererseits führt eine höhere Antikörperproduktion auch dazu, dass das Risiko für Autoimmunerkrankungen steigt.
Frauen haben zwei X-Chromosomen, während Männer ein X- und ein Y-Chromosom haben. Einige Gene, die mit dem Immunsystem in Verbindung stehen, befinden sich auf dem X-Chromosom. In der Wissenschaft ging man lange davon aus, dass eins der beiden X-Chromosomen grundsätzlich inaktiviert ist. Mittlerweile gibt es jedoch Hinweise darauf, dass dieses Inaktivierungssystem nicht immer vollständig ist.
Es bedeutet, dass nicht nur eins, sondern beide X-Chromosomen Stoffe produzieren, die das Immunsystem beeinflussen können. Damit steigt das Risiko für die Entstehung von Autoimmunerkrankungen.
Es wird angenommen, dass bestimmte Umweltfaktoren und Lebensstile einen Einfluss haben können. Und einige dieser Faktoren könnten bei Frauen stärker ausgeprägt sein. Dazu gehören Stress, Ernährung und die Exposition gegenüber bestimmten Chemikalien. Der genaue Einfluss dieser Faktoren wird allerdings noch erforscht.
Ja, da wäre zum Beispiel das Phänomen des sogenannten Mikrochimärismus. Das tritt auf, wenn während der Schwangerschaft Zellen zwischen der schwangeren Person und dem Fötus ausgetauscht werden. Die Zellen des Fötus‘ können im Körper der schwangeren Person verbleiben und potenziell zu einer Autoimmunreaktion beitragen. Wie dieser Mechanismus genau funktioniert und welche Bedeutung er hat, wird aktuell noch wissenschaftlich untersucht.
Es gibt Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede in der Zusammensetzung des Mikrobioms gibt. Also das Mikrobiom ist die Gemeinschaft der Mikroorganismen, die in und auf unserem Körper leben. Diese unterschiedlichen Zusammensetzungen könnten auch das Immunsystem beeinflussen. Denn das Mikrobiom spielt eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Funktion des Immunsystems.
Ja, eine ganze Reihe. Darunter zum Beispiel Systemischer Lupus erythematodes, kurz SLE. Diese Erkrankung kann die Haut, Gelenke, Nieren, Gehirn und andere Organe betreffen. Außerdem Multiple Sklerose, MS. Dabei handelt es sich um eine Erkrankung des Zentralnervensystems, die unter anderem zu Sehstörungen, Muskelschwäche und kognitiven Beeinträchtigungen führen kann. Auch Zöliakie, also eine Glutenunverträglichkeit, ist eine Autoimmunerkrankung, die bei Frauen signifikant häufiger auftritt.
Autoimmunerkrankungen können tiefgreifende Auswirkungen auf die Lebensqualität haben.
Ja, Autoimmunerkrankungen können tiefgreifende Auswirkungen auf die Lebensqualität haben. Da die Erkrankungen chronisch sind, treten immer wieder anhaltende oder wiederkehrende Symptome auf. Dazu gehören etwa intensive Schmerzen, schwere Erschöpfung oder Mobilitätseinschränkungen. Das kann dazu führen, dass Betroffene starke Probleme haben ihren Alltag zu bewältigen. So fallen etwa soziale Interaktionen und berufliche Aufgaben deutlich schwerer.
Die Erkrankungen sind häufig mit chronischem Stress, Schmerzen und Unsicherheiten verbunden. Als Reaktion darauf können wiederum Angstzustände, Depressionen und andere psychische und emotionale Beschwerden entstehen.
Autoimmunerkrankungen zu diagnostizieren ist eine erhebliche klinische Herausforderung. Denn die Krankheitsbilder zeichnen sich durch ein breites Spektrum unspezifischer Symptome aus, die sich auch mit der Zeit immer wieder verändern können. Auch überschneiden sich die Symptome häufig mit denen anderer Erkrankungen.
Ja beziehungsweisen kommt es leicht zu Fehldiagnosen. Diese können wiederum zu unnötigen Behandlungen führen oder die Einleitung einer angemessenen Therapie verzögern. Es ist deshalb notwendig eine Reihe von Diagnoseverfahren durchzuführen und diese sorgfältig zu interpretieren.
Gibt es ein breiteres Bewusstsein dafür in der Gesellschaft, könnten Mediziner*innen zum Beispiel Symptome schneller erkennen und richtig interpretieren.
Ja, das wäre definitiv notwendig. Gibt es ein breiteres Bewusstsein dafür in der Gesellschaft, könnten Mediziner*innen zum Beispiel Symptome schneller erkennen und richtig interpretieren. Das ermöglicht eine frühere Diagnose und Behandlung. Werden Betroffene zeitiger behandelt, schreitet die Krankheit häufig langsamer fort. Dadurch kann die Lebensqualität verbessert und langfristige Schäden minimiert werden.
Das könnte zumindest dazu beitragen, Frauen als besonders gefährdete Gruppe zu ermutigen auf Symptome zu achten, präventive Maßnahmen zu ergreifen und bei Bedarf medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Es gibt einige gesundheitsfördernde Verhaltensweisen, die die allgemeine Resilienz des Körpers stärken und möglicherweise auch das Auftreten und den Schweregrad von Autoimmunerkrankungen beeinflussen können. Dazu zählen etwa eine ausgewogene Ernährung mit vielen entzündungshemmenden Lebensmitteln, regelmäßige körperliche Aktivität, effektives Stressmanagement und der Verzicht auf Rauchen.
Auch hier ist zunächst einmal ein erhöhtes Bewusstsein für die Thematik in der Gesellschaft ausschlaggebend. Denn das könnte die soziale Unterstützung für die Betroffenen verbessern. Sind sich mehr Menschen über die Auswirkungen und Ausprägungen von Autoimmunerkrankungen im Klaren, könnte das zu einer stärkeren Empathie in der Gesellschaft und grundsätzlich stärkeren Unterstützungsnetzwerken für Betroffene führen.
Unterschiede zwischen den Geschlechtern anzuerkennen ist prinzipiell notwendig, um eine präzisere und individualisierte Medizin zu entwickeln. Durch ein erhöhtes Bewusstsein für geschlechtsspezifische Unterschiede bei Autoimmunerkrankungen könnte zunächst auch die Forschung gezielter gefördert werden. Dadurch könnten wir die Ursachen noch besser verstehen und geschlechtsspezifische Behandlungsansätze entwickeln.
Deshalb wäre es notwendig für dieses Thema auf gesundheitspolitischer Ebene zu sensibilisieren. Denn so können die notwendigen Ressourcen für die Forschung bereitgestellt, Zugänge für Versorgung und Behandlung und spezifische Gesundheitsprogramme für Frauen gefördert werden.
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