Wenn ihr es euch aussuchen könntet, wie alt wollt ihr werden? Möglichst alt, scheint für viele Menschen gerade die Antwort zu sein. “Live Fast, Die Young” ist offensichtlich out; “Longevity”, Langlebigkeit, ist der neue Wellness-Hype, der in den USA geboren wurde, und an dem gerade kein Weg vorbei führt. Was der Begriff meint? Natürlich nicht einfach unsere Lebenserwartung, die statistisch definiert ist, sondern einen gewissen Lifestyle, dessen Ziel es ist, die eigene Alterung und Lebensdauer selbst in die Hand zu nehmen und aktiv mitzubestimmen, um überdurchschnittlich lange zu leben.
Nicht nur arbeiten Wissenschaftler*innen und Forschende auf der ganzen Welt daran, herauszufinden, was unsere Körper möglichst lange fit und gesund hält. Es ist auch ein riesiger Markt an Informationen und Angeboten entstanden, die wir selbst nutzen können, um – so zumindest das Versprechen – unsere Jugendlichkeit zu erhalten. Unzählige Bücher, Podcasts, Treatments, Coachings, Fitness-Programme, Pillen und Mittel versprechen, unser Leben zu verlängern.
In ihrem Podcast “Lifestyle of Longevity” sprechen Kati Ernst und Kristine Zeller darüber, welche Trainingspläne sie mit ihrem Personal Trainer erstellt haben, mit welchen Morgenroutinen sie in den Tag starten und welchen Essensplänen sie folgen, um an ihrer Longevity zu arbeiten. “100 werden” heißen der Podcast, die Bücher und Produkte – wie das polyphenolreiche Olivenöl (erhältlich über die vielsagende URL 100werdenshop.de) – von Luke Jaque Rodney. Und das exklusive Gesundheitsresort “Lanserhof” informiert in seinem Podcast “Forever Young” nicht nur über Longevity, sondern bietet selbstverständlich auch die entsprechenden maßgeschneiderten Wellness-Programme dazu an (für durchschnittlich rund 9.000 Euro pro Woche).
Es ist ganz schön aufwändig, den eigenen Körper entsprechend der Longevity-Programme zu warten und das alles auch noch tagtäglich zu kontrollieren.
Ihr hört schon heraus: der Longevity-Lifestyle kostet. Nicht nur finanziell, sondern auch zeitlich. Es ist ganz schön aufwändig, den eigenen Körper entsprechend der Longevity-Programme zu warten, Bewegungs-, Fitness-, Schlaf- und Ernährungspläne einzuhalten und das alles auch noch tagtäglich zu kontrollieren. Wer einen Vollzeitjob, ein neues Hobby, Beziehungen oder anfallende Care-Arbeit hat, muss wohl Prioritäten setzen. In dieser Hinsicht ist der Longevity-Hype vielleicht nur die logische Weiterentwicklung der Anti-Aging-Beauty, Wellness-Industrie und des Tracking-Trends, der uns mit Tools vom Schrittzähler bis zum “Oura”-Ring schon dazu gebracht hat, jeden Schritt und Herzschlag zu erfassen, zu bewerten und möglichst zu optimieren. Hedonismus ist irgendwie nicht mehr en vogue. “Sex and Drugs and Rock and Roll” wurde eben in den 70ern geschrieben. Ist das alles jetzt ein Kontrollzwang oder einfach nur Selbstfürsorge?
Ist das alles jetzt ein Kontrollzwang oder einfach nur Selbstfürsorge?
In jedem Fall ein Luxusproblem. Der US-Tech-Millionär Bryan Johnson beschäftigt eine ganze Armada aus Ärzt*innen und Expert*innen mit dem Ziel, biologisch wieder auf 18 Jahre verjüngt zu werden. In seiner „Instagram“-Bio steht: “Der Tod ist unser einziger Feind.” Klar, den Tod zu besiegen, das ist keine neue Vorstellung. Religionen versprechen ja nicht ohne Grund ein Leben nach dem Tod. Die Idee hat einfach was.
Ich persönlich fand diesen Aspekt an Vampirgeschichten immer faszinierend (aber ich fürchte, mir würde die Sonne fehlen). Aubrey de Grey, Biogerontologe und Mitgründer der „SENS Research Foundation“, einer Non-Profit-Organisation, an der unter anderem die Universitäten “Yale”, “Harvard” und “Cambridge” beteiligt sind, hat das erklärte Ziel, mit seiner Forschung an menschlichen Zellen “Alterskrankheiten auszurotten” (wie es im „Wikipedia“-Artikel zur Foundation heißt) und “den Tod abzuschaffen” (mehr dazu bei „Stern“ und „Geo“). In Deutschland hat u.a. die “Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung” dasselbe Ziel.
Könnte unser Planet mit diesem Bevölkerungswachstum und dem damit einhergehenden Überkonsum überhaupt klarkommen? Aktuell leben schon rund 8,11 Milliarden Menschen auf der Erde. Wie viele wären das, wenn plötzlich alle über 100 werden – oder gar nicht mehr sterben?
Statistisch hängen der Lebensstandard bzw. das Einkommen und die Lebenserwartung zusammen.
Aber, keine Sorge, das wird so schnell nicht passieren, denn da sind wir wieder beim Thema Finanzen. Statistisch bewiesen hängen der Lebensstandard gesamtgesellschaftlich bzw. das individuelle Einkommen und die Lebenserwartung zusammen. Kurz gesagt: Wer ärmer ist, stirbt früher. “Die Lebenserwartung in Deutschland ist in den vergangenen 150 Jahren beträchtlich gestiegen”, wie das Statistische Bundesamt schreibt und “betrug in Deutschland im Jahr 2023 für Frauen 83,3 Jahre und für Männer 78,6 Jahre.” Aber sowohl in Deutschland als auch im globalen Ländervergleich gehen höhere Einkommen mit höherer Lebenserwartung einher. Richtig brenzlig für die Ressourcen unseres Planeten würde es also erst, wenn sich alle Menschen auch die medizinischen Longevity-Behandlungen leisten könnten.
Wenn man meine 95-jährige Oma (die noch in ihrem eigenen Haus mit Garten lebt, sich weitestgehend selbst versorgt und auch mal den Rasen mäht) aufs Älterwerden anspricht, sagt sie: “100 werden? Oh Gott, nein! Ich habe doch alles erlebt. Es reicht langsam.”
Foto: Linda David, Collage: Canva
Ein Kommentar
Longevity heißt ja nicht möglichst alt werden, sondern möglichst lange, so gesund wie möglich bleiben. uns darauf ein bisschen mehr Augenmerk zu legen, erscheint mir nun wirklich nicht schlecht. Man kann sich ja rauspicken, was von den Tipps man anwenden will und wie streng man dabei sein will. aber gesunde Ernährung, Sport, Mental Health, Schlaf und Erholung – daran ist doch wirklich nichts auszusetzen. Longevity muss nicht unbedingt teuer sein und ja, in manchen Lebenslagen ist es einfacher als in anderen, sich damit auseinander zu setzen, aber wie gesagt, man kann es ja dosieren.