Julia Kiener ist 32 Jahre alt und Co-Gründerin der gut laufenden Agentur und Beratung „Pommes al dente“, als sie plötzlich eine Veränderung an ihrer Zunge bemerkt. Wenig später erhält sie die Diagnose: Krebs. Die Diagnose vor einem Jahr hat Julias Leben komplett verändert. Statt Jour fixe-Terminen und Mitarbeiter*innengesprächen haben Krankenhausbesuche und Behandlungssitzungen oberste Priorität. Wie geht man mit einer solchen Krankheit als Geschäftsführerin um? Und wie schafft man es, Mitarbeiter*innen Angst und Unsicherheiten zu nehmen, wenn man selbst am meisten betroffen ist?
Wir sprechen mit der heute 33-Jährigen über die Kommunikation von Krankheiten, Stigmatisierung und persönliche Krisen.
Julia Kiener: Ich hatte einen Knoten an der Zunge, der hat sich angefühlt, als hätte ich ein Popcorn-Korn unter der Zunge kleben. Es war nichts Wildes und ich bin damit zum Zahnarzt gegangen. Der hat kurz abgefragt, ob ich rauche oder trinke. Weil ich beides nicht tue, meinte mein Zahnarzt, das würde nichts sein, er könne mich aber zum Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen überweisen. Der sagte mir das Gleiche: eine harmlose Verkapselung, nichts weiter.
Meine Mutter hat darauf gedrängt, dass ich noch mal zum Arzt gehe, weil sie kein gutes Gefühl hatte.
Einige Zeit später hat mich der Knoten ziemlich genervt. Meine Mutter hat darauf gedrängt, dass ich bitte nochmal zum Arzt gehe, weil sie kein gutes Gefühl hatte. Ich war noch einmal bei dem Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen, bei dem ich schon ein paar Wochen vorher gewesen war. Der wurde direkt blass, die Arzthelferin bekam Tränen in die Augen und er meinte: „Ich schicke Sie direkt ins Uniklinikum, haben Sie jemanden, der mitkommen kann?“.
Die finale Diagnose habe ich erst ein paar Tage später bekommen, ich ahnte aber, was los ist. Zuvor war ich beim sogenannten Tumor Staging, bei der Biopsie und hatte zwei Tage lang nur Arztbesuche. Richtig stutzig wurde ich, als ich im Krankenhaus zur Ernährungsberatung geschickt wurde und die dort meinen Kalorienbedarf ausrechneten: „Wir müssen das wissen, für die Sondenernährung.“
Da war für mich klar, dass das ein eher längerer Eingriff wird. Spätestens als ich zu einer kurzfristigen Magenspiegelung musste, habe ich es geahnt. Ich war deshalb schon sehr gefasst, als die Diagnose offiziell ausgesprochen wurde.
Ich dachte mir: Ich will auf gar keinen Fall sterben, ich bin viel zu jung, ich habe noch viel zu viel vor.
Im Grunde ganz okay; ich hatte ja keine Wahl. Ich dachte mir: Ich will auf gar keinen Fall sterben, ich bin viel zu jung, ich habe noch viel zu viel vor. Das sehe ich jetzt gar nicht ein. Ich war fast trotzig.
Ich wurde zu einem Zeitpunkt krank, als ich mental an einem ganz guten Punkt war. Ich hatte mich schon lange Zeit um mich gekümmert und war dadurch sehr resilient. Zu einem anderen Zeitpunkt in meinem Leben hätte mir das sicherlich mehr zugesetzt.
Ich hatte ein gesundes Mindset, habe viel Sport gemacht und gesund gegessen. Ich war vorher auch schon in Psychotherapie – ich würde nicht zwingend präventiv dazu raten, ich bekomme die Therapie eigentlich aus anderen Gründen. Mir hat es geholfen, mir nicht diese „Warum ich?“-Frage zu stellen. Ich glaube, das zerfrisst einen nur. Meine Freund*innen, meine Familie und mein Netzwerk haben mir sehr geholfen.
Man hat als Gründerin ja nicht nur Verantwortung für sich selbst, sondern auch für die Mitarbeitenden und die Geschäftspartnerin.
Der war in der Zeit eher eine Zusatzbelastung. Ich dachte zwar nicht, der Laden läuft nicht mehr, aber wir waren noch ein sehr junges Team. Ich musste meine Partnerin komplett allein lassen und das sehr kurzfristig. Wir hatten keine Zeit, noch groß etwas vorzubereiten; alles ging Schlag auf Schlag. Man hat als Gründerin ja nicht nur Verantwortung für sich selbst, sondern auch für die Mitarbeitenden und die Geschäftspartnerin.
Meine Geschäftspartnerin wusste vom ersten Verdacht an Bescheid und war vorbereitet. Ich wollte kein Gerede und unnötige Sorgen im Team, deshalb war für mich klar, dass ich absolute Transparenz will. Am Freitag nach der Diagnose habe ich direkt einen Team Call eingestellt und gesagt: „So, ihr habt es schon bemerkt, ich bin die letzten Tage viel beim Arzt gewesen. Ich habe Krebs. Keine Sorge, ich kriege das hin, aber die nächsten Tage würde ich euch bitten, Lisa zu unterstützen.“ Ich war sehr im Funktioniermodus, das hat in dem Moment geholfen.
Ich wurde fünf Wochen lang sechsmal die Woche bestrahlt.
Ich hatte das Glück, wenn man so will, dass ich keine Chemotherapie machen musste. Stattdessen wurde ich fünf Wochen lang sechsmal die Woche bestrahlt. Nebenwirkungen sind unter anderem Fatigue und dass die Schleimhäute verbrennen. Ich konnte ab Woche drei nicht mehr essen und habe hochkalorische Drinks bekommen, damit ich keine Magensonde bekomme.
Ich war sehr schwach und nach den OPs war ich absolut unbrauchbar. Ich war vollgepumpt mit Schmerzmitteln und konnte nicht sprechen, was als Gründerin einer Kommunikationsagentur natürlich ironisch ist. Bereits einen Monat nach der Diagnose habe ich trotzdem langsam angefangen wieder zu arbeiten. Ich war ab Mitte Januar jeden Tag im Team Call. Ob ich das heute wieder so machen würde, weiß ich nicht. Zu dem Zeitpunkt hat es mir aber geholfen. Ich war so weiter am Team dran.
Mit den Kund*innen habe ich sehr offen kommuniziert. Ich habe sehr positives Feedback bekommen und mir wurde für meine Transparenz gedankt. Ich hatte während der Behandlung aber gar nicht so viel mit den Kund*innen zu tun, weil ich eher Aufgaben im Back-Office übernommen habe. Ich war aber weiter für das Team da.
Ich denke, ich würde mich mehr rausziehen und vorher ganz klar sagen: „So Leute, so sieht’s aus, holt mich inhaltlich ab, wenn es wirklich nötig ist.“
Mich bringen Dinge weniger schnell aus der Fassung. Sachen, über die ich mich früher aufgeregt hätte, jucken mich zum Teil nicht mehr. Erst letzte Woche kam bei einem Flug mein Gepäck nicht mit. Früher hätte ich mich darüber tierisch aufgeregt. Heute bin ich gelassener. Auf der anderen Seite rege ich mich umso mehr darüber auf, wenn andere Menschen pingelig oder kleinkariert sind.
Mir ist klar geworden, wie schnell unsere Zeit hier vorbei sein kann, deshalb versuche ich meine Zeit noch bewusster zu nutzen.
Auf jeden Fall! Am meisten hat sich mein Verhältnis zur Zeit verändert. Mir ist klar geworden, wie schnell unsere Zeit hier vorbei sein kann, deshalb versuche ich meine Zeit noch bewusster zu nutzen. Ich bin zum Teil richtig radikal, wenn es darum geht, wem ich meine Zeit schenke.
Wenn mir eine Person kein richtig gutes Gefühl gibt, dann sehe ich es nicht mehr ein, mit dieser Person meine Zeit beim Kaffeetrinken zu vergeuden. So etwas mache ich nicht mehr. Ich bin insgesamt ungeduldiger geworden. Während ich krank war, habe ich mir eine Liste geschrieben, mit all den Sachen, die ich nach meiner Krankheit machen und Dinge, die ich unbedingt essen will. Ich hatte so einen Schmachter, weil ich monatelang nicht richtig essen konnte.
Mir hat es geholfen, mir ein Best Case-Szenario statt einen Worst Case auszumalen. Und ich habe mir – neben der Liste der Dinge, die ich machen will – eine Liste mit all den Dingen gemacht, für die es sich zu kämpfen lohnt. Etwa für die lieben Menschen in meinem Umfeld und auch für mein Unternehmen.
Collage/Foto: „Canva“/Natalie Podena