Sie schreibt über diffuse Ängste, das vermeintliche Ideal von Selbstverwirklichung durch den Job und die Erwartung, immer das „perfekte Mädchen“ zu sein. Die Kolumnistin und Journalistin Nina Kunz (28) hat gerade ihr Buch „Ich denk, ich denk zu viel“ veröffentlicht. Damit will sie ausdrücklich nicht für ihre ganze Generation sprechen – doch viele Leser*innen erkennen sich in ihren Texten wieder, das Buch stieg auf Platz 14 der Sachbuch-Bestseller in der Schweiz ein. Im Interview sprechen wir mit Nina über das Paradox, dass eigentlich alles in Ordnung ist und sie trotzdem mit ständiger Enge in der Brust kämpft, über Konzentrationsschwächen durchs Internet und das Problem, den eigenen Wert über die Arbeit zu definieren.
Viele Leute haben mir gesagt, dass sie sich weniger allein gefühlt haben, nachdem sie mein Buch gelesen haben.
Nina Kunz: Das ist eine große Frage und es gibt zwei Varianten, sie zu beantworten. Die trockene wäre: Es sind 30 Texte über die Gegenwart, zumindest über unterschiedliche Aspekte meiner eigenen Gegenwart. Die etwas persönlichere Antwort ist: Im Buch geht es um diffuse Ängste, die mich im Alltag beschäftigt haben. Alle Themen bewegen sich in dem Spannungsfeld zwischen „Es ist eigentlich alles total gut und ich habe keine existenziellen Probleme“ und „Gleichzeitig habe ich einen Stress-Tinnitus, ein Enge-Gefühl in der Brust, ein Unbehagen“.
Die Texte sind immer dann entstanden, wenn ich eine diffuse Angst spürte und versuchte, das Gefühl zu verstehen – indem ich etwa die Bücher von Autor*innen wie Jean-Paul-Sartre, Jia Tolentino oder Roxane Gay studierte. Es geht um Über-Identifikation mit dem Job, um den Druck, immer glücklich sein zu müssen und um die falsche Vorstellung, dass alles gut wird, solange man nur dieses eine Ziel erreicht.
Ich bin bei Verallgemeinerungen sehr vorsichtig und es war nicht meine Intention, ein Generationenbuch zu schreiben. Ich habe mich natürlich gefragt, inwiefern meine Ängste für etwas stehen – für einen nihilistischen Zeitgeist oder eine ausgebrannte Generation. Aber es wäre zu kurz, das zu behaupten, weil all das sehr vom spezifischen sozialen Milieu abhängt. Ich mag auch diese Generationenbegriffe nicht, weil es so viele unterschiedliche Leute gibt, die in eine Kohorte fallen. Aber ich merke bei der Rezeption des Buches, dass die Texte zumindest bei vielen Leuten die Frage aufwerfen: Wie ist das bei mir? Und es ist total interessant, dass bei allen Leser*innen ein anderes Thema besonders hervorsticht, das sie gerade in ihrem Alltag beschäftigt.
Ich glaube, es ist bis zu einem gewissen Grad ein urbanes Publikum. Ich bin in Zürich aufgewachsen, meine Mutter war alleinerziehend. Wir hatten nicht viel Geld, aber dafür soziales Kapital: Es gab viele Bücher, ich konnte aufs Gymnasium gehen und dann studieren. Es ist ein soziales Milieu, in dem man nicht überlegen muss, wie man die Miete bezahlt – zumindest nicht jeden Monat. Gewisse Privilegien sind da. Trotzdem gibt es dieses Spannungsfeld und Paradox, das sich um die Frage dreht: Kann es mir überhaupt schlecht gehen und kann ich so viel Stress haben, obwohl doch eigentlich alles in Ordnung ist?
Ich finde es schwierig, einen Selbstwert zu formulieren, der nicht mit meiner Arbeit zu tun hat.
Ich habe vor einigen Jahren einen Artikel von dem US-Journalist Derek Thompson dazu gelesen, seitdem hat mich das Wort begleitet. Es geht um die Vorstellung, dass Arbeit keine Notwendigkeit darstellt, sondern den Kern der Identität. Ich fühlte und fühle mich sehr davon ertappt. Wenn bei mir ein Text nicht klappen will, dann habe ich eine Lebenskrise. Weil meine Arbeit so viel Raum einnimmt und mir so wichtig ist. Ich finde es schwierig, einen Selbstwert zu formulieren, der nicht mit meiner Arbeit zu tun hat.
Es schwingt immer dieses Ideal der Selbstverwirklichung mit, gerade in kreativen Berufen. Man macht das, was man gerne macht und verdient damit Geld – dass das überhaupt geht, ist unglaublich. Aber man muss einsehen, dass es total wenige dieser Jobs gibt. Das Konzept kreiert eine Elite und eine Exklusion, weil es nur einige wenige gibt, die es schaffen und viele, die es nicht schaffen. Ich finde das Ideal von Workism also bescheuert, habe es aber total verinnerlicht. Es ist wie bei vielen Themen im Buch: Ich kritisiere sie auf einer sachlichen Ebene, aber sie sind mir so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich es schwer finde, mich davon zu lösen. Es ist ein permanenter Kampf.
Er ist sehr ernst gemeint. Ich bin ein sehr unironischer Mensch und ich meine alle Dinge in dem Buch sehr ernst, weil ich wirklich verstehen will, woher die Phänomene kommen und was sie bedeuten. Ich möchte vorab festhalten, dass das Internet total ambivalent ist, vielleicht die ambivalenteste Erfindung, die es je gab. Ich bin natürlich extrem froh, dass es das Internet gibt, es ermöglicht eine große Demokratisierung und gerade im letzten Jahr war ich extrem froh über die Möglichkeiten, digital vernetzt zu sein.
Ich bin so darauf konditioniert, allen gefallen zu wollen, dass eine App mit Likes wahnsinniges Suchtpotenzial hat.
Ich bin im Internet, seit ich ungefähr 13 bin. Es hat angefangen mit MSN, als ich stundenlang überlegte, welches Foto von Adriana Lima ich als Profilbild nehme. Aber früher war MSN oder Myspace auf dem Laptop im Wohnzimmer, man brauchte dafür einen Router und das gelbe Kabel. Wenn man den Laptop schließt, ist auch Myspace weg. Jetzt ist alles in diesem kleinen Gerät und ich finde es total schwierig, nicht permanent mit einem Teil des Kopfes in dieser Welt zu sein. Ich bin sehr anfällig für all die Anreize in den Apps. Social Approval zum Beispiel: Ich bin so darauf konditioniert, allen gefallen zu wollen, dass eine App mit Likes wahnsinniges Suchtpotenzial hat. Oder der Slotmachine-Effekt: Jedes Mal, wenn du aufs Telefon guckst, könnte etwas auf dich warten.
Durch mein Smartphone ist es für mich so schwer, einfach hier in meiner Wohnung zu sein, auch mal Leere auszuhalten – weil man sie immer füllen könnte.
Dadurch ist es für mich so schwer, einfach hier in meiner Wohnung zu sein, auch mal Leere auszuhalten – weil man sie immer füllen könnte. Nicht permanent daran zu denken, was andere gerade tun, welchen Film man schauen sollte, welche Debatte man gerade nicht mitkriegt. Ob man etwas posten sollte, ob man abstürzt im digitalen Ranking. Ich habe das Gefühl, ein Sechzehntel meines Gehirns ist permanent mit diesen Fragen beschäftigt. Konzentration wird etwas sehr Mühevolles.
Immer, wenn ich das Gefühl hatte, ich habe etwas in Worte gefasst, dann taucht die nächste Frage auf. Die Gedanken kreisen weiter.
Ich kann nur eine etwas generellere Antwort darauf geben: Auch beim Internet geht es ums Grübeln, um Gedankenkreise. Bei allen Ängsten, wie zum Beispiel der Angst, etwas zu verpassen, habe ich den Eindruck, dass das Schreiben die Angst zumindest etwas kleiner macht. Sobald man etwas in eine Erzählung gießt und auf Papier bringt, ist es weniger abstrakt. Ängste ziehen ihre Unheimlichkeit daraus, dass sie so abstrakt sind. Wenn sie eine Form bekommen, werden sie weniger bedrohlich. Aber immer, wenn ich das Gefühl hatte, ich habe etwas in Worte gefasst, dann taucht die nächste Frage auf. Die Gedanken kreisen weiter.
Für viele dieser Probleme braucht es individuelle Lösungen, sie sehen bei jeder Person anders aus. Ich bin nicht qualifiziert, irgendwem zu sagen, wie sie die Dinge angehen sollen. Ich habe keinen Vorbildcharakter und ich habe kein Rezept gefunden. Ich zeige nur, wie ich die Ängste und das Unbehagen durchkaue. Deshalb ist es höchstens ein Selbsthilfebuch in dem Sinne, dass es mir geholfen hat, gewisse Dinge abzulegen. Aber wenn man sagt, das Buch biete Rezepte für die Leser*innen an, wäre es Etikettenschwindel.
Damit ist die Vorstellung gemeint, dass man das „echte Leben“ auf einen Punkt verschiebt, an dem man denkt, dass dann alles gut sei. Der Schulabschluss, die letzte Prüfung, die Beförderung. Oder: Wenn ich das Geld zusammen habe für die Gucci-Tasche. Vielleicht auch: Im Juni habe ich endlich Urlaub, dann ist es okay, wenn sich das Leben jetzt mies anfühlt und ich so viel arbeite.
Meistens ist es so, wenn die letzte Prüfung geschafft ist und du denkst, du machst eine große Party, dann bist du nur müde und willst schlafen. Du bist auch nicht glücklicher.
Ich kann mir fast nicht zuhören, wenn ich das ausspreche, weil ich wie eine Meditations-App klinge. Aber es ist immer mein kleiner Reminder: Bitte verschiebe das Glücklichsein nicht.
Mir persönlich hat der Begriff zumindest die Anerkennung der Tatsache gebracht, dass es wichtig ist, den Moment wertzuschätzen. Oder das, was unmittelbar da ist, das Haptische und Momentane. Das fällt mir sehr schwer als hyperverkopfter Mensch– und ich kann mir fast nicht zuhören, wenn ich das ausspreche, weil ich wie eine Meditations-App klinge. Aber es ist immer mein kleiner Reminder: Bitte verschiebe das Glücklichsein nicht. Und ich muss nicht das Gefühl haben, alles aushalten und jeden Druck auf mich nehmen zu müssen.
An der Uni hatte ich das ganz extrem. Ich dachte, ich müsste alles aushalten, nicht schlafen, nur lernen. Wenn die letzte Prüfung geschafft ist, ist ja alles durch. Das hat mich psychisch sehr belastet. „Arrival Fallacy“ kann daran erinnern, dass es sich erstens nicht so geil anfühlen wird wie man denkt. Und dass man zweitens ernst nehmen sollte, was gerade ist. Auch wenn es vielleicht Müdigkeit oder Traurigkeit ist.
Das ist natürlich sehr komplex. Der Begriff selbst kommt von der Feministin Laurie Penny. Mir ist es für das Buch und bei allen anderen feministischen Themen immer sehr wichtig, mit anderen Feminist*innen und Autor*innen in den imaginären Austausch zu gehen – manchmal traue ich mir selbst nicht über den Weg und habe meine Gedanken gerne gespiegelt. Ich selbst bin überhaupt erst aus einem Unbehagen heraus zum Feminismus gekommen. Als Teenager hatte ich das Gefühl, irgendwas verschiebt sich, vor allem die Erwartungen an uns. Dann habe ich Laurie Penny und Naomi Klein gelesen und dachte: Holy Shit, die schreiben über mein Leben.
Ein kleiner Aspekt der Antwort auf die Frage, woher dieses Streben nach dem „perfekten Mädchen“ kommt, ist, dass Mädchen – oder Personen, die als Mädchen wahrgenommen werden – sehr früh darauf konditioniert werden, dass Wertschätzung von außen kommt. Es ist wichtig, dass du gut aussiehst, dass du süß bist, dass du flirtest.
Ja, bei mir persönlich war es so. Im Buch beschreibe ich, wie ein Schönheitsideal mir selbst sehr nahe ging. Es war ein Artikel in der „Bravo Girl“, wie man sich im Schwimmbad aufs Handtuch legen soll, um möglichst vorteilhaft auszusehen. Ich habe erst gedacht, es ginge darum, sich nicht mit Eis zu bekleckern – aber natürlich war das Ziel, möglichst schlank auszusehen. Das Thema war nicht, wie man viel Spaß hat, Sonnenbrand vermeidet oder coole Tauchtricks macht. Man sollte einfach nur schlank und hübsch aussehen. Da spürte ich einfach früh eine kognitive Dissonanz.
Es war der Widerspruch zwischen dem, wie ich mich von innen fühle, und dem Blick von außen: Sitzt die Frisur? Wie sieht der Hintern in der Hose aus? War ich zu laut, zu aufdringlich? Es gab immer diese kontrollierende Stimme von außen. Woher das kommt, darüber wurden Dissertationen geschrieben. Ich selbst hatte jedenfalls erst mit Mitte 20 die Erkenntnis, dass ich nicht das perfekte Mädchen sein muss, um einen Wert zu haben oder Liebe zu verdienen – und ich finde erschreckend, dass es so lange gedauert hat.
Ich habe gelernt, die kontrollierende Stimme etwas leiser zu machen und mich selbst auf einem anderen Weg wertzuschätzen. Eigentlich habe ich die Erkenntnis erst verinnerlicht, als ich dem Ideal mal nicht entsprach. Als ich nach dem Studium gehadert habe. Da habe ich verstanden, dass ich alles andere als perfekt bin, es aber trotzdem Leute gibt, die mich schätzen. Und zwar nicht dafür, dass ich süß in einem Tanktop aussehe, sondern zum Beispiel dafür, dass ich in Gesprächen gut zuhöre. Es gibt kein Rezept für alle, aber ich hätte mir schon gewünscht, dass es in der Schule eine Diskussion gegeben hätte, was gerade mit den Rollenbildern passiert.
In den letzten Jahren waren meine Angstzustände so krass, dass sie mich wirklich daran gehindert haben, in die Handlungsebene zu kommen. Aber jetzt finde ich: Da muss was gehen, ich will meine Ressourcen konstruktiv einsetzen.
Ja – also, in dem Sinne, dass ich verstanden habe, welche Rolle das Gedankenkreisen dabei spielt. Wenn mich zum Beispiel eine diffuse Angst plagt, wie etwa die Angst, im Job zu versagen, macht das obsessive Darüber-Nachdenken alles nur noch schlimmer. Durch das gedankliche Rumkauen tut sich in meinem Kopf ein Raum auf, in dem sich das ungute Gefühl unendlich potenzieren kann. Ich glaube, würde ein Säbelzahntiger vor mir stehen, würde ich einfach wegrennen. Und Handeln ist immer inkompatibel mit Angst. Wenn ich aber einfach hier sitze und mir überlege, warum sich das Leben so absurd anfühlt, auch nach bald dreißig Jahren auf dieser Erde, kann ich mich endlos in die Angst hineinsteigern.
Kommt drauf an. Es gibt ja auch diffuse Ängste, die aus sehr realen Tatsachen entspringen. Nehmen wir etwa die Klimakrise oder die soziale Ungleichheit. Da sind die Probleme konkret, aber zumindest in meinem Alltag kommen sie eher diffus daher – und trotzdem beschäftigen sie mich. Daher drängt sich die Frage auf: Okay, Nina. Du hast alle Ängste durchgekaut, now what? In den letzten Jahren waren meine Angstzustände so krass, dass sie mich wirklich daran gehindert haben, in die Handlungsebene zu kommen. Aber jetzt finde ich: Da muss was gehen, ich will meine Ressourcen konstruktiv einsetzen. Wie das aussieht, ist ehrlich gesagt eine offene Frage, die ich jetzt mit der Ernsthaftigkeit angehen möchte, mit der ich auch die Fragen im Buch angegangen bin.
Mir selbst geben Texte immer ein großes Gefühl von Verbundenheit und Intimität mit Autor*innen, die ich gar nicht kenne.
Wichtig ist mir einfach, dass das Buch keine fertige Analyse ist, sondern eine Einladung in meine Gedankenwelt. Mir selbst geben Texte immer ein großes Gefühl von Verbundenheit und Intimität mit Autor*innen, die ich gar nicht kenne. Man erhält Input, über das eigene Leben nachzudenken. Und bisher haben mir tatsächlich viele Leute gesagt, dass sie sich weniger allein gefühlt haben, nachdem sie mein Buch gelesen haben. Und ich habe jedes Mal fast geweint, als ich das gehört habe. Für mich gibt es kein größeres Geschenk. Was ich daher noch sagen möchte, ist einfach … Danke.
Hier könnt ihr das Buch „Ich denk, ich denk zu viel“ von Nina Kunz kaufen.
Teaserfoto: Goran Basic
Ein Kommentar
Liebe Nina
Ich bin zwar schon 61 und gehöre somit nicht zu deiner Generation. Aber ich habe dein Buch richtiggehend verschlungen und zig mal gedacht: „Genau, das kenne ich!“. Oft musste ich beim Lesen innehalten, weil ich in meine eigenen Erinnerungen eintauchte. Du hast gewissermassen „mein Buch“ geschrieben. Danke für dieses wertvolle Geschenk! Wünsche dir alles Liebe und Gute für dein weiteres Leben. Du packst das.
Manuela