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Feminismus

Alexandra Polunin: „Wir müssen Social Media endlich als unbezahlte Arbeit begreifen“

10. Dezember 2025

geschrieben von Julia Allmann

Alexandra Polunin kritisiert Social Media

Content posten, das eigene Leben permanent inszenieren, Social Media immer mitdenken: All das ist Arbeit, die wir leisten – und an der meist nicht wir selbst, sondern große Konzerne verdienen. Warum Social Media mit unbezahlter Care-Arbeit von Frauen* vergleichbar ist, wie es sich anfühlt, komplett auszusteigen und warum es auch möglich ist, als Online-Unternehmer*in ohne Social Media erfolgreich zu sein: Das erklärt Autorin und Marketingberaterin Alexandra Polunin im Interview. Ihr neues Buch „She works hard for no money" ist gerade erschienen.

"Beide Formen unbezahlter Arbeit stabilisieren bestehende Machtverhältnisse."

femtastics: Alexandra, in deinem neuen Buch „She works hard for no money” setzt du Social Media mit unbezahlter Care-Arbeit gleich. Das musst du uns erklären.

Alexandra Polunin: Der gemeinsame Nenner ist, dass beide Formen unbezahlter Arbeit bestehende Machtverhältnisse stabilisieren. Allerdings auf unterschiedliche Weise: Die klassische unbezahlte Care-Arbeit, die Frauen* leisten, stützt das Patriarchat: Sie ermöglicht es Männern*, Karriere zu machen und sich anschließend daheim von ihrer Lohnarbeit zu erholen.

Bei Social Media ist der Mechanismus ein anderer, aber strukturell vergleichbar: Unsere unbezahlte Content-Produktion stabilisiert die problematischen Geschäftsmodelle großer Plattformen. Einige sehr wenige, sehr reiche Männer* verdienen damit unvorstellbar viel Geld und nehmen Hate Speech, Desinformation und Diskriminierung in Kauf.

"Die Gruppe mit mehr Macht setzt immer auf diese Argumentation: Du machst es doch freiwillig und hast Spaß daran."

Aber stützen wir dieses System auch, wenn wir nur privat bei „Instagram“ unterwegs sind? Indem wir freiwillig und unverlangt Urlaubsbilder posten oder Memes teilen?

Ja und hier liegt eine weitere Parallele zur unbezahlten Care-Arbeit. Die Gruppe mit mehr Macht setzt immer auf diese Argumentation: Du machst es doch freiwillig und hast Spaß daran. Frauen* sagte man früher, sie seien von Natur aus besser für die Care-Arbeit geeignet, sie hätten ein Händchen dafür.

Die Betreiber der Social-Media-Apps setzen ebenfalls auf das Narrativ, dass die Nutzer*innen einen Vorteil davon haben: Dass sie sich mit dem Rest der Welt verbinden können, mit der Familie im Ausland Kontakt halten können, sich beruflich verwirklichen können und all diese positiven Dinge. Dadurch versucht eine mächtige Gruppe uns schmackhaft zu machen, dass wir kostenlos für sie schuften.

"Wir investieren so viel Zeit, Energie und auch Headspace in Social Media – wenn das nicht Arbeit ist, was dann?"

Was ist die Arbeit daran, wenn wir durch „Instagram“ oder „TikTok“ scrollen und gelegentlich etwas posten?

Wir investieren so viel Zeit, Energie und auch Headspace in Social Media – wenn das nicht Arbeit ist, was dann? Es ist wichtig, dass wir es als Arbeit begreifen, um einen Diskurs darüber zu eröffnen. Erst, als man angefangen hat, Care-Arbeit als Arbeit zu verstehen und nicht als Spaß oder Liebe, konnten wir über Themen wie fehlende Bezahlung oder Ausbeutung reden.

In deinem Buch stellst du verschiedene Arten der Arbeit in den Sozialen Medien vor. Das erste ist die Content-Arbeit. Damit sind nicht nur Creator*innen gemeint, die von den Inhalten leben, sondern alle Menschen, die etwas posten, richtig?

Genau, das fällt alles darunter – auch das Liken und Kommentieren. Das System braucht Daten und immer, wenn wir auf Social Media unterwegs sind, liefern wir sie. Auf Basis der Interaktion versteht das System, was Engagement erzeugt und wovon es mehr geben sollte. Wir liefern also sehr wertvolle Informationen. Und wo gibt es in der Offline-Welt Lieferant*innen, die nicht entlohnt werden wollen für das, was sie liefern?

Am meisten Aufwand ist natürlich die Erstellung des Contents, nicht nur bei Creator*innen – bei denen auf der Hand liegt, dass es Arbeit ist – sondern auch bei Privatpersonen, die Fotos posten. Sie machen sich Gedanken um Licht und um Posen, sie nutzen Filter und formulieren die passende Caption. Natürlich ist das Arbeit.

Hinzu kommt der Mental Load, über den man im Zusammenhang mit Social Media noch gar nicht viel spricht. Aber viele Nutzer*innen suchen den Alltag ständig nach potenziellem Content ab, legen einen Plan fürs Posten zurecht, sie tragen das Thema immer mit sich herum. Das kann sehr belastend werden und in alle Lebensbereiche eindringen.

"Frauen* stylen sich heute nicht mehr nur für Männer* oder für den Job, sondern für Social Media. Die ästhetische Arbeit für Frauen* weitet sich also massiv aus."

Als zweiten Aspekt nennst du die ästhetische Arbeit und führst als Beispiel den Hashtag #wokeuplikethis auf – der bringt das Thema auf den Punkt.

Lange galt, dass Frauen* sich schminken, hübsch anziehen und ‚schön machen‘, um Männern* zu gefallen – Emilia Roig beschreibt in ihrem Buch „Das Ende der Ehe“ sehr präzise, wie Mädchen früh lernen, ihr ‚erotisches Kapital‘ zu pflegen, um begehrt zu werden und als wertvoll zu gelten. Meine Beobachtung ist jedoch, dass Frauen* sich heute nicht mehr nur für Männer* oder für den Job stylen, sondern für Social Media. Die ästhetische Arbeit für Frauen* weitet sich also massiv aus.

Studien zeigen zum Beispiel, dass Schönheitsoperationen zunehmen, weil Menschen über Social Media immer mehr Informationen und Inspirationen zu solchen Eingriffen erhalten. Viele Frauen* sehen dort andere Frauen*, die offen über ihre Erfahrungen sprechen und bestimmte Eingriffe normalisieren. Es gibt zudem das Phänomen, dass Menschen sich so sehr an ihr gefiltertes Gesicht in Social-Media-Apps gewöhnen, dass ihnen ihr reales, ungefiltertes Spiegelbild fremd erscheint. Sie erleben dann einen Druck, dem Bild zu entsprechen, das sie online von sich zeigen.

Was mir ganz wichtig ist: Ich möchte nicht das individuelle Verhalten von einzelnen Frauen* kritisieren und ihnen die Verantwortung für eine Lösung zuschieben. Aber wenn wir auf das große Ganze blicken, ist völlig klar, dass Social Media nicht nur bedeutet, dass wir etwas posten und interagieren. Sondern es bedeutet für viele Personen, dass ihre ästhetische Arbeit massiv zunimmt.

Das gilt nicht nur für den eigenen Körper, sondern auch für die Gestaltung des Lebens. Du erwähnst in deinem Buch auch Phänomene wie #vanlife oder #couplegoals.

Das greift in das komplette Leben ein, in die Familie, in Beziehungen. Es gab vor einigen Jahren dieses Phänomen der Heiratsanträge bei Konzerten von Taylor Swift, die überall gepostet wurden. Man kann also nicht mal mehr in Ruhe beschließen, zu heiraten – das wird für Social Media mit den entsprechenden Hashtags inszeniert, damit es alle Menschen sehen und teilen können.

Alles muss instagrammable sein und das hat Auswirkungen auf die Umwelt. Beim Thema Reisen findet ebenfalls eine Ästhetisierung statt: Man reist zu den Orten, die sich möglichst schön für Social Media in Szene setzen lassen, das ist für diese früher verlassenen Geheimspots sehr problematisch. Die Gegenden können das teilweise gar nicht stemmen, was den Ansturm von Menschen oder die großen Mengen an Müll angeht.

"Wut und Hass sind die Treiber von Social Media. Das alles muss man erst einmal verarbeiten."

Der dritte Punkt ist die Emotionsarbeit, die wir leisten. Was steckt dahinter?

Den Begriff habe ich mir aus einem anderen Kontext geliehen: Von Emotionsarbeit ist oft in Dienstleistungsberufen die Rede, in denen es zum Job gehört, die Emotionen zu regulieren. Wer als Flugbegleiter*in arbeitet, kann nicht einfach die Menschen anschnauzen, sondern muss immer freundlich und höflich bleiben. Auch Personen, die von Rassismus oder anderen Arten von Diskriminierung betroffen sind, müssen häufig Emotionsarbeit leisten, weil sie im Alltag mit Mikroagressionen konfrontiert werden – das setzt viele emotionale Prozesse in Gang.

Ich übertrage den Begriff auf Social Media, weil wir dort mit so vielen emotionalen Inhalten konfrontiert werden. Das System verdient Geld mit Daten und Interaktionen, es spielt bevorzugt Inhalte aus, die möglichst viel Aufmerksamkeit generieren – indem sie möglichst viele Emotionen wecken.

Wut und Hass sind die Treiber von Social Media. Das alles muss man erst einmal verarbeiten. Für mich war die größte Erleichterung nach meinem Ausstieg, dass ich deutlich entspannter war, seit ich mich nicht mehr ständig dieser Wut und diesem Hass ausgesetzt habe. Oft hört man, Menschen brauchen Strategien, um damit umzugehen, aber das wälzt die Verantwortung auf die Einzelnen ab. Die Verantwortlichen hinter den Plattformen müssen dafür Sorge tragen.

Und der vierte Arbeitsbereich ist Selbstoptimierung. Wie unterscheidet sich das von der ästhetischen Arbeit?

Selbstoptimierung für Social Media durchzieht jeden Bereich des Lebens: Von der richtigen Uhrzeit, zu der ich aufstehe, um im 5-AM-Club zu sein, über die richtige Anzahl an Schritten bis dahin, wie mein Essverhalten auszusehen hat und wie ich insgesamt lebe. Es geht um das perfekte Selbst, das perfekte Ich, das perfekte Leben. Das erzeugt extrem viel Druck.

"Statistisch leisten Frauen* einfach mehr unbezahlte Care-Arbeit und jetzt kommt auch noch Social Media dazu."

Sind das in deinen Augen Themen, die nur oder vor allem Frauen* betreffen? Dein Buch heißt schließlich „SHE works hard for no money“.

Ich will nicht sagen, dass Männer* nicht von Selbstoptimierung oder ästhetischem Druck betroffen sind. Aber meine These ist, dass Frauen* statistisch einfach mehr unbezahlte Care-Arbeit leisten und jetzt auch noch Social Media dazukommt. Vor allem für Frauen* besteht deshalb die Gefahr, krass zu erschöpfen.

Apropos Erschöpfung: Du schreibst, dass du eine allgemeine Social-Media-Erschöpfung beobachtest – wie sieht diese aus?

Das schreibe ich vor allem aus meiner beruflichen Erfahrung. Seit meinem Ausstieg aus Social Media im Jahr 2020 bin ich als Marketingberaterin auf die Zusammenarbeit mit Menschen spezialisiert, die keinen Bock auf Social Media haben. Zu mir kommen Personen, die vielleicht seit Jahren selbstständig sind und sich bei „Instagram“ abstrampeln, um Kund*innen zu gewinnen, bei denen zieht sich das Social-Media-Marketing durch alle Lebensbereiche – und das wollen sie nicht mehr.

"Jetzt kann ich aktiv gestalten, woher ich meine Informationen beziehe, und nehme nicht mehr passiv alles auf."

Hast du irgendetwas vermisst, nachdem du all deine Accounts gelöscht hast?

Tatsächlich überhaupt nichts. Ich war vorher sehr aktiv auf „Instagram“, bin sehr vielen Menschen gefolgt, habe viele Infos aus der Plattform gezogen. Und natürlich gibt es am Anfang eine Phase der Entzugserscheinung – wie bei allen Formen von Dopamin-induzierten Dingen. Aber jetzt kann ich aktiv gestalten, woher ich meine Informationen beziehe, und nehme nicht mehr passiv alles auf. Ich überlege bewusst, mit wem ich Kontakt über Messenger halten will, welche Newsletter ich abonniere oder welche Podcasts ich höre.

Ich war überrascht, wie wenig Inspiration ich überhaupt brauche. Wenn ich etwas kochen will, suche ich über eine Suchmaschine oder frage Leute nach einem Tipp, ich brauche kein komplettes Pinterest-Board dafür. Ich habe mich umgewöhnt. Und wenn ich mal wissen muss, was jemand über seinen Account postet – zum Beispiel, weil manche Ausschreibungen nur über Social Media gepostet werden – dann gibt es Tools wie „imginn“, um das gezielt und anonym nachzusehen.

Viele Menschen nutzen Social Media für berufliche Zwecke. Nicht nur Creator*innen, sondern auch Unternehmer*innen, die über ihre Kanäle eine Community aufbauen. Könnten auch sie einfach aussteigen?

Vor einem möglichen Ausstieg sollte man unbedingt unabhängige Kanäle haben: eine eigene Website, einen Podcast, Newsletter oder Ähnliches. Also Kanäle, die man kontrollieren kann, bei denen nicht irgendein Mann* plötzlich sagt, der Algorithmus funktioniert jetzt anders.

Außerdem rate ich dazu, Fakten zu schaffen: Wie viel bringt mir Social Media wirklich? Ich selbst habe damals festgestellt, dass nur zwei Prozent aller Menschen, die meine Website besuchten, über „Instagram“ kamen. Dabei habe ich zwei Stunden pro Tag bei „Instagram“ verbracht, das stand in keiner Relation.

Wenn man als Grundlage eine Analyse dieser Fakten macht, kann man überlegen, über welche Touchpoints man die passenden Menschen erreichen kann: Ein Blog, Podcast, Gastaufritte in anderen Podcast, über klassische Pressearbeit. Wer die Zeit, die er sonst ins Social-Media-Marketing stecken würde, in diese Social-Media-freien Strategien investiert, kann ebenfalls viel erreichen.

"Entscheidend ist, dass wir uns andere Plattformen überlegen, die demokratisch kontrolliert werden – und nicht von rechtskonservativen bis rechtsextremen Milliardären."

Jetzt haben wir über mögliche Veränderungen auf individueller Ebene gesprochen. Was würdest du dir global gesehen wünschen, was soziale Netzwerke angeht? Wäre es möglich, sie weiterhin beizubehalten, ohne dass es all diese negativen Aspekte gibt, über die wir gesprochen haben?

Entscheidend ist, dass wir uns andere Plattformen überlegen, die nicht auf diesen problematischen Geschäftsmodellen basieren. Die nicht gewinnorientiert, sondern idealerweise gemeinnützig sind. Die demokratisch kontrolliert werden – und nicht von rechtskonservativen bis rechtsextremen Milliardären. Es gibt vielversprechende Ansätze wie das dezentrale Netzwerk „Mastodon“. Aber das ist leider noch sehr unbekannt.

Vielleicht schließen sich ja mal Frauen* zusammen, um solch ein neues Netzwerk zu gründen. Ich selbst habe leider nicht das nötige IT-Wissen, um diesen Job zu erledigen – aber das wäre in meiner Vorstellung die beste Lösung.

Hier findet ihr Alexandra Polunin:

Foto: Martina Hema