Anja Reschke kennen viele Menschen als Moderatorin der NDR-Sendung „Panorama“, in der die Journalistin seit 2001 vor der Kamera steht. Doch selbst wer sie als solche nicht kannte, lernte sie spätestens im August 2015 kennen, als Anja Reschke in den Tagesthemen einen Kommentar zur Hetze gegen Ausländer gab, der anschließend viral ging. Sie wurde daraufhin vom Medium Magazin als „Journalistin des Jahres“ ausgezeichnet sowie für ihren Kommentar für den Deutschen Fernsehpreis nominiert. Wir treffen Anja Reschke beim NDR, wo sie seit Januar 2015 auch Leiterin der Abteilung Innenpolitik im Programmbereich Zeitgeschehen/Fernsehen ist, um mit ihr darüber zu sprechen, warum sie den Kommentar sprechen wollte, wie sie mit Hasskommentaren im Internet umgeht und warum die Frauenquote immer noch wichtig ist.
Femtastics: Wo steht Ihrer Meinung nach heute der Feminismus?
Anja Reschke: Ich habe festgestellt, dass wir tatsächlich wieder in einer Zeit sind, in der es Frauen übler genommen wird als Männern, wenn sie den Mund aufmachen und Haltung zeigen. Der „Guardian“ hat untersucht, dass von zehn Artikeln mit den meisten Hasskommentaren acht von Frauen geschrieben worden sind. Die scharfen Reaktionen Frauen gegenüber müssen von Männern kommen, die damit nicht klarkommen, dass Frauen Meinungen äußern.
Die scharfen Reaktionen Frauen gegenüber müssen von Männern kommen, die damit nicht klarkommen, dass Frauen Meinungen äußern.
Das zeigt, wie wichtig feministische Themen sind.
Der Feminismus ist in Deutschland, anders als zum Beispiel in den USA, immer in so einer uncoolen Ecke. Feministische Themen sind noch zu wenig diskutiert.
Fehlen zum Teil auch weibliche Vorbilder?
Ich finde es schade, dass die starken Wirtschaftsfrauen, die wir in Deutschland haben, überhaupt nicht aus der Deckung kommen. Wir haben mittlerweile fast in jedem Dax-Unternehmen eine Frau im Vorstand. Aber kennt die jemand? Eine Person wie zum Beispiel Sheryl Sandberg gibt es hier nicht. Gerade für junge Frauen fehlen weibliche Vorbilder. Nicht, dass es sie nicht gäbe, aber sie sind nicht präsent genug.
Für Männer ist es jetzt eine doofe Zeit, weil sie, das muss man ehrlich sagen, gerade benachteiligt werden.
Sie setzen sich für die Frauenquote ein und unterstützen unter anderem den Verein Pro Quote. Warum?
Ein Thema, was mich geprägt hat, ist Gerechtigkeit. Im Prinzip geht es mir beim Umgang mit Flüchtlingen genauso um Gerechtigkeit wie beim Frauenthema. Ich finde es einfach ungerecht, dass eine Hälfte der Bevölkerung nicht die gleichen Chancen eingeräumt bekommt wie die andere. Auch im Journalismus haben männliche Chefs eher männlichen Nachwuchs gefördert. Ich denke, dass Pro Quote, dadurch, dass sie immer wieder darauf hingewiesen haben, etwas bewirkt haben. Es sind immer noch viele Männer Chefs, aber wenn sie eine Position neu besetzen müssen, heißt es jetzt: „Wir brauchen unbedingt eine Frau!“. Für Männer ist es jetzt eine doofe Zeit, weil sie, das muss man ehrlich sagen, gerade benachteiligt werden. Aber in den letzten fünf Jahren hat sich eben ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass man eine Stelle nicht automatisch mit einem Typen besetzen kann – was früher selbstvertändlich war. Das geht heute nicht mehr.
Man braucht doch nicht glauben, dass alle Männer, die für eine Position vorgeschlagen wurden, so irre kompetent waren. Das ist wieder ein Frauengedanke. Klar, man möchte keine Quotenfrau sein – aber egal!
Manche Frauen fühlen sich unwohl damit, nur deshalb für eine Stelle vorgeschlagen zu werden, weil sie Frauen sind.
Aber das ist, ehrlich gesagt, egal. Man braucht doch nicht glauben, dass alle Männer, die vorgeschlagen wurden, so irre kompetent waren. Das ist wieder ein Frauengedanke. Ich meine, wie viele Männer kennt man, die Jobs haben, bei denen man denkt: So gut wie der kann ich das auch. Klar, man möchte keine Quotenfrau sein – aber egal! Ich denke, solange wir nicht durch das mühsame Mittel einer Quote ein Gleichgewicht herstellen, ändert sich nichts.
Die Quote ist die Stellschraube.
Genau, wenn eine Balance hergestellt worden ist, kann man die Quote auch wieder abschaffen. Schauen wir uns den Bundestag an. Nachdem die Parteien die Frauenquote eingeführt haben, haben wir heute in allen politischen Richtungen Frauen mit an der Spitze.
Der Journalismus neigt extrem zu Breitbeinigkeit.
Ist der Journalismus noch zu männerdominiert?
Der Journalismus hat viel mit der Bewertung von Wichtigkeit zu tun. Wer entscheidet, welches Thema relevant ist? Was ist die große Titelgeschichte? Der Journalismus neigt extrem zu Breitbeinigkeit. (mit wichtiger Stimme) „Selbstverständlich, das hier ist die große, wichtige Geschichte. Wir haben da investigativ recherchiert und haben da sehr gute Zeugen …“ Diese männlichen Mechanismen funktionieren immer noch, aber sie sind schon aufgeweicht. Deshalb ist es manchmal auch amüsant, das zu beobachten.
Die Dinosaurier des alten Journalismus …
Es gibt sie noch, aber wenn sie irgendwo auftreten, dann bemerkt man gerade unter den Jüngeren die vielsagenden Blicke. Diese Zeiten sind vorbei.
Wollten Sie schon immer Journalistin werden?
Als Kind wollte ich Ärztin werden. Der Wunsch, Journalistin zu werden, entstand erst während meines Studiums. Ich habe Politikwissenschaften studiert und das ist ja kein Studium, das direkt in einen Beruf führt, deshalb muss man sich irgendwann überlegen, was man damit machen will. Ich habe Praktika beim Radio gemacht und es gefiel mir.
Was daran fanden Sie spannend?
Was ich bis heute total toll an dem Beruf finde, ist, dass man die ganze Welt sehen kann. Du kannst heute mit dem Obdachlosen und morgen mit dem Vorstandsvorsitzenden sprechen. Du kannst in alle Lebenswelten eintauchen, sie alle erleben und immer Fragen stellen. Man lernst wahnsinnig viel und nimmt viele Erkenntnisse mit. Wenn ich überlege, was ich schon alles gesehen habe! Es erweitert deinen Blick für die Welt.
War es Ihr Ziel, irgendwann vor der Kamera zu stehen – oder hat sich das eher zufällig ergeben?
Das hat sich zufällig entwickelt. Es ist ja sehr früh passiert. Die „Panorama“-Moderationsstelle war vakant und mein Chef sagte damals: „Mach mal beim Casting mit! Kannst dich mal ausprobieren!“. Es stand schon fest, wer die Stelle bekommen sollte und ich habe es nur aus Spaß ausprobiert. Dann hat sich aber herausgestellt, dass die andere Person gar nicht so glücklich vor der Kamera war und ich wurde genommen. Aber warum, das müsste man die Anderen fragen. Im Nachhinein sagen ja immer alle: „Wir wollten immer Dich!“ (lacht). Es hat mich also nicht vor die Kamera gedrängt, aber wenn ich jetzt ganz ehrlich bin und mich als Person betrachte, dann ist es auch nicht so überraschend.
Warum?
Weil ich schon immer jemand war, der eher extrovertiert als introvertiert ist.
Die Arbeit hinter der Kamera hätte nicht gereicht?
Das mache ich bis heute gerne. Das ist ja die wirkliche journalistische Arbeit. Vor der Kamera zu stehen und eine Moderation zu machen, ist nicht der pure Journalismus. Aber mit seinem Gesicht dafür zu stehen, ist auch etwas, was nicht jeder möchte.
Sind Sie vor der Kamera noch nervös?
In meinen normalen Sendungen bin ich routiniert. Ich bin aufmerksam, weil es ja Live-Sendungen sind. Ich merke immer nach den Sendungen, wie körperlich anstrengend sie sind, weil so viel Adrenalin im Körper ist. Aber aufgeregt bin ich eher als Gast in Talk-Sendungen. Du weißt nicht, was kommt und möchtest nicht doof wirken.
Welche Ziele haben Sie bei Ihrer Arbeit?
Was ich mir zum Ziel gesetzt habe, ist die Transformation ins digitale Zeitalter. Das lineare Fernsehen ist eine Sache, aber wir müssen unsere Geschichten auch übers Netz breiter zugänglich machen. Dafür musst du Strukturen schaffen, und der NDR ist – wie viele große, alte Unternehmen – ein bisschen wie ein Tanker, der nicht so schnell unter geht, aber bei dem es etwas dauert, bis man ihn umsteuert.
Ich stelle fest, dass viele Themen, die wir machen, die Menschen umtreiben. Nur kannst du sie ihnen nicht mehr erzählen, wie wir das im klassischen Fernsehen machen.
Gibt es schon Ideen, wie sich der NDR neu aufstellen will?
Wir denken da permanent drüber nach. Ich glaube, man muss es sehr differenziert sehen und die verschiedenen Redaktionen einzeln betrachten, weil sie ja sehr unterschiedliche Publika erreichen. Ich stelle fest, dass viele Themen, die wir machen, die Menschen umtreiben. Nur kannst du sie ihnen nicht mehr erzählen, wie wir das im klassischen Fernsehen machen: Moderation, Beitrag, Moderation, und so weiter. Das ist langweilig. Wir probieren unterschiedliche neue Sachen aus – ob über Facebook Live, oder wie neulich in einem Snapchat-Beitrag. Aber da tasten sich gerade ja alle ran. Und manche Sachen bei uns laufen auch total gut.
Aber es sind trotzdem zwei Welten?
Genau, und wir müssen beide bedienen. Auf der einen Seite die alte, lineare Fernsehwelt – die ist ja noch da. Wir erreichen mit „Panorama“ fünf Millionen Leute pro Sendung, das kriegst du auf Facebook oder YouTube auch nicht so einfach! – und auf der anderen Seite das neue Publikum. Und das ist nicht kompatibel. So wie du es dem älteren Publikum erzählst, kannst du es dem neuen nicht erzählen – und umgekehrt.
Also muss man die gleiche Geschichte mehrfach erzählen und immer anders aufbereiten?
Total!
Was ist Ihr Leitgedanke, was Themenfindung betrifft?
Das ist ganz klar und das macht die Marke „Panorama“ seit fünfzig Jahren aus: Dass du Themen machst, die relevant sind und interessant, die viele Menschen berühren und die einen gesellschaftlichen Stellenwert haben. Es passiert Unrecht überall auf der Welt, aber tatsächlich ist nicht jeder Einzelfall ein Thema für uns. Investigation bedeutet, dass du eine Geschichte erzählst, die vorher noch nicht groß erzählt worden ist. Aber inzwischen befeuern wir auch oft mit einem neuen Aspekt eine Debatte weiter. Im Moment sind wir in der Zeit der großen gesellschaftlichen Debatten, von daher ist es auch unsere Aufgabe, daran mitzuwirken.
Ich bin gerne eine Stimme im gesellschaftlichen Konzert – sowohl persönlich als auch mit den Sendungen.
Was gefällt Ihnen am meisten an Ihrer Arbeit?
Ich bin gerne eine Stimme im gesellschaftlichen Konzert – sowohl persönlich als auch mit den Sendungen. Jemand, der ein neues Element oder einen neuen Gedanken mit in Debatten bringt oder der dem Publikum zeigt: Guck mal, davon hast du noch nie gehört, aber das ist ganz schön wichtig.
Was braucht man für den Job?
Genauigkeit. Die Arbeit verführt dazu, schnell eine These zu irgendeinem relevanten Thema zu haben. Aber man muss seine These genau recherchieren und von zehn Thesen fliegen vielleicht acht in den Müll.
Sie beschäftigen sich auch viel mit den Medien und Medienkritik. Wie kann es sein, dass so viele Menschen anscheinend das Vertrauen in die Medien verloren haben und denken, wir hätten eine „Lügenpresse“?
Ich glaube, die wenigsten Menschen denken, wir hätten eine „Lügenpresse“. Das ist ein Kampfbegriff. Es gibt momentan, und nicht nur in Deutschland, ein extremes Aufbäumen gegen das vorhandene System, weil sich ein Teil der Menschen nicht mitgenommen, von den Eliten verarscht oder vernachlässigt fühlt. Was sich gezeigt hat, ist, dass ein Teil der Bevölkerung den politischen Weg, der momentan in der Bundesrepublik beschritten wird, nicht mitgeht. Besonders im Hinblick auf die Flüchtlingspolitik. Und die Medien werden als Teil dieser Elite, die den Weg vorgibt, gesehen. Auch wenn die Medien nicht die Politik machen – aber wir sind viel einfacher zu erreichen. Und die Medien haben an dem System, so wie es ist, mitgewirkt – logischerweise, weil sie Teil des demokratischen Prozesses sind. Hinzu kommt, dass es einen sehr angeheizten Rechtspopulismus gibt. Zu behaupten „Die Presse ist gesteuert, ihr werdet verarscht!“, ist eine sehr einfache Erklärung für die wahnsinnig komplexen Probleme, die wir haben.
Man möchte sich auch gar nicht im Detail mit der Berichterstattung beschäftigen, oder? Es bleibt meist bei Verallgemeinerungen.
Ja, wenn man die Menschen konkret nach einzelnen Beiträgen fragt, geben sie zu, dass die Berichterstattung gar nicht einseitig ist. Immer in Zeiten, die politisch sehr poralisiert sind, wird der Zuschauer in übertriebenem Maße das wahrnehmen, was gegen seine These spricht und sich darüber aufregen – selbst wenn der Medienbeitrag neutral ist. Das heißt „Hostile Media Effect“.
Im August 2015 und auch im Januar 2016 haben Sie in der ARD mit Kommentaren öffentlich Stellung bezogen zu Themen wie rechtsextremer Gewalt und den Flüchtlingsströmen sowie zu den sexuellen Übergriffen in Köln. Warum wollten Sie diese Kommentare geben?
Der Kommentar im Sommer war mir wichtig, weil ich in diesem August, als es so hoch her ging, merkte, dass es eine Sprachlosigkeit gab. Der Bundespräsident und die Kanzlerin waren im Sommerurlaub und niemand sagte etwas zu der herrschenden Situation. Kommentare gibt es jeden Tag und ich wollte eben etwas zu diesem Thema sagen. Ich scheine damit einen Nerv getroffen zu haben. Anscheinend ging es vielen Menschen so, dass sie vorher dachten: „Warum sagt denn niemand etwas dazu?“ Deshalb ist mein Kommentar so eingeschlagen. Damit habe ich mich sofort in die Situation gebracht, eine Art Sprachrohr für die Flüchtlinge zu sein – was Quatsch ist, weil ich das nicht beabsichtigen wollte. Mir ging es darum zu sagen: „Hey, ich dachte, hier würde es nicht mehr passieren, dass Flüchtlingsheime brennen!“ Das hatte mich schockiert.
Wie kam es zum zweiten Kommentar zu den Vorfällen an Silvester?
Dadurch, dass ich dann so eine Projektionsfläche war, habe ich nach Silvester natürlich sehr viel Post bekommen in Richtung: „Siehste, deine geliebten Flüchtlinge! Und jetzt sagt ihr nichts! Jetzt, da bewiesen ist, wie schlimm die sind, sagt ihr gar nichts!“ Deswegen hatte ich das Gefühl, ich muss auch dazu etwas sagen. Aber es ist trotzdem auch ganz grundsätzlich: Ich stehe jeden Tag in der Kommentarliste für die „Tagesthemen“, theoretisch könnte ich jeden dritten Tag einen Kommentar sprechen.
Haben Sie sich mit dem Applaus, den Sie für die Kommentare erhalten haben, unwohl gefühlt?
Auf der einen Seite habe ich mich gefreut, dass das Thema so viel Zuspruch bekommen hat. Ich habe gemerkt, dass es immer noch genügend Menschen gibt, die nicht gut finden, was gerade passiert. Aber zu so einer Projektionsfigur zu werden, damit habe ich weder gerechnet noch habe ich das gewollt. Das macht auch Journalismus schwer. Meine Aufgabe als „Panorama“-Journalistin ist ja auch, Thesen zu einer Debatte beizutragen und wenn du jedes Mal auf eine Art wahrgenommen wirst, die nichts mehr mit der Sache zu tun hat, sondern nur noch mit deiner Person, dann ist das wirklich schwierig.
Das, was sich seit letztem Sommer im Netz an Wut abspielt, hat niemand vorher gekannt.
Sie haben auch viele Hasskommentare bekommen.
Das, was sich seit letztem Sommer im Netz an Wut abspielt, hat niemand vorher gekannt. Und immer wenn du dich äußerst, dann kommt wieder eine Hasswelle. Das ist schon brutal.
Wie gehen Sie damit um?
Mal besser, mal schlechter. Manchmal denkt man sich: So, Freunde, jetzt erst recht! Manchmal fragt man sich, ob man stark genug ist, jetzt wieder einen Kommentar zu sprechen. Aber wenn man es nicht macht, dann machen sie dich mundtot. Aber ich denke auf jeden Fall sehr viel darüber nach. Und es macht mir Sorgen, dass diese Gesellschaft so gespalten ist. Und ich frage mich: Wie kommt das je wieder zusammen?
Vielen Dank für das Gespräch!
Fotos: Silje Paul
4 Kommentare
wie hab ich mich ueber dieses interview in meinem reader gefreut. tolle frau!
lieben dank dafuer
Ich habe mich über dieses Interview total gefreut, eine wirklich tolle Frau – nur finde ich den Titel nicht besonders glücklich gewählt und habe mich schon über ihn gewundert, bevor ich anfing, zu lesen. Ich finde nicht, dass das Zitat für das steht, was sie im Allgemeinen im Interview äußert.
Allein das Lesen dieses Interviews in meinem Reader hat mich so gefreut. Hervorragende Frau!
die Dankbarkeit ist gegenseitig, vielen Dank