Selfcare oder Schönheitsdruck? Warum die Rückkehr der Diätkultur politisch ist
10. Juli 2025
geschrieben von Alicia Metz-Kleine

Auf Social Media sind die Zeiten von Body Positivity vorbei. Influencer*innen und Unternehmen nutzen den Wunsch nach einem besseren Lebensgefühl, um unter Schlagwörtern wie "Longevity", "Selfcare" oder "gutes Körpergefühl" Produkte zu verkaufen – oft ohne zu erwähnen, dass es in Wahrheit um Diäten und Körperoptimierung geht. Doch was macht das mit unserem Bild von Gesundheit und Selbstwert? Wie viel Raum bleibt da für echte Vielfalt und körperliche Akzeptanz? Und was haben diese Entwicklungen mit Politik zu tun?
Diätologin und Ernährungstherapeutin Isabel Bersenkowitsch spricht im Interview über die Rückkehr schädlicher Körperideale auf Social Media, warum der BMI längst ausgedient hat und wie ein gewichtsneutraler Ansatz Menschen zu mehr Selbstbestimmung und Wohlbefinden verhelfen kann. Ein Gespräch über politische Machtverhältnisse, intuitive Ernährung und die Kraft der Community.
"Es werden wieder nahezu ausschließlich dünne Körper repräsentiert."
femtastics: Aktuell erleben wir eine Kehrtwende auf Social Media was Körperbilder angeht. Teils offensichtlich zum Beispiel mit Inhalten unter dem Hashtag #skinnytok, das tatsächlich gerade von “TikTok” gesperrt wurde, teils subtil mittels Wellness- und Fitnessvideos. Wie hat sich in den letzten Jahren der Blick auf Körper, Gewicht und Gesundheit durch die Inhalte auf Social Media verändert?
Isabel Bersenkowitsch: In den letzten zehn Jahren gab es den Body Positivity- oder Body Neutrality-Trend, der für viele total entlastend war. Jetzt gibt es wieder mehr Druck, dünner zu sein. Es werden wieder nahezu ausschließlich dünne Körper repräsentiert. Modemarken nehmen die größeren Größen aus den Geschäften. Die Message dahinter: Mehrgewichtige Menschen sollen nicht in ihr Geschäft kommen. Das alles wird auf Social Media sichtbar. Viele Influencer*innen, die sich in den letzten Jahren sehr stark für Körpervielfalt und Respekt eingesetzt haben, nehmen gerade selbst viel ab.
"Es kann definitiv einen Schaden anrichten, wenn man immer wieder das Gefühl kriegt, man sei falsch."
Wie wird das begründet?
Manche von ihnen sagen, sie haben sich lange selbst belogen, dass sie ihren Körper so wie er sei akzeptieren würden. So schwinden nach und nach die Vorbilder für diverse Körperbilder. Ich merke, dass das bei meinen Klient*innen sehr viel Druck auslöst. Viele hinterfragen sich, ob sie irgendetwas falsch machen und ob sie vielleicht doch eine medikamentöse oder chirurgische Therapie in Anspruch nehmen sollten. Sie haben eigentlich ein gesundes Verhalten, aber einen Körper, der vermeintlich nicht in die Norm passt.
Inwiefern beeinflussen soziale Medien unser Körperbild und unser Essverhalten – bewusst oder unbewusst? Wo siehst du die Gefahren für (junge) Menschen (vor allem Frauen*), die auf “TikTok” oder “Instagram” täglich mit Fitness-, Diät- und Schönheits-Content konfrontiert werden?
#skinnytok ist eine Modernisierung der „Pro Ana Kultur“, die früher schon sehr schädlich war. Das hat nichts mit Gesundheit zu tun. Die Verhaltensweisen, die wir da sehen, gleichen stark denen, die Menschen mit Essstörungen haben. In den sozialen Medien wird das total glorifiziert. Also ja, es hat einen enormen Einfluss, oft subtil, und das ist ein großes Problem. Auf der rationalen Ebene wissen wir, dass vieles nicht echt ist und dass bestimmte Posen oder Filter eingesetzt werden.
Emotional macht das trotzdem was mit uns, unserem Weltbild und mit dem, was wir als Normalität verstehen. Man vergleicht sich automatisch mit diesen Bildern. Das lässt sich nicht abstellen. So funktioniert das menschliche Gehirn. Es kann definitiv einen Schaden anrichten, wenn man immer wieder das Gefühl kriegt, man sei falsch.
#skinnytok ist ein extremes Beispiel,”TikTok” hat das Hashtag gerade gesperrt. Wie unterscheidest du zwischen Selbstbestimmung über den eigenen Körper und der Anpassung an ein unterdrückendes System?
Diese Welt ist kein sicherer Ort für Menschen, die einen größeren Körper haben. Es ist unter diesen Umständen nachvollziehbar, dass Personnen sich für Respekt einsetzen und gleichzeitig ihren Körper anpassen, um mehr Sicherheit und weniger Diskriminierung zu erfahren. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir bei Influencer*innen nicht immer die ganze Wahrheit sehen. Wir sehen das, was sie uns zeigen wollen.
Die Frage ist, WIE darüber geredet wird. Wenn zum Beispiele eine „Abnehm-Journey“ im Vordergrund steht, man viele Vorher-Nachher-Bilder sieht und das Abnehmen glorifiziert wird, dann ist es auf jeden Fall schwierig. Die Bilder und der Fokus auf diese Themen können bei den Follower*innen das Gefühl auslösen, dass es richtig und falsch gibt. Und dass Abnehmen ganz einfach ist, wenn man nur XYZ macht. Die Frage ist also: Was steht im Fokus des Contents? Sehen wir eine Person, die abnimmt und das bleibt unkommentiert? Oder geht es wirklich nur noch ums Abnehmen?
"Mangelernährte Frauen* können keine starken Gegner*innen sein, weil sie Hunger und keine Energie mehr haben, sich zu wehren."
Was hat das alles mit Politik zu tun? Was verrät uns der gesellschaftliche Umgang mit mehrgewichtigen Körpern über Machtverhältnisse – etwa im Patriarchat und Kapitalismus? Und wie hängen Fettfeindlichkeit, Ableismus und rassistische Normvorstellungen zusammen?
Wir sehen in fast allen Ländern dieser Welt gerade einen Rechtsruck und damit verändern sich die Wertvorstellungen der Menschen. In einer rechten Kultur geht es um traditionelle Werte. Bezüglich Körperbilder ist das die schlanke, weiße, normschöne Frau*, die zu Hause bleibt, sich um sich selbst und um ihr Aussehen kümmert. In erster Linie, um ein schönes Accessoire für den Mann* zu sein.
Es geht viel stärker um Disziplin und um Anpassung. Diversität wird total abgelehnt, auch bei Körpern. Das Politische mischt sich wieder sehr stark ein, vor allem bei Frauen* und ihrer Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Das Patriarchat hat das Ziel, Macht auszuüben über Frauen* und Personen, die chronisch mangelernährt sind. Diese Frauen* können keine starken Gegnerinnen sein, weil sie Hunger und keine Energie mehr haben, sich zu wehren.
Welche Rolle spielt das Medikament "Ozempic" bei dieser Entwicklung?
Medikamente wie “Ozempic” machen ein solches Körperbild greifbarer. Kurz zum Hintergrund: Hormone und Biologie sind meistens die Gründe, die beim Abnehmen dazu führen, dass man wieder Gewicht zunimmt. Die meisten Menschen scheitern ja nicht, weil sie es nicht wirklich wollen, sondern weil der Körper einen richtig starken metabolischen Widerstand dagegen hat, dass sich das Gewicht langfristig nach unten bewegt oder eben dort bleibt. Mit diesem Medikament wird die Biologie, die es dem Körper so schwer gemacht hat, das Gewicht zu halten, umgangen. Aktuell sehen wir viele Vorbilder, wie Oprah Winfrey oder Adele sowie viele Influencer*innen, die damit schlank oder einfach nur noch schlanker werden. Das unterstützt diese ganze Dynamik zusätzlich.
"Die Perspektive, dass ein hohes Gewicht ungesund ist, ist total vereinfacht."
Du sagst, der BMI ist ein überholtes, sexistisches, rassistisches Konstrukt. Kannst du das genauer erklären?
Der BMI wurde 1830 von dem belgischen Mathematiker und Astronom Adolphe Quetelet entwickelt. Er war kein Mediziner. Er hat nur die Aufgabe bekommen, bei einer bestimmten Population zu schauen, wie die Normalverteilung ist. Und was waren seine Referenzwerte? Seine Studienpopulation? Er hat für die Auswertung der Normalverteilung ungefähr 5.000 weiße männliche Soldaten genutzt.
Und das sind bis heute die Referenzwerte. Es gibt keine Unterschiede für Menschen mit anderen Ethnizitäten oder für Frauen*. Das ist total verrückt. Der BMI misst keine Muskelmasse, keine Fettanteile. Wir wissen nicht, wie es metabolisch in diesen Menschen wirklich aussieht. Diese Referenzwerte sind komplett absurd und waren nie dazu gedacht, beim Individuum und zur Diagnostik eingesetzt zu werden. Es ging ursprünglich eigentlich darum, Gruppen und Veränderungen über die Zeit zu beobachten.
Unglaublich, dass der BMI trotzdem so einen hohen Stellenwert hat. Du bist Mitgründerin von “HoLi - dem ersten gewichtsneutralen Gesundheitszentrum”. Was bedeutet für dich ein gewichtsneutraler Ansatz in Bezug auf Gesundheit und Körperwahrnehmung? Und warum wäre es gesellschaftlich so wichtig, dass er überall mehr beachtet wird?
Ich habe viele Patient*innen und Klient*innen, die mir erzählen, dass sie von unserem System keine gute Unterstützung bekommen, weil Ärzt*innen weniger Zeit mit ihnen verbringen. Sie haben teilweise tagelang vorher Stressreaktionen wie Herzklopfen, weil sie Angst davor haben, in Praxen wieder diskriminiert zu werden. Es geht in den Praxen oft nur ums Körpergewicht und es gibt keine wirkliche Hilfe für diese Personen.
Dabei ist die Perspektive, dass ein hohes Gewicht ungesund ist, total vereinfacht. Trotzdem führt sie in der Gesellschaft zu starker Diskriminierung und Stigmatisierung. Es gibt so viele negative Zuschreibungen und viele mehrgewichtige Menschen sind sehr viel Hass ausgesetzt, vor allem in den sozialen Medien. Diese Diskriminierung ist ein riesiges Gesundheitsproblem. Deshalb braucht es gerade vom Gesundheitssystem einen neuen Ansatz, bei dem es nicht mehr ums Gewicht geht. Es ist so wichtig, dass es keine Schuldzuschreibungen gibt, auch wenn jemand es nicht schafft, abzunehmen. In diesem Zusammenhang braucht es das Wissen, dass wirklich fast niemand langfristig abnehmen kann. Menschen sind nicht "selber schuld".
" Es braucht das Wissen, dass wirklich fast niemand langfristig abnehmen kann. Menschen sind nicht selber schuld."
Trotzdem hält sich hartnäckig das Vorurteil, dass mehrgewichtige Personen automatisch ungesünder und unfitter seien als schlanke Menschen. Was sagt die Wissenschaft dazu?
In Studien mit gewichtsneutralem Studiendesign sieht man, dass der BMI gar nicht so viel Aussagekraft hat. In vielen Studien werden leider nur der BMI und die Gesundheit untersucht, aber sobald eine weitere Komponente hinzukommt, sehen die Ergebnisse schon ganz anders aus. Studien mit gewichtsneutralem Studiendesign nehmen meist noch die Komponente „Verhalten“ dazu. Sobald man in diesen Studien differenziert, sieht man, dass ein hoher BMI gar nicht so einen großen Einfluss hat. Eine mehrgewichtige Person, die abwechslungsreich isst, sich ausreichend bewegt, nicht raucht, wenig Alkohol trinkt, hat fast kein höheres Risiko als Menschen mit niedrigerem BMI. Ein gesundes Verhalten hat also großen Einfluss. Diese Verzerrungen in Studien aufgrund des Körpergewichts nennt man "Weight Bias".
Das heißt, eine Verhaltensänderung alleine kann die Gesundheit schon fördern und ist potenziell auch nachhaltiger, weil ich nicht das Risiko eines Jojo-Effekts habe, der die Gesundheit extrem belastet.
"Der Austausch mit Gleichgesinnten ist wichtig, damit wir uns nicht so allein fühlen und die Kraft haben, uns wehren zu können."
Im Zusammenhang mit einem gewichtsneutralen Ansatz spielt auch intuitives Essen eine große Rolle. Warum?
Wenn es keine Diätkultur gäbe, dann wäre intuitives Essen einfach nur Essen. Es gibt ganz viele mehrgewichtige Personen oder Personen mit Essstörung allgemein, die gar nicht mehr wissen, wie einfach Essen sein kann. Das Thema ist bei ihnen total verkopft. Man hört viel über Ernährung, über Regeln und Konzepte, und versucht, das alles umzusetzen. Dadurch wird Essen wie zu einer Obsession. Man nennt das auch "Food Noise", wenn man den ganzen Tag nur noch über Essen nachdenkt: „Was esse ich? Wie viel? Wann?“. Das ist sehr belastend.
Wie funktioniert dieses Konzept genau?
Das intuitive Essen ist ein ernährungstherapeutisches Konzept, das bei diesen Belastungen helfen kann. Dabei lernt man, körpereigene Signale wie Hunger und Sättigung wieder zu spüren. Man lernt überhaupt, die Sättigung wieder zu fühlen und sich in Achtsamkeit zu üben. Es geht auch darum, auf der Nährstoffebene zu spüren: Was tut mir überhaupt gut? Was macht es mit meinem Körper, wenn ich Fast Food esse? Unabhängig von Kalorien und ob das Essen dünn oder dick macht. Wie fühle ich mich denn danach? Und wie fühle ich mich, wenn ich etwas koche, in das ich etwas Zeit investiere und dann nährstofftechnisch besser versorgt bin?
Es gibt in der Diätkultur viele Regeln und Konzepte und dadurch ungünstige Dynamiken, die Patient*innen und Klient*innen sehr belasten. Sie essen zuerst gar nichts, dann viel zu viel. So entsteht häufig ein Pendel der Extreme. Das intuitive Essen ist ein Konzept, das diese Dynamiken, die bewusst oder unbewusst sind, anspricht und bearbeitet. Dadurch bringt es Erleichterung und die Person kann sich wieder auf andere Dinge konzentrieren.
In Anbetracht der aktuellen Entwicklungen, des Rechtsrucks, der Fettfeindlichkeit und genormten Körperbilder: Wie kann man sich als einzelne Person vor diesen Einflüssen schützen?
Der Austausch mit Gleichgesinnten ist wichtig, damit wir uns nicht so allein fühlen und die Kraft haben, uns wehren zu können. Wenn wir merken, dass wir viele sind, können wir besser Grenzen setzen. Das hilft auch dabei, gut für sich zu sorgen. Ich biete ein Gruppencoaching an, das “Food Freedom Programm”, und der Satz, den ich am häufigsten höre, ist: "Es ist so schön, nicht alleine zu sein." Die Teilnehmer*innen finden sich in den Geschichten der anderen wieder. Viele denken vorher, sie seien totale Aliens mit ihrem Anliegen, aber das sind sie nicht. Es betrifft viele und das zu wissen hilft enorm.
Hier findet ihr Isabel Bersenkowitch:
Fotos & Collage: "Canva"