Die Münchner Designerin Jessica Dettinger liebt Mode, verfolgt aber einen eher unkonventionellen Ansatz: Sie pfeift auf Saisons und Geschlechter und begreift Mode eher als ein großes, übergeordnetes System. Immer aus der Theorie kommend, entwickelt sie Kleidungsstücke für ihr Label Form of interest skulptural und geschlechtsunabhängig. Dabei interessieren sie besonders gesellschaftspolitische Themen wie Emanzipation und Feminismus, der den Mann nicht ausschließt. Jessica Dettinger steht ein für die Anerkennung von Andersartigkeit und will den Mut fördern, dies zu leben, ohne sich von gesellschaftlichen Normen einschränken zu lassen.
Unsere erste Homestory aus München führt uns in Jessicas Wohnung, die gleichzeitig als Atelier dient. Servus, München!
Jessica Dettinger: Nach dem Abi wollte ich entweder was mit Kunst oder mit Psychologie machen – ich war immer sehr an Menschen interessiert. Ich war dann ein Jahr lang an einer Kunsthochschule am Bodensee, wo man Mappen machen konnte. Ich wollte testen, ob ich einen kreativen Prozess auf Dauer aushalten kann. Anschließend habe ich Modedesign studiert, da ich Mode einfach unheimlich spannend finde. Mode ist mehr als nur Kleidung, sie stellt für mich die Verbindung zwischen Mensch und Kunst dar, mit der Gesellschaft und dem Individuum im Vordergrund.
Mode bedeutet für mich die sensible Wahrnehmung einer Zeitströmung.
Mode bedeutet für mich die sensible Wahrnehmung einer Zeitströmung, die in alle Bereiche geht: Musik, Literatur, Lebensweisen …
Kleidung und Accessoires sind ein Teil davon, aber Mode ist ein viel größeres System. Sie ist eine Art Medium, um Diskussionen zu führen und auf Sachverhalte soziologischer Natur aufmerksam zu machen.
Unbedingt! In der Mode steckt so viel Inhalt drin. Und sie sagt unglaublich viel über Menschen aus. Und es gibt immer den Link zur Kunst.
Ich arbeite sehr theorielastig, soziologisch, psychologisch – daraus entstehen dann Kleidungsstücke oder Objekte. Die Mode definiert für mich Kunst und Psychologie weiter.
Ich schaue mir generell die moderne Gesellschaft an, interessiere mich für Feminismus oder die Emanzipation der Männer.
Meine Arbeitsweise lässt sich vielleicht am Beispiel des Künstlers Matthew Barney ganz gut erklären. Sein Werk “River of Fundament“ wurde in München ausgestellt. Die wirkliche Arbeit ist dabei das Narrative, also der Film, den er gemacht hat. Irgendwann kommen dabei dann Objekte oder Zeichnungen heraus. Ich arbeite genauso. Ich schaue mir generell die moderne Gesellschaft an, interessiere mich für Feminismus oder die Emanzipation der Männer. Ich lese sehr viel von Jean Baudrilliard oder Byung Chul Han. Daraus entstehen Geschichten, zu denen sammle ich Bilder und mache dann Kleidungsstücke daraus.
Meine Bachelor-Arbeit beispielsweise war ein Buch zum Thema “Entmaterialisierte Dehumanisierung”, was ich geschrieben habe, woraus im zweiten Schritt Kleidungsstücke entstanden sind.
Mich interessiert nicht der Körper, sondern das Skulpturale – also, Kleidung um den Menschen herum zu drapieren. So, wie es in der japanischen Mode schon immer gelebt wird. Da ist es egal, ob der Körper einer Frau oder einem Mann gehört. Ich brauche einfach nur einen Körper, der die Mode hält. Es geht nicht darum, ob etwas attraktiv aussieht. Was attraktiv und ästhetisch ist, liegt immer im Auge des Betrachters und hat viel mit Gelerntem, vorgefertigtem Visuellen zu tun. Ästhetik spielt natürlich schon eine Rolle. Aber es geht nicht um sexy oder feminin …
Ich selbst habe noch nie in das typische Mädchen-Schema gepasst und wollte auch nie Prinzessin sein. Als ich angefangen habe, Mode zu machen, wollte ich mich also auch nicht festlegen. Ich habe Pullover, die von der Form her vielleicht tendenziell feminin sind, aber die werden ebenso gern von Männern getragen. Ich denke einfach nicht in Geschlechtern, da mich der Mensch generell interessiert.
Ich habe mit Männermode angefangen und mache auch immer noch Männermode. Mir ist es egal, ob Frauen oder Männer meine Sachen tragen. Es wird immer darüber gesprochen, dass es die Emanzipation bei Frauen gibt, aber es muss sie eben auch bei Männern geben. Denn erst durch die Emanzipation unterschiedlicher Männerollen kann ein nachhaltiger Feminismus funktionieren – denn dann braucht man ihn gar nicht mehr, emanzipierte Männer denken nicht in patriarchaischen Rollen.
Die Modeindustrie schafft sich gerade selbst ab.
Ich empfinde die Mode momentan ziemlich anstrengend mit ihren unzähligen Kollektionen und des verzweifelten Ausrufens entweder tausender oder gar keiner Trends. Ich bin da sehr kritisch. Eigentlich schafft sich die Modeindustrie gerade selbst ab. Besonders Fast Fashion ist der Horror. Auch hier bedarf es einer neuen Form der Emanzipation, man darf da nicht mitmachen.
Ich denke überhaupt nicht in Zyklen. Ich mache keine Sommer- oder Winter-Kollektionen. Dass man nicht schlecht produziert, sollte eigentlich auch klar sein.
Das ist auch der Grund, warum ich mit Pullovern angefangen habe. Ich mache Unikate mit dem Hintergrund, dass es nur ein Stück davon gibt. Das ist dann eher ein Gegentrend. Als ich angefangen habe zu nähen, habe ich ein Praktikum in einer Maßschneiderei gemacht, das fand ich total faszinierend. Da sollte man wieder hinkommen. So bekommt Kleidung wieder einen Wert. Es ist der alte Fashion-Gedanke: Haute Couture und Prêt-à-porter. Diesen Gedanken baue ich gerade in Form von Kleinserien, die den Unikatgedanken beinhalten, aber in einer begrenzten Stückzahl verfügbar sind, aus. Im Grunde geht es hier auch um einen Nachhaltigkeit: Ich möchte nicht zu viele Produkte auf den Markt werfen, der eh an Designprodukten übersättigt ist.
Nach dem Studium habe ich vier Jahre gar nichts mit Mode gemacht, sondern mich nur mit Kunst beschäftigt. Ich habe Kollagen und Installationen entwickelt. Mit BMW hat sich das irgendwann einfach so ergeben. Ich habe mich einfach beworben und es hat geklappt.
Das war im Sommer 2014. Ich wollte eigentlich eine Bewerbung für das Royal College of Art in London fertig machen. Ich bin dann in ein Atelierhaus in München gezogen und habe mit meiner ersten Männerkollektion angefangen, weil ich gern Menswear studieren wollte. So hat das angefangen und dann habe ich Videos ausgestattet und verschiedene Leute kennengelernt, die irgendwann meine Sachen verkaufen wollten. Aber es war nie geplant! Ich wollte nie ein Label gründen!
Es ist sehr anstrengend, weil ich Vollzeit bei BMW arbeite. Aber Mode kostet eben auch viel Geld, irgendeinen Kompromiss braucht man schon. Ich möchte Form of interest noch professioneller aufziehen und mich für die Zukunft gut aufstellen. Außerdem bin ich noch Dozentin und unterrichte Grafikdesignstudenten und halte Vorträge and Hochschulen und auf unterschiedlichen Veranstaltungen. Das macht mir sehr viel Freude, Studenten zu unterstützen und zu bestärken. Eine Vision kann nur verbreitet werden, wenn man bescheiden mit anderen das Wissen teilt und sie in ihren Fähigkeiten bestärkt und ermutigt.
Überhaupt nicht! Ich habe für BMW gearbeitet und wurde sofort in eine Schublade gesteckt. Es kostet viel Anstrengung, sich nicht unterbuttern zu lassen und sich Respekt zu verschaffen. Es geht um eine generelle Sensibilisierung von Andersartigkeit. Ob das nun Feminismus oder Männer-Emanzipation ist.
Allein, wenn man sich mal anschaut, wie schwer es Frauen haben, die Kinder bekommen und dann wieder in den Job wollen. Die Gesellschaft kriegt es nicht hin, diese Frauen wieder zu integrieren.
Gerade mit Anfang 30 ist es eigentlich immer Thema. In der Kleinstadt, aus der ich komme, leben die Frauen in ihrer Blase. Die sind verheiratet und kümmern sich nur um ihre Kinder. Frauen fallen immer noch schnell in eine Rolle rein, die ihnen anerzogen wurde. Hier muss man sagen, steh auf und geh! Du musst nicht in dieser Blase leben!