Ilona Hartmann: „Ich würde immer dazu raten, sich extrem offen zu machen für Enttäuschungen.“

Kaum eine Person des öffentlichen Lebens schafft es, sich mit einer so unbeschwerten Gegenwärtigkeit über unterschiedliche Medien hinweg zu bewegen wie Ilona Hartmann. Ihre popkulturelle Verortung ist irgendwo zwischen Millennial-Nostalgie und jugendlicher Großstadt-Coolness. Für die durchästhetisierte Gen Z ist sie so etwas wie eine lässige ältere Schwester, zu der man hinaufschaut. Ilonas Beobachtungen zum Zeitgeschehen inszenieren scheinbar Unaufregendes. Und genau darin liegt die Stärke ihrer Worte.

Die 33-jährige Autorin hat kürzlich ihren zweiten Roman herausgebracht. „Klarkommen“ ist eine Geschichte über den Sprung in die große Metropole und handelt von den falschen Erwartungen an das Erwachsenwerden. Wer hier auf eine Romantisierung der Höhen und Tiefen des Coming-of-Age hofft, wird bitter enttäuscht: Der Roman ist „Entlastungsliteratur“ für diejenigen, die gelegentlich unrealistische Ansprüche an das Leben haben – also für uns alle. femtastics Autorin Rhea Meißner hat Ilona Hartmann auf der „lit.pop“ getroffen. Ihr Eindruck? Nicht nur in Sachen Gelassenheit können wir einiges von Ilona lernen
!

Ilona Hartmann wurde 1990 bei Stuttgart geboren und lebt in Berlin. Sie schreibt als freie Autorin über Pop und Alltag.

femtastics: „Klarkommen“ beschreibt die Ankunft von drei jungen Erwachsenen in der ereignisreichen Großstadt, die sich auf eine ganz neue Art als ereignislos herausstellt. Würdest du sagen, das sogenannte Lebensgefühl der Großstadt wird überbewertet?

Ilona Hartmann: Ich habe es damals überbewertet. Auch beim Feedback auf das Buch habe ich oft gehört, dass es anderen genauso ging. Damals dachte ich, „jetzt passiert hier gleich der große Wahnsinn“, aber der ist halt komplett ausgeblieben. Wenn man diesen anstrengenden Weg in ein neues Umfeld auf sich genommen hat, wünscht man sich natürlich eine Art Belohnung. Ganz nach dem Motto: „Es wäre doch ganz schön und ganz freundlich vom Leben, wenn es dann auch besonders geil wäre“.

Aber dann kommt die Enttäuschung. Eingeborene Stadtkinder wissen: Dinge passieren oder Dinge passieren eben nicht. Im Vergleich zu Zugezogenen leben Berliner ein Leben mit weniger Interesse an der Krassheit. Die haben weniger Stress, weil das einfach die ganze Zeit normal ist. In der Stadt kannst du gar nicht entspannt aufwachsen, wenn du nicht irgendwann eine gewisse Abhärtung oder eine gesunde Ignoranz gegenüber dem entwickelst, was du gerade alles verpasst.

In der Stadt kannst du gar nicht entspannt aufwachsen, wenn du nicht irgendwann eine gewisse Abhärtung oder eine gesunde Ignoranz gegenüber dem entwickelst, was du gerade alles verpasst.

Deine Protagonist*innen sind über zehn Jahre jünger als du und haben das alles noch nicht so ganz verstanden. Was sind deine persönlichen Learnings, die du durch den Umzug von einem Schwäbischen Dorf in eine Metropole gesammelt hast?

Ich würde immer dazu raten, sich extrem offen zu machen für Enttäuschungen und die Dinge dann aber trotzdem zu tun. Keine*r der Figuren aus dem Buch hat im Verlauf der Geschichte das Experiment Großstadt abgebrochen. Es geht um das trotzdem dabeibleiben, mal gucken, was noch so passieren könnte und eine gesunde Neugier darauf entwickeln, welche Scheiße als nächstes kommt. Das war irgendwann eine Haltung, die mir geholfen hat.

Du meinst, eine gewisse Gelassenheit zu entwickeln?

Ja. Es ist zwar schwierig, zu Gelassenheit zu raten, denn die kommt erst durch Erfahrungen. Aber ich glaube, sich nicht selbst zu shamen fürs Nicht-Gelassen-Sein, ist genauso wichtig.
Es ist total normal, dass man nervös ist, dass man aufgeregt ist, dass man nicht gelassen ist, dass man unsouverän reagiert auf alle möglichen neuen Situationen. Im ganzen Coolness-Thema kann man manchmal einfach noch nicht mitspielen, weil man den Punkt im Leben noch nicht erreicht hat. Und das ist völlig normal, das ist okay. Sei halt komisch, sei unsicher, aber bleib‘ dran. Das ist letztlich auch die Botschaft, die ich mit den Figuren im Buch hatte: Versuche nicht zu sein, was du nicht bist, sondern setz‘ dich mal in die Mitte von all dem, was du gerade schon mitbringst.

Ich würde immer dazu raten, sich extrem offen zu machen für Enttäuschungen und die Dinge dann aber trotzdem zu tun.

Coming-of-Age gehört zu einem der beliebtesten Genres. Dein Roman ist allerdings nicht die typische Anhäufung von Extremsituationen, wie man sie aus anderen Großstadterzählungen kennt. War es für dich ein rebellischer Akt, den, wie du sagst, „flachen Atem des Alltags“, einzufangen?

Es war auf jeden Fall ein bewusster Bruch und auch schriftstellerisch für mich die interessantere Aufgabe. Es ist schwieriger, was Langweiliges gut zu erzählen als etwas Aufregendes. Abgesehen davon, dass es schon sehr viel aufregende und auch gute Coming-of-Age-Bücher gibt. Ich habe die alle genossen und gerne gelesen. Viele davon schätze ich nach wie vor als fantastische handwerkliche Arbeit.

Für deine Ich-Erzählerin ist es eine „tödliche Kugel“ zu erfahren, dass sie etwas verpasst hat. Hast du FOMO? Und wenn nein, was ist dein Geheimnis dagegen?

Das ist sehr tagesformabhängig. Manchmal ist mir voll egal, was andere machen. Und manchmal denke ich mir: „Oh mein Gott“, ich könnte drei Sachen tun, kann mich aber nicht entscheiden, weil ich nicht weiß, wo es geiler ist. Am Ende gehe ich nirgends hin. Oft ist es erst eine nachträgliche FOMO, wenn ich am nächsten Tag die Fotos sehe.

Krass ist es aber nicht mehr, weil ich das mittlerweile gut kenne und ich weiß, das geht einfach vorbei, morgen ist was anderes wichtig. Dann ist es eher ein: „Schade, dass ich nicht dabei war. Es wäre bestimmt lustig gewesen“, also ein sanfterer Umgang. Man muss vielleicht auch manchmal kurz einfach traurig sein und das Gefühl rauslassen. Meistens geht es dann schneller weg, als wenn man die ganze Zeit so tut, es wäre einem Wurscht.

Versuche nicht zu sein, was du nicht bist, sondern setz dich mal in die Mitte von all dem, was du gerade schon mitbringst.

Du analysierst Coolness sehr genau. Was dachtest du früher, ist cool und was ist Coolness für dich heute?

Es gibt verschiedene Arten von Coolness. Es gibt eine, die du schon erkennst, wenn du auf die Straße guckst. Da steht dann an der Ecke eine Gruppe und du weißt nicht genau, warum die cool sind, aber sie sind es. Da trifft die Hose an der richtigen Stelle auf die Schuhe. Wenn deine Hose einen halben Millimeter zu kurz ist, bist du einfach raus. Nur wegen dieser einen Stelle. Das ist aber auch so eine Coolness, die kann man theoretisch imitieren, indem man anzieht, was die anderen auf „Tiktok“ oder „Pinterest“ tragen. Wir leben in einem System, das Coolness und so etwas wie Attraktivität und Jugend bevorzugt. Wenn du dabei bist, hast du viele Vorteile. Diesen Drang einem Bild zu entsprechen, kann ich daher verstehen.

Dann gibt es eine Coolness, die man mehr spürt und die auf so etwas wie Charisma beruht. Ich denke, das kommt tatsächlich mit dem Alter, wenn man ein bisschen souveräner wird. Wirklich coole, unverklemmte Leute sind für mich Menschen, die jede Situation erstmal jonglieren könnten, egal was gerade auf sie zukommt. Dann ist es kein Konstrukt, sondern so ehrlich, dass es nicht zerstörbar ist.

Würdest du sagen, die Auseinandersetzung mit „Coolness“ ist ein Privileg oder kann es für Menschen, die weniger privilegiert sind, nicht auch ein Mittel zur Überwindung ihrer sozialen Klasse bedeuten?

Coolness ist ein klassistisches Thema. Es gibt verschiedene Abstufungen: Die einen ahmen andere Coole nach, während die schon wieder das Nächste suchen, worin sie einzigartig sind. Es geht dabei immer auch um Individualisierung und Mühelosigkeit. Und sehr, sehr vieles, was cool aussieht, hat viel Arbeit erfordert. Dann gibt es auch in verschiedenen Bubbles verschiedene Arten von Leuten, die gerade als cool wahrgenommen werden, das ist ein bisschen wie mit Schönheitsidealen. Dass ich so rumlaufen kann, wie ich gerade rumlaufe, liegt auch daran, dass ich eine weiße, schlanke, privilegierte Frau mit guter Haut bin. Wenn ich das alles nicht wäre, dann würde der Look völlig anders wirken. Ein bisschen wie bei der Kate Moss Heroin-Chic-Ästhetik. Jemand, der*die nicht hot und dünn ist, ist halt nur Heroin ohne Chic. Also ja, das ist ein verstricktes Thema, in dem es um Klasse und Privilegien und um Geld geht.

Was würdest du Menschen sagen, die sich einen großen Druck machen, sogenannte Meilensteine in ihren Zwanzigern erreichen zu müssen?

Ich denke, dass der Gedanke an Meilensteine viele Menschen motiviert. Hätte ich keine Ziele gehabt, weiß ich nicht, ob sich bei mir jemals was bewegt hätte. Manchmal muss man was krass wollen, damit man krass den Arsch hochbekommt. Gleichzeitig würde ich mir den Meilenstein nochmal genauer angucken und mich erstmal fragen, wo kommt der eigentlich her? Ist das meiner? Oder ist das einer, der von meiner Familie oder dem System um mich herum ausgedacht wurde. Dann ist es wichtig ins Detail zu gehen und zu hinterfragen, was mich daran wirklich interessiert und was nicht zu mir passt. Was man will, ist oft gelernt. Hier mal einen Schritt zurückzugehen und zu schauen, was eigentlich wirklich in diesen Wünschen steckt, ist wichtig. Versteht man das, wird dieser Wunsch manchmal weniger stechend. Letztendlich kann man sich vieles wünschen, ob es in Erfüllung geht, liegt oft außerhalb der eigenen Hand.

Intuition als Ratgeber hat mich an ganz vielen Stellen auf einen guten, richtigen Weg geleitet. Dass ich ein Buch schreibe, war nie mein Traum. Es war eher eine Gewissheit darüber, dass ich ein interessantes Leben führen will, die mir als Meilenstein diente.

Die Ich-Erzählerin scheitert bereits am Ansatz jeglicher Form der romantischen Annäherung. Glaubst du, es braucht mehr Geschichten über Frauen* bzw. weiblich gelesene Personen, die nichts mit dem Thema romantischer/sexueller Beziehungen zu tun haben?

Auch hier fand ich es wieder interessanter, den gescheiterten Ansatz zu wählen, anstatt eine halbgeile Lovestory draus zu machen. Wir sind alle ein bisschen ruiniert von Hollywood und von der Art, wie sich Drehbuchautor*innen, wahrscheinlich oft einfach Männer, den Fortgang einer Liebesgeschichte ausgedacht haben. Es wäre gar nicht so schlecht für die kollektive mentale Gesundheit, wenn jetzt mal die nächsten 50 Jahre ein bisschen ehrlichere Geschichten erzählt werden würden. Gerne auch von Frauen* und weiblich Gelesenen und nicht Binären und Transidentitäten, POC, Menschen mit Migrationsgeschichte und Stimmen aus der LGBTQI+-Szene.

Es wäre gar nicht so schlecht für die kollektive mentale Gesundheit, wenn jetzt mal die nächsten 50 Jahre ein bisschen ehrlichere Geschichten erzählt werden würden. Gerne auch von Frauen* und weiblich Gelesenen und nicht Binären und Transidentitäten, POC, Menschen mit Migrationsgeschichte und Stimmen aus der LGBTQI+-Szene.

Du hast mal gesagt, soziale Medien spielen zwar eine große Rolle in deinem Leben, allerdings wären „Instagram“ und „X“ für dich eher Kanäle zum Entsenden. Mit deinem privaten Leben hätte das, was du teilst, nicht viel zu tun. Wie schaffst du es, so gelassen mit dem Thema Privatheit und Öffentlichkeit umzugehen?

Ich bin da natürlich total biased, weil ich seit 100 Jahren auf „Twitter“ und „Instagram“ bin. Da kommt irgendwann nicht mehr so viel Neues und die Dynamiken sind durchschaut. Ich glaube, es ist generell gesünder Social Media zum Entsenden zu nutzen als nur passiv zu konsumieren. In Phasen, wo ich nichts veröffentlichte, nur am Scrollen bin und mich dabei ertappe, dass ich einfach nur anderen Leute beim Leben zuschaue, geht es mir auch nicht mehr so gut. Gehe ich aber nur online, wenn ich etwas zu sagen habe, hat das für mich einen größeren Zweck. Neid und der Vergleich waren für mich auch nie Themen, weil ich immer eher darüber nachgedacht habe, was ich schon in meinem Werkzeugkasten habe, um das für mich zu nutzen. Da war Therapie eine große Hilfe, gegen und für vieles.

Je größer meine Accounts geworden sind, desto weniger Privates habe ich gepostet. Einmal hergegebene Privatsphäre kriegt man so schnell nicht wieder. Und das ist, glaube ich, ein Punkt, über den viele Leute nicht nachdenken.

Man muss sich das Scheitern auch mal aus nächster Nähe anschauen.

Du sagst, du glaubst nicht daran, etwas zu verpassen. Hattest oder hast du Angst vorm Scheitern? Ab wann gilt man überhaupt als „gescheitert“?

Im Scheitern steckt immer auch ein riesiger Kontrollverlust. Das mag ich nicht so gern (lacht). Man kann sich nicht auf das Scheitern vorbereiten, es passiert oft total random, auch an Stellen, an denen man es gar nicht hat kommen sehen. Was immer hilft, ist, wenn man weiß, wie man sich selbst wieder auf die Beine gestellt bekommt. Weil ich das über die letzten paar Jahre so krass gelernt habe, hat das ein bisschen den Schrecken genommen. Aber ich denke immer noch manchmal: „Eine falsche Entscheidung und das ist hier aus mit dem selbstständigen Gugugaga-Leben, das mir so gut gefällt“.

Früher habe ich gerne in Extremen gedacht. Aber das alltägliche Leben liegt dann doch irgendwo dazwischen. Zu merken „so viel krassere Sachen kommen ja gar nicht mehr“, hat mich über die Jahre auch stabilisiert. Allein schon den Sprung zu schaffen, von zu Hause raus irgendwo anders hin, ist viel wert. Das ist anstrengend. Und das checken zum Beispiel die Figuren im Buch noch lange nicht. Das ist ja auch das Schöne an der Jugend, dass man halt gierig ist und wach und unzufrieden und Energie hat und raus will und sich irgendwo gerne die Knie aufschlagen möchte. Ich glaube, das ist normal. Und sich das zu verbieten, ist irgendwie der falsche Weg. Man muss sich das Scheitern auch mal aus nächster Nähe anschauen.

Gerade lebe ich das privilegierte Ende von den Möglichkeiten, die ich hatte. Eine Öffentlichkeit zu haben, hat sehr viele Vorteile. Es ist eine schöne Bestätigung, dass das, was ich jeden Tag mache, authentisch wirkt oder auch ist. Aber ich weiß nicht, ob ich es gebraucht hätte, um von mir selbst behaupten zu können, ich habe mein Ziel erreicht.

Danke dir, für das interessante Gespräch, Ilona!

Hier findet ihr Ilona Hartmann:

Text: Rhea Meißner

Fotos: Lenny Rothenberg

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