Für ihren Traumjob brach femtastics Autorin Rhea Meißner ihr Masterstudium ab und kündigte ihren Arbeitsvertrag vorzeitig. Den Sommer über machte sie das erste Mal länger Urlaub – ohne zwischendrin zu arbeiten. Warum sie dabei Schuldgefühle überkamen und was das mit den aufkommenden Privilegien eines Klassenaufstieges zu tun hat, erzählt sie hier im Essay über die Macht des sozialen Hintergrundes.
Warum bleibe ich nicht einfach zu Hause? Kann ich mir das leisten? Darf ich mir das leisten?
Erst war da ein leises Pochen unter der Brust. Dann immer aufdringlicher. Ein arhythmisches Stolpern. Die Art von Herzschlag, die einen aus der Puste bringt, obwohl der Körper auf dem Bett fläzt. Ich überprüfe zum dritten Mal den Zeitraum. Klicke auf „buchen“. Bevor ich es mir anders überlegen kann, hat sich das Reiseportal schon die im Browser hinterlegten Kreditkartendaten geschnappt.
Aufkommende Freude, als die eingehende Push-Benachrichtigung das Vorhaben bestätigt. Dann das schlechte Gewissen. Die dritte Reise in einer Saison. Und dann auch noch allein. Warum bleibe ich nicht einfach zu Hause. Kann ich mir das leisten? Darf ich mir das leisten?
Im Kopf zähle ich die Wochen, bis der neue Job anfängt. Bis ich mich wieder unter einem sicheren Dach befinde. Vergleiche Zeitraum mit Kontostand. Ganz schön obszön, fast drei Monate so in den Tag zu leben, wenn sich meine Eltern kaum ein paar Tage Urlaub leisten können. Trotzdem war mir in dem Moment, als ich meinen Vertrag unterschrieb, klar: Jetzt oder nie. Den neuen Lebensabschnitt und Start ins „echte“ Erwachsenenleben wollte ich feiern, indem ich absolut nichts tue. „Du hast es dir jetzt auch verdient“, wurde mir von allen Seiten strahlend mitgeteilt. Ich fragte mich dann oft, woran man eigentlich misst, wer sich was verdient hat. Und ob ich mir auch eine Pause verdient hätte, wäre ich gescheitert.
Meine Beziehung zur Freizeit ist (wie alles andere auch) massiv durch die finanziellen Verhältnisse bedingt, in denen ich aufgewachsen bin. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Klassismus hat sich meine persönliche Erfahrung dann schließlich nicht nur bestätigt, sondern auch in einen größeren Kontext eingereiht. Ich habe gelernt, dass der Müßiggang in manchen sozialen Klassen schon historisch zum guten Ton gehört, während in anderen Fleiß lange als leitendes Ideal und Identifikationsmerkmal galt. Das Gefühl, sich etwas so richtig verdient zu haben – Urlaub, Luxus, Freizeit – ist also strukturell geschichtet.
Meine Beziehung zur Freizeit ist massiv durch die finanziellen Verhältnisse bedingt, in denen ich aufgewachsen bin.
Um den ungerechten Zugang zum Müßiggang zu verstehen, muss man nicht einmal Marx gelesen haben. Es reicht schon, den Klassenaufstieg selbst zu erleben. In meiner Kindheit und Jugend habe ich gelernt, dass die Alternative zur Arbeit nicht das „frohlocken“ über die Befreiung von Pflichten bedeutet, sondern für eine Existenz im Prekariat steht.
Gastro, Einzelhandel, Konzern, Freelance. Ein Viertel meiner 25 Jahre ging ich mehr oder weniger nahtlos unterschiedlichen Formen der Lohnarbeit nach. Dazu kam ein mich hetzendender Druck, auch die Freizeit möglichst „produktiv“ zu nutzen. In den Sommerferien eine Jugend-Stipendiatenreise, nach dem Abi Workaway und in den Semesterferien Traubenernte in Bordeaux. In 25 Jahren bin ich so niemals verreist ohne in Begleitung von Freunden zu sein, ein konkretes Ziel zu verfolgen oder – wie ich jetzt dazulerne – schon bei der Buchung ein schlechtes Gewissen zu haben.
Jetzt sehe ich, wie in der akademischen Blase um mich herum Stunden reduziert, Sabbaticals genommen und Jobs gekündigt werden. „Nicht arbeiten“ und „arbeitslos sein“ klingt fast ein bisschen ähnlich, könnte unterschiedlicher aber nicht sein. Das Eine meint eine Entscheidung, während das Andere in den meisten Fällen auf Unfreiwilligkeit beruht. Wenn Produktivität für die Existenzsicherung steht, ist es auch kein Wunder, dass ihr ein hoher Wert zugeschrieben wird.
Während ich in Shrimp-Haltung auf meine Buchungsbestätigung starre, realisiere ich: Der Glaubenssatz, mein Wert sei mit meiner Leistung verbunden, ist auch nach Jahren der Selbstreflexion tief in meinem Denken und Fühlen verankert.
So viele Aha-Momente und Wachstum die Selbstveränderung mit sich bringt, umso weiter entfernt sie mich von meiner Herkunftsfamilie.
Mein Vorhaben, mir meine schönste Version eines „Brat Summers“ zu genehmigen, stand in vielerlei Hinsicht für einen Bruch. Ich realisiere jetzt, dass die grundlose Eile Resultat einer verinnerlichten Gleichung ist, die nicht aufgeht. Und so viele Aha-Momente und Wachstum die Selbstveränderung mit sich bringt, umso weiter entfernt sie mich von meiner Herkunftsfamilie.
Für diese Entfremdung hat Édouard Louis in seinem Roman „Anleitung ein anderer zu werden„ schon die schönsten und schmerzhaftesten Worte gefunden. In diesem Sommer konnte ich es mir erlauben nicht zu arbeiten, ohne arbeitslos zu sein. Konnte selbstbestimmt sein. Der Beginn eines Klassenaufstieges ist ein Bruch, die Scham und Schuldgefühle ein Symptom.
Es in meinen Traumjob geschafft zu haben bedeutete für mich vorerst das Ende der inneren Unruhe. Etwas ist in mir abgefallen. Diesen Sommer schlief ich aus, ich schwamm, ich besuchte Freund*innen. Ich hatte es mir ja schließlich „verdient“.
Bin ich jetzt eine von denen aber nicht mehr von ihnen?
Jetzt ist der August verstrichen. Der „Brat Summer“ offiziell vorbei. Ich schaue auf die Abbuchung meines letzten Urlaubes der Saison, der gleichzeitig mein erster ist, den ich ganz allein antrete. Indem es nichts zu lernen und sich von nichts zu erholen gibt. Bin ich jetzt eine von denen aber nicht mehr von ihnen? Und was soll ich allein zwischen den Olivenhainen machen, außer sitzen und nichts tun?
Die Frage, wo ich zwischen den unsichtbaren Linien einer von Privilegien geschichteten Welt stehe, breitet sich vor mir aus. Ich werde sie vermutlich mit in die nächste Saison nehmen. Und auch in die danach. Solange versuche ich das größte Privileg zu genießen, das ich kenne: Zur Ruhe kommen.
Collage / Foto: „Canva“ & Chiara Einsath