Eine Katze halten, mit einem Helikopter fliegen, alleine reisen, vor einer Menschenmenge reden, Insekten essen, alleine ein Theaterstück ansehen, mit dem Fahrrad durch New York fahren, etwas sehr Scharfes essen, Akupunktur ausprobieren, sich betrinken, … – Michelle Poler hat viele Ängste. In ihrem Projekt „100 days without fear“ stellt sie sich ihnen, einer Angst nach der anderen, 100 Tage lang. Jede „Challenge“ dokumentiert sie in einem Video, einem „Emoji-Meter“ und einem Erfahrungsbericht. Wir haben mit der 27-Jährigen, via Skype, darüber gesprochen, wie sie darauf kam, dieses ungewöhnliche Projekt zu starten – und wie sie mit ihm zurechtkommt.
Femtastics: Bist Du eine besonders ängstliche Person?
Michelle Poler: Ja, das bin ich. Deshalb habe ich das Projekt gestartet.
Wie kam das Projekt zustande?
Es entstand im Rahmen einer meiner Kurse für die „School of Visual Arts“ in New York. Ich hatte diesen Kurs namens „A brand called you“, bei dem es darum ging, deine eigene Marke zu kreieren. Eine Aufgabe war, uns unser Leben in zehn Jahren im perfekten Zustand vorzustellen. Eine zweite Aufgabe, uns ein Wort vorzustellen, das uns im Weg steht, diesen Zustand zu erreichen. Es hat rund eine Woche gedauert, bis ich das für mich herausgefunden habe. Mir wurde bewusst, dass es Angst ist. Wegen meiner Ängste würde ich in meinem Leben so viel verpassen und nicht erreichen können.
Dir war also bewusst, dass du ungewöhnlich viele Ängste hast?
Ja, das habe ich während meiner College-Zeit herausgefunden. Vor dem College lebst du bei deiner Familie, in deinem gewohnten Umfeld. Aber wenn du aufs College gehst und zum ersten Mal alleine lebst, dann merkst du, dass du mehr Ängste hast als die Leute um dich herum. Ich habe bemerkt, dass meine Freunde alle ganz anders waren als ich. Sie gingen abends alleine aus, liefen nachts alleine herum … davor hatte ich Angst. Als mir in meinem Kurs die Aufgabe gestellt wurde, ein Projekt zu entwickeln, das 100 Tage dauert – jeder Student musste eine Sache für 100 Tage tun – da kam mir die Idee, mich meinen Ängsten zu stellen. Und New York ist der richtige Ort, das zu tun.
Warum?
Ich habe vorher in Miami gelebt. Da gibt es nicht so viel zu tun und nicht so viel, wovor du Angst haben könntest. Aber in New York musst du dich von Anfang an mit deinen Ängsten auseinandersetzen. Im Rahmen meines Projekts habe ich all die Sachen gemacht, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie tun würde.
Welchen Ängsten stellst Du Dich?
Sehr unterschiedlichen Ängsten. Es ist nicht so, dass ich 100 Ängste habe. Niemand hat 100 Ängste. Ich habe vor vielen Dingen Angst, aber ich habe nicht mehr als 13 reale Ängste. Aber es gibt tausende Arten, sich diesen Ängsten zu stellen. Meine größten Ängste auf meiner Liste sind zum Beispiel Einsamkeit, Schmerz und Kontrollverlust. Um mich meiner Angst vor Schmerz zu stellen, habe ich mir ein Piercing stechen lassen, ich habe ein Bikini Waxing gemacht, ging zum Blut Spenden. Um mich meiner Angst vor Einsamkeit zu stellen, bin ich letzte Woche alleine verreist. Ich bin eine Nacht alleine in Washington gewesen und habe erfahren, wie es ist, irgendwohin zu fahren, wo dich niemand erwartet. Ich war alleine im Theater und habe eine Reihe von Dingen alleine gemacht. Ich habe jetzt das Gefühl, dass ich durch mein Projekt gelernt habe, alleine zu sein und Spaß daran zu haben. Jetzt genieße ich es, Zeit für mich alleine zu haben.
Was war Deine schlimmste Erfahrung im Rahmen Deines Projekts?
Bisher waren alle großartig. Bevor ich mich einer Angst stelle, ist sie immer die schlimmste. Jedes Mal wieder. Und wenn ich es dann gemacht habe, denke ich: Das hat so viel Spaß gemacht, ich will es wieder tun! Es hängt immer von deinen Erwartungen ab. Als ich Trapezkunst ausprobiert habe, dachte ich zum Beispiel, es würde nicht so schlimm werden. Und dann kam ich dahin und bin ausgeflippt vor Angst. Beim Fallschirmspringen dagegen hatte ich erwartet, dass es ganz schlimm werden würde – und es hat so viel Spaß gemacht!
Ich habe jetzt das Gefühl: Ich kann alles tun. Ich kann alles ausprobieren, und dann sehen, ob ich es mag oder nicht.
Und hilft Dein Projekt Dir dabei, Deine Ängste zu überwinden?
Nein, ich denke nicht, dass ich sie überwinde. Aber das Projekt stärkt mein Selbstbewusstsein. Selbst wenn ich mir bestimmt kein zweites Mal eine Schlange um den Hals hängen werde – weil das echt furchtbar war – habe ich jetzt trotzdem das Gefühl: Ich kann alles tun. Ich kann alles ausprobieren, und dann sehen, ob ich es mag oder nicht.
Dein Projekt hat Dir geholfen, offener zu sein?
Genau. Ich bin jetzt sehr offen. Gestern haben mich zum Beispiel ein paar Leute, die ich nur einmal getroffen hatte, gefragt, ob ich mit ihnen einen Film im Park sehen möchte. Normalerweise hätte ich nein gesagt, weil ich die Leute nicht kenne. Aber wenn mir das Projekt bei einer Sache geholfen hat, dann dabei, ein offenerer Mensch zu sein – und ich habe ja gesagt und hatte einen schönen Abend.
Was ist Deine größte Angst? Und stellst Du Dich ihr?
Das ist schwierig, weil es einige Ängste gibt, bei denen ich gar nicht weiß, wie ich mich ihnen stellen soll. Die Angst vor dem Tod, zum Beispiel. Die Angst, dass jemand, der mir wichtig ist, stirbt, ist meine größte Angst. Und wie soll ich mich dieser Angst stellen? Oder Konfrontation – das ist eine große Angst von mir, und ich kann eine Situation der Konfrontation nicht heraufbeschwören. Ich kann nur hoffen, dass ich mutig bin, wenn so eine Situation kommen sollte.
Es ist bequem, zu sagen, dass man Angst hat.
Denkst Du, dass wir vor zu vielen Dingen Angst haben?
Ich denke, dass es bequem ist, zu sagen, dass man Angst hat. Wenn du sagst, dass du eine Sache nicht machen willst, weil du Angst hast, lassen dich die Leute in Ruhe. Gleichzeitig denke ich, dass es heute so viele Möglichkeiten gibt, die du ausprobieren solltest, ohne Angst zu haben.
Sind unsere Ängste kulturell unterschiedlich?
Ja, definitiv. Ich komme ursprünglich aus Venezuela, einem der gefährlichsten Länder der Welt. Das ist ein zentraler Grund dafür, warum ich vor so vielen Dingen Angst habe. Selbst Autofahren war dort so gefährlich. Wenn ich alleine Auto gefahren bin, musste ich zu meinem Auto rennen, ganz schnell alle Türen verschließen und direkt losfahren. Sonst kann es passieren, dass jemand mit dir ins Auto steigt, dich ausraubt oder entführt. In diesem Umfeld aufgewachsen zu sein, hat mich beeinflusst. Ich habe die Ängste, die ich dort entwickelt habe, mit nach New York gebracht. Ich habe immer noch Angst davor, nachts alleine durch die Stadt zu laufen.
Durch Dein Projekt hast Du viel Aufmerksamkeit bekommen. Hast Du jetzt Angst davor, berühmt zu werden?
Ich habe Angst davor, den Lauf meiner Karriere zu verändern. Mein Traum war es, hier in New York meinen Abschluss zu machen und einen tollen Job in der Werbebranche zu finden. Es gibt so viele Firmen hier, für die ich gerne arbeiten würde. Aber dann ist dieses Projekt passiert, während meiner Zeit an der Uni. Und jetzt weiß ich nicht mehr, ob ich überhaupt nach einem Job suchen soll. Ich habe so viele Angebote bekommen, ein Filmangebot, eine TV-Show, … Und ich denke auch darüber nach, aus „100 days without fear“ ein Unternehmen zu machen. Denn die 100 Tage sind bald um und ich möchte das Projekt gerne fortsetzen.
Wie reagieren die Leute auf Dein Projekt?
Am Anfang, als mein Projekt sich im Netz verbreitet hat, haben mir viele Leute gesagt, dass meine Ängste ja gar keine richtigen seien. Ich habe die Kommentare gelesen und gemerkt, dass ich mich größeren Ängsten stellen muss, nicht nur kleinen Alltagsängsten. Das war circa an Tag 40. Danach habe ich mich größeren Herausforderungen gestellt. Danach haben sich die Menschen wirklich mit meinem Projekt identifiziert. Sie haben mir geschrieben: Wahnsinn, du bist ein völlig neuer Mensch! Sie haben mich sehr unterstützt. Ich könnte mir keine besseren Leser oder Zuschauer wünschen. Aber sie schreiben mir, dass sie Angst davor haben, dass mein Projekt endet. Deshalb denke ich, dass ich das Projekt irgendwie am Leben halten muss.
Wir behalten Deine Website also im Auge, Michelle. Vielen Dank für das Gespräch!