Wie sind wir zu den Menschen geworden, die wir sind? Womit identifizieren wir uns und wie identifizieren wir andere Menschen? Das Thema Identität verliert nie an Aktualität, steht momentan aber mehr denn je im Fokus. Besonders gut kann man über das Thema mit Moshtari Hilal diskutieren. Die junge Hamburgerin aus Afghanistan studiert Islamwissenschaften und Politikwissenschaften und erfährt durch ihre Illustrationen, in denen sie die stereotype Wahrnehmung und Darstellung muslimischen und migrantischen Lebens hinterfragt, immer größere Bekanntheit. Zeichnen tut die 23-Jährige schon immer. Themen, die ihr in ihrem Studium begegnen, reflektiert sie künstlerisch. Mit der Hamburger Kunstwelt ist sie nicht durch ein Kunststudium, Kunstgalerien oder Kontakte in Berührung gekommen, sondern durch Social Media. Sie zeigt ihre Arbeiten auf Facebook, Tumblr und Instagram und bekam erste Aufträge und Anfragen für Ausstellungen. Wir treffen Moshtari zum Tee und sprechen über Identitätsbildung und Schönheitsideale.
Identität kann passiv entstehen, aber man kann sie auch aktiv verändern.
femtastics: Wie definierst du Identität?
Moshtari Hilal: Identität ist dynamisch und eine Sammlung an Dingen, die in deinem Leben passieren oder die du konsumierst. Wie du aufwächst, wo du aufwächst, was für Menschen du triffst, alles prägt die Identität.
Ich kann Identität über Bücher und Filme konstruieren, ihre Auswahl hat einen großen Einfluss darauf, wie ich werden möchte. Identität hat viele Dimensionen und ist sehr komplex. Im Alltag werde ich immer damit konfrontiert, dass man bestimmte Schlagwörter von mir hören will, wie ich mich zu beschreiben habe. Menschen stecken mich sofort in eine Schublade, wenn sie mich kennenlernen wollen und lassen keine Komplexität zu. Weil sie ihnen Angst macht? Identität kann passiv entstehen, aber man kann sie auch aktiv verändern. Vor allem kollektive Identität wird aktiv konstruiert.
Ebenso kann man sich bewusst einer Identität entziehen.
Ich denke, man kann sich ab einem gewissen Punkt bewusst für eine Identität entscheiden. Natürlich funktioniert das nicht immer wie auf einer Blaupause und man kann nicht alles werden, was man möchte. Aber man kann beeinflussen, mit welchen Menschen man verkehrt, wo man hin zieht, was man liest. Dementsprechend kann man vorzeichnen, zu welchem sozialen Menschen man wird.
Und der Prozess hört nie auf.
Man kann sich dem Prozess irgendwann verweigern, je älter man wird, und sich nur noch konservieren. Aber theoretisch kann man sich immer neuen Herausforderungen stellen. Schicksalsschläge oder äußere Einflüsse wiederum sind Faktoren, die nicht steuerbar sind.
Fragt man die Mehrheitsgesellschaft, so gehören zu Identitätswerten eine passende Erwerbstätigkeit und eine harmonische Familie. Sind das auch deine Identitätswerte?
Ich habe irgendwo gelesen, dass die ersten sieben Jahre im Leben eines Menschen die prägendsten sind. Du kannst natürlich immer lernen, aber die Grundannahmen bleiben tief im Inneren verankert und müssen aktiv reflektiert, um gegebenenfalls korrigiert zu werden. Ich bin zum Beispiel jemand, dessen Identität sehr durch kulturelle Güter geprägt wurde, die ich im Laufe meines Lebens konsumiert habe. Dabei ist der einzige Wert für mich meine Integrität, gegebenenfalls muss ich durch neu Gelerntes meine Erziehung oder Sozialisation hinterfragen und mich verändern. Ich möchte nicht an Vorstellungen festhalten, weil sie bequem und gebräuchlich sind.
Und wenn du andere Menschen siehst? Nach welchen Identitätswerten bewertest du die?
Wenn ich jemanden sehe, ordne ich ihn ein, spreche es aber nicht aus. Während des Gesprächs merke ich, dass ich ein falsches Bild hatte und korrigiere es. Ich finde es auch nicht schlimm, dass man Bilder hat. Man sollte aber darauf achten, dass man sie seinem Gegenüber nicht aufdrängt. Ich denke, wir sollten jedem den wertfreien Raum geben um zu sein, den wir uns auch wünschen.
Man sollte durchlässig bleiben und die eigenen Bilder immer wieder hinterfragen oder revidieren. Du beschäftigst dich in deinen Bildern mit hybriden Identitäten. Was verstehst du darunter?
Hybrid im Sinne von flüssig und formbar. Bei migrantischen Identitäten, also Menschen, die an einem Ort geboren und aufgewachsen sind und dann woanders hinziehen, hört man oft von Dualismen: Ich sitze zwischen zwei Stühlen, zwei Welten. Das finde ich schwierig. Es gibt nicht diese zwei Blöcke, sondern sie gehen in einander über. Wenn ich über mich nachdenke, kann ich gar nicht genau sagen, was von welcher Seite ist. Ich kann noch nicht mal von Seiten sprechen. Hybrid bedeutet also eine dynamischere und komplexere Zusammensetzung von Identität.
Identität ist immer ein Thema, jetzt gerade steht es besonders im Fokus. Indirekt ist damit auch immer die Abgrenzung ein Thema. Kann man identitätsloser werden? Von der Identität wegkommen? Sie globaler fassen?
Von der Identität kann man nicht wegkommen, aber man könnte das Konzept anders verstehen, indem man anerkennt, dass es komplexer, dynamischer und hybrider ist. Ich glaube auch, dass Identität immer relevanter wird. Bisher hat sich Identität immer in Abgrenzung zu anderen definieren lassen. Es gab immer klare Linien. Das kann eine Grenze sein, eine hegemonielle Kultur wie die europäische oder die islamische, die Identität stiftet, um eine Gemeinschaft zu gründen. Aber so einfältig vernetzt sind wir nicht mehr.
Diese Definitionen funktionieren nicht mehr richtig und viele geraten in Panik. Dabei kann man es auch als Chance begreifen. Das Individuum ist viel freier, weil es nicht einer einzigen Idee von Identität folgen muss. Es kann aus einem Pool aus Eigenschaften aussuchen, was es gut findet und was nicht.
Vielleicht geraten viele auch in Panik, weil sie sich nicht entscheiden können? Führt das Überangebot an Identitäten zu einer allgemeinen Verunsicherung?
Keiner ist gezwungen, sich selbst neu zu erfinden. Kollektive Identitäten sind auch angenehm. Durch Identität kannst du Freunde oder eine Gemeinschaft finden, dich aber auch von anderen abgrenzen oder andere ausgrenzen. Dadurch kann man sich auch aufwerten. Identität und Abgrenzung nützt so gesehen. Aber zu welchem Preis?
Dann wird Identität instrumentalisiert für Bewegungen, die einem eher nicht sympathisch sind.
So wie der Nationalismus in Europa oder zum Beispiel der Islamismus in Zentralasien oder Nordafrika wieder auf dem Vorsprung sind. Hier müssen die kollektiven Identitäten neu ausgehandelt werden. Europa muss zum Beispiel akzeptieren, dass es von seiner kolonialen Vergangenheit eingeholt wird und europäisch sein nicht mehr gleichzusetzen ist mit weiß-sein.
Man wächst damit auf, dass bestimmte Leute dir sagen, was du bist.
Identität beruht auf einer Gruppenzugehörigkeit, aber auch auf der Erfahrung der Einzigartigkeit. Kommt Letzteres gerade zu kurz? Oder eher andersrum? Wird Identität gerade vielleicht zu sehr über die Erfahrung der Einzigartigkeit definiert? Stichwort Hedonismus?
So individuell sind wir ja gar nicht, politisch gesehen bewegen wir uns in Kollektiven, gehören zu der privilegierten Hegemonie und definieren andere oder wir werden definiert und diskriminiert. Ich habe ein Buch von Amin Malouf gelesen, „Mörderische Identitäten“ heißt es. Er spricht davon, dass dem anderen die Komplexität seiner Identität abgesprochen wird. Die Diversität der Identität wird sozusagen zensiert und es wird gesagt, du bist das und das, finde dich damit zurecht. Für die anderen Facetten eines Menschen wird sich gar nicht interessiert, die Person wird reduziert und gezwungen, sich auf bestimmte Merkmale zu berufen. Genau diese Logik und diese Fremdzuschreibung führt eher zu Problemen. Man wächst damit auf, dass bestimmte Leute einem sagen, was man ist. Dann muss man das sein und irgendwann glaubt man das auch. Wenn einem dann nichts Anderes mehr bleibt, kann man in einer ganz radikalen Weise Zuschreibungen übernehmen – bis nichts Anderes mehr übrig bleibt. Komplexität schafft dagegen eher Verwirrung, man denkt mehr nach und diskutiert mehr. Sobald Dinge einfach ausgedrückt werden, führt das zu viel mehr Problemen. Besonders Pauschalisierungen. Der Einzelfall erlaubt mehr Komplexität als die Verallgemeinerung.
Ich drücke mich immer sehr kompliziert aus, weil ich immer Angst habe, etwas zu verallgemeinern. Wenn eine Antwort zu klar ist, kann sie nicht stimmen.
Als Journalistin lernt man die Kunst der kurzen und knackigen Sätze. Ich bin da auch nicht immer überzeugt von.
Es ist besser, wenn man aus einer Unterhaltung mit mehr Fragen rausgeht als mit Antworten. Wenn man nicht direkt Antworten hat, kann man auch weniger schnell urteilen.
Menschen ändern sich, wenn du sie voreilig in eine Schublade steckst, nimmst du ihnen die Chance, doch anders zu sein. Bob Dylan sagt, er ist jeden Tag jemand anderes. Diese Vorstellung finde ich ganz gut, weil man sich theoretisch immer gegen sein Ich von gestern entscheiden kann.
ALL THE FRIDAS : Moshtari from Dana Tomoș on Vimeo.
In deinen Zeichnungen arbeitest du mit Stereotypen. Bekommst du es hin, selbst frei von Stereotypen zu sein?
Ne, wahrscheinlich kriege ich das selbst auch nicht hin. Aber ich versuche bewusst, sie zu ironisieren. In dem Prozess wie ich Personen zeichne, versuche ich, an eigene Grenzen zu stoßen und neue Ideen zu entwickeln. Dabei benutze ich Symbole und visuelle Codes, die wir schon kennen, klar.
Es gibt in meinen Bildern nicht nur die Ebene Schönheitsideale, sie können mehrdimensional betrachtet werden.
Mit deinen Zeichnungen löst du gewisse Irritationen aus. Was spielt sich da ab?
Bei meinen Porträts sehen die Menschen immer erst den Damenbart. Ich frage mich immer, warum? Die meisten hören an dem Punkt auch auf, weiter über das Bild nachzudenken. Sie denken, das ist jetzt der Knackpunkt, dass das gängige Schönheitsideal hinterfragt wird. Das sagt viel mehr über den Betrachter aus als über das Bild. Es gibt in meinen Bildern nicht nur die Ebene der Schönheitsideale, sie können mehrdimensional betrachtet werden. Es geht darum, wessen Geschichte erzählt wird. Wer ist diese Person? Warum ist sie so selten sichtbar in unserer Welt?
Das Mädchen mit dem Damenbart ist eine Metapher dafür, dass es Geschichten gibt, die einfach nicht weitergelesen werden, weil das Erscheinungsbild so sehr irritiert, dass wir uns gar nicht mehr weiter mit ihm als Person beschäftigen.
Du sprichst von einer Dekolonialisierung der Wahrnehmung oder des Geistes.
Das geht auf die Post Colonial Studies zurück. Die gehen davon aus, dass unsere Bildsprache, soziale Codes, sprachliche Codes, politische Systeme, Wirtschaftssysteme – Erbe der Kolonialzeit sind. Wir müssen aktiv diese ganzen Systeme hinterfragen, um dominante Deutungsmuster und Rassismen herauszulesen und sie aufzuarbeiten.
In der Wirtschaft stellt sich die Frage, warum haben manche Länder ein wirksames Vetorecht und andere Länder nicht? Warum sind manche Länder reicher als andere Länder? Die heutigen Machtverhältnisse und die Verteilung von Wohlstand gehen auf den Kolonialismus zurück, ebenso bei dominanten Konzepten von Kultur, Zivilisation und Schönheit. Wer ist im Fernsehen und auf Magazin-Covern zu sehen? Das sind nicht alle Menschen. Ihre Auswahl ist kein Zufall. Körperpolitik ist keine Frage der Ästhetik, sondern Macht. Weiße und europäische Schönheitsideale bestimmen den Markt und den Umgang mit nicht-weißen Körpern.
Diese Körper werden gelasert, gebleecht, gebrochen und gehasst. Ich weiß von meinen Freundinnen und Cousinen, dass sie sehr viele seelische und körperliche Schmerzen erleiden müssen, um diesem Ideal zu entsprechen und das nicht mal ihren Lebenspartnern zeigen würden. Das ist ein Kampf, der hinter verschlossener Badezimmertür ausgehandelt wird.
Meine persönliche Erfahrung ist politisch.
Es wird nicht hinterfragt. War das von Anfang an dein Ziel, dass du diese Ebenen adressierst?
Es war ein Prozess. Ich habe sehr selbstzentriert angefangen, meine Zeichnungen hatten einen selbsttherapeutischen Ursprung. Später erkannte ich, dass es keine privaten sondern gesellschaftliche Probleme waren. Meine persönliche Erfahrung ist politisch. Wenn ich über diese Dinge spreche, die vielen Anderen peinlich oder nicht bewusst sind, dann zeige ich Strukturen auf. Erst wenn wir diese erkennen und das Problem in seiner politischen Dimension verstehen, können wir uns vielleicht als Einzelperson von seinen Idealen und Ansprüchen an uns distanzieren.
Das gängige Schönheitsideal ist alles Andere als divers. Momentan ändert sich ein bisschen was, Körperbehaarung wird als Trend in Kampagnen aufgegriffen. Aber ist das nachhaltig?
Naja, wir sehen maximal Achselhaare bei sonst makellosen Popstars oder queeren Aktivistinnen. Und du nennst es beim Wort – es wird zum temporären Trend. Ich denke nicht, dass das nachhaltig ist. Es gibt eine New Yorker Künstlerin auf Instagram, die Selbstbildnisse mit Körperbehaarung postet. Die Ironie: Ihre Mutter führt ein Kosmetikstudio für Waxing. Ich finde cool, was sie macht. Sie wird für ihren selbstbewussten Umgang bewundert, das heißt aber nicht, dass auch andere Menschen dies nachahmen werden. Man muss also schon eine Künstlerin sein oder in einem empowernden Umfeld leben, um Körperbehaarung selbstbewusst tragen zu können. In der Bank kannst du das zum Beispiel nicht tun. Meine achtjährige Cousine hat jetzt schon ein Problem damit, Röcke zu tragen, weil ihre Beinhaare nicht blond sind. Also spreche ich nicht von Behaarung als Statement, sondern vom natürlichen Körper vieler Mädchen, der als Abnormalität verhandelt wird.
Wichtig ist, dass immer mehr Leute mit einer Selbstverständlichkeit darüber sprechen, nicht versuchen, eine Illusion glatter makelloser Haut aufrecht zu erhalten. Jeder soll für sich entscheiden können, ob er seinen Körper verändert. Und wenn er es nicht tut, sich nicht minderwertig oder abartig fühlen müssen.
Absolut! Vielen Dank für das Gespräch, liebe Moshtari.
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