Nahostkonflikt: Warum wir Stellung beziehen müssen und eine neue Politik der Verständigung brauchen

5. November 2024

Hannah Neumann ist Friedens- und Konfliktforscherin sowie Europaabgeordnete. Seit 20 Jahren setzt sie sich in Kriegs- und Krisengebieten für Dialog und Verständigung sowie eine stärkere Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Konfliktlösung ein. In ihrem Gastbeitrag schreibt Hannah Neumann über die unterschiedlichen – inklusive ihrer eigene – Perspektiven auf den Nahostkonflikt und plädiert für eine neue Politik der Verständigung. 

Dieser Konflikt spielt sich auch in unseren Schulen, auf unseren Straßen, in unseren Firmen, in unseren Freundesgruppen ab.

Alles ist anders seit dem 7. Oktober

Dieser Satz begegnet mir immer wieder. Wenn ich nach Saudi-Arabien oder Jordanien reise, wenn ich mit meinen Freund*innen im Irak spreche, wenn ich mich mit iranischen Aktivist*innen austausche, wenn ich mit meinen jüdischen Freund*innen Kaffee trinke, wenn ich meine Mitstreiterin, deren Eltern aus Palästina nach Deutschland migriert sind, frage, wie es ihr geht. 

Dieser Tag markiert einen tragischen Wendepunkt – für die Menschen in Israel, für die gesamte Region, für Jüdinnen und Juden, Palästinenserinnen und Palästinenser weltweit. Und auch für uns, die wir nichts davon sind – von denen aber verlangt wird, sich zu positionieren; weil sich dieser Konflikt auch in unseren Schulen, auf unseren Straßen, in unseren Firmen, in unseren Freundesgruppen abspielt. 

Die eine Perspektive: Zerbrechliche Sicherheit, Geiseln und das Trauma des 7. Oktober

Am 7. Oktober 2023 griff die Hamas Israel an. Mehr als 1.300 Menschen wurden von der Hamas grausam ermordet, Familien auseinandergerissen und insgesamt 239 Menschen als Geiseln verschleppt. Die Terroristen griffen gezielt wehrlose Zivilist*innen an, Menschen die auf einem Festival feierten, Menschen, die sich für Frieden zwischen Israelis und Palästinensern eingesetzt haben, junge Familien.

Sie vergewaltigten Frauen* und filmten das. Archaischer kann Gewalt nicht sein. Bis heute befinden sich zwischen 97 und 111 Geiseln in der Gewalt der Hamas – die genaue Zahl schwankt je nach Quelle. Wie viele von ihnen noch am Leben sind, ist unklar. Diese Ungewissheit hinterlässt eine ewig schwärende Wunde, die nicht nur Israel, sondern Jüdinnen und Juden weltweit zutiefst schmerzt. 

In Gesprächen mit jüdischen Freundinnen und Freunden höre ich immer wieder von der tiefen Angst, die sie empfinden. Israel sollte der sichere Ort für Jüdinnen und Juden sein, ein Zufluchtsort nach den Verbrechen des Holocausts und jahrhundertelanger Verfolgung. „Wenn alles schief geht, kann ich immer noch nach Israel“ – das war der sichere Anker vieler meiner Freund*innen, die alle mit den Geschichten enger Familienmitglieder aufgewachsen sind, die verhasst, vertrieben, vergast wurden. Der Überfall der Hamas hat diese Ängste auf brutale Weise aufleben lassen – und den Schutzort zerstört. „Wo sollen wir denn jetzt noch hin?“ Ist eine Frage, die ich oft höre und die mich tief bedrückt. 

Die andere Perspektive: Zehntausende Tote, Vertreibung und das Gefühl nicht trauern zu dürfen

Die militärische Antwort der Regierung Netanjahu auf den Angriff der Hamas hat zu einer humanitären Katastrophe in Gaza geführt. In Gaza sind seit dem 7. Oktober mehr als 40.000 Menschen gestorben, viele davon Kinder. Ganze Familien wurden ausgelöscht, Häuser und Lebensgrundlagen zerstört. Frauen* müssen heute in Gaza Kinder per Kaiserschnitt ohne Betäubung auf die Welt bringen, es herrscht unfassbare Armut und Hoffnungslosigkeit, das israelische Militär bombt Häuser und Schulen nieder, in seiner Jagd nach Hamas-Kämpfern. Gaza, eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt, steht quasi unter einer Blockade, die das tägliche Leben zum Überlebenskampf macht. Zugleich besetzen gewalttätige Siedler immer mehr Land in der Westbank.

Sie fragen mich, ob ihr Leid, ihre Toten weniger wert sind. 

Führende Mitglieder der israelischen Regierung sprechen von „menschlichen Tieren“, von „Palästinenserfreien Pufferzonen“ und die Kämpfe dehnen sich weiter aus – gerade auf den Libanon. 

Freund*innen und Kolleg*innen aus der Region erzählen mir immer wieder von den unzähligen Toten und Verletzten, die diese Bombardierungen fordern. Sie sehen das Trauma, das der Angriff bei Jüdinnen und Juden hinterlassen hat, und respektieren das Gedenken am 7. Oktober. Sie fragen mich aber auch: „Und welcher Tag ist unser Tag, an dem die Welt mit uns trauert?“ Sie fragen mich, ob ihr Leid, ihre Toten weniger wert sind. 

Und was ist meine, unsere Perspektive?

Ich bin am Morgen des 7. Oktober aufgewacht mit den Nachrichten des brutalen Attentats. Als jemand, der*die schon lange in der Region arbeitet und weiß wie kompliziert dieser Konflikt ist, wie viele er emotional bewegt, wie viel Gewalt schon da ist und wie viel mehr möglich ist, war mein erster Gedanke: Nicht noch ein großer Krieg. 

Am Anfang habe ich mich gezwungen, die Bilder der Gewalt und des Leids zu sehen. Ich kann es nicht mehr. Und manchmal erreichen sie mich doch, die Videos von Menschen, die bei lebendigem Leib in einem Krankenhaus in Gaza verbrennen, der jungen Frauen*, die von Hamas-Kämpfern vergewaltigt und nackt auf einen Pick-up-Truck gezerrt werden. An manchen Tagen verfolgen sie mich im Schlaf. 

Ich habe schmerzhafte Gespräche geführt seit dem 7. Oktober

Die Gewalt der Hamas und dann die des israelischen Militärs haben unsere feministische Bewegung fast zerrissen. „Ich glaube wir reden jetzt einfach nicht mehr miteinander darüber, bevor wir Dinge zueinander sagen, die wir nicht mehr zurücknehmen können“ sagte eine irakische Freundin mit der ich so viele Werte, Pläne, Projekte teile. „Kannst Du mich einfach wütend, traurig und verletzt sein lassen, auch Hass spüren lassen, ohne immer – ja aber – zu sagen?“ fragte mich eine jüdische Kollegin, mit der ich mich immer wieder über den Nahostkonflikt ausgetauscht habe, auf der Suche nach einem guten Weg vorwärts. 

Die Gewalt der Hamas und dann die des israelischen Militärs haben unsere feministische Bewegung fast zerrissen.

Und bis heute diskutieren wir die Entwicklungen vor Ort im Europäischen Parlament, fast jeden Tag. Ich habe Kolleg*innen, deren Eltern und Großeltern am Holocaust beteiligt waren oder ihn zumindest geduldet haben; sie betonen auf Grund der eigenen historischen und kulturellen Erfahrungen das Existenzrecht Israels und den Kampf gegen jeden Antisemitismus. Andere teilen eine tiefe kulturelle und emotionale Verbindung zum palästinensischen Volk und weisen darauf hin, dass in den letzten Jahrzehnten nicht genug getan wurde, um das palästinensische Volk zu schützen und ihm eine friedliche Perspektive zu bieten. 

Auch wenn sich beide Perspektiven nicht ausschließen, finden oft hitzige Debatten zwischen Menschen statt, die ansonsten viele politische Werte teilen. Und es kostet Kraft, solche Gespräche in konstruktive Bahnen zu lenken.

Ich kann jetzt nicht die Hände hochnehmen und sagen: Das ist alles zu kompliziert.

In dieser Gemengelage ist es meine Aufgabe, analytisch auf die Situation zu schauen, die unzähligen, oft gegensätzlichen Perspektiven dieses Konflikts nachzuvollziehen und Lösungen zu erarbeiten, wie sie dennoch zusammenkommen können. Gesprächsfäden zu knüpfen, zu jenen, die Gewalt vorantreiben, aber vor allem zu denen, die dem etwas entgegensetzen wollen; nach Lösungen zu suchen, die dringlicher sind denn je. Als Europaabgeordnete, als Friedens- und Konfliktforscherin, als Spezialistin für den Mittleren Osten, kann ich jetzt nicht die Hände hochnehmen und sagen: Das ist alles zu kompliziert. 

Die Herausforderung, Brücken zu bauen

Seit Monaten demonstrieren in Israel Menschen gegen diesen Krieg. Viele Familien in Palästina verfluchen die Hamas für das, was sie getan haben. Nach den Angriffen des iranischen Regimes auf Israel distanzierten sich Tausende Iraner*innen von der Gewalt. Das macht Hoffnung: Neben der Gewalt gibt es Organisationen, die für Frieden arbeiten – auch wenn es ihnen nicht leicht gemacht wird.

Seit Monaten demonstrieren in Israel Menschen gegen diesen Krieg.

Und auch wir im Europäischen Parlament stehen vor der Wahl: Wollen wir weiterhin den Terroristen und Kriegstreibern in die Hände spielen und uns gegenseitig Doppelmoral und Antisemitismus vorwerfen und damit die Spaltung vertiefen? Oder schaffen wir es, unsere unterschiedlichen Perspektiven als Ressource zu nutzen, um der Eskalation etwas entgegenzusetzen?

Eine Politik der Verständigung – jenseits von Terror und Gewalt

Es ist leicht, sich auf eine Seite des Konflikts zu schlagen. Doch das führt uns nicht weiter. Wir leben hier in Sicherheit, frei von Repression. Wenn es uns nicht gelingt, die Spirale der Eskalation zu durchbrechen, wie soll es den Menschen vor Ort gelingen? 

Viele Dinge teilen wir ja auch in unserer Analyse: Dass die israelische Regierung das Recht und sogar die Pflicht hat, das eigene Land und die Menschen darin zu verteidigen – aber im Rahmen des Völkerrechts. Dass die Angriffe der Hamas bestialisch waren, dass die Geiseln freikommen müssen – dass die Angriffe auf Zivilist*innen in Gaza und im Libanon aufhören müssen und es dringend einen Waffenstillstand geben muss. Dass wir mehr Humanitäre Hilfe brauchen und zwei demokratische Staaten – Israel und Palästina – deren Regierungen die Menschenrechte achten. Dass es unsere Aufgabe ist, Terror und Gewalt zu verurteilen und die zu unterstützen, die dem etwas entgegensetzen.

Gerade wegen all der Gewalt dürfen wir nicht nachlassen, Wege der Annäherung zu suchen.

Mit meiner Arbeit im Europaparlament setze ich mich für eine Politik ein, die genau das versucht. Gerade wegen all der Gewalt dürfen wir nicht nachlassen, Wege der Annäherung zu suchen. Europa kann und muss hier eine aktivere Rolle einnehmen. Es ist unsere Nachbarschaft und es ist auch unser Konflikt. Solange auch wir uns streiten und die Konfliktlinien reproduzieren, können wir dieser Rolle aber nur bedingt gerecht werden. 

Deswegen fängt der Weg zum Frieden auch im Kleinen an. Beide Seiten und die vielen Schattierungen dazwischen zu sehen – und zu fühlen. Leid anzuerkennen, alles Leid. Nur durch das Überwinden der Gräben – sowohl politisch als auch emotional – kann eine Grundlage für einen dauerhaften Frieden geschaffen werden. Unsere Aufgabe in diesem Konflikt ist es, dabei zu helfen, Brücken zu bauen. Und dann gemeinsame Schritte zu gehen, mit all den Rückschlägen, die es geben wird. 

Wir, die wir in Sicherheit leben und nicht unmittelbar von dieser Gewalt betroffen sind, dürfen uns nicht verleiten lassen, uns auf eine Seite zu schlagen und einseitig zu agitieren. Nur wenn wir in unserem Denken und Handeln diese Gräben überwinden, können wir erwarten oder zumindest hoffen, dass dies auch vor Ort gelingen mag.



Text: Hannah Neumann
Collage/Foto: „Canva“/Sapna Richter

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert