Die Berliner Journalistin Sineb El Masrar findet, Muslimas müssen endlich den Mut haben, ihre Rechte einzufordern – und zwar ohne Kompromisse. In ihrem Buch „Emanzipation im Islam – Eine Abrechnung mit ihren Feinden“ beschreibt die Autorin, was und vor allem wer Muslimas heute daran hindert, ein emanzipiertes und selbstbestimmtes Leben zu führen, ob es nun ihre Sexualität, Liebe, Partnerschaft oder die Erziehung ihrer Kinder betrifft. Wie individuelle Entfaltung gelingen kann, damit Muslimas ein selbstbestimmtes Leben innerhalb ihrer Religion leben können, das erzählt uns Sineb nach ihrer Lesung in Hamburg.
Sineb El Masrar: Die ersten Gläubigen waren keine Männer. Der Prophet war ein Mann, klar. Aber die erste Gläubige war seine Frau und die hat ihn in seinem Glauben bestärkt. Somit ist das Fundament gewachsen. Es gab weitere Frauen, die er geehelicht hat, darunter natürlich auch schwierige Frauenfiguren wie Aischa, die bei der Heirat ein Kind gewesen ist. Sie ist eine der wichtigsten Hadith-Vermittlerinnen (Anm. d. Red.: Der Begriff Hadith bzw. Hadīth bezeichnet im Islam die Überlieferungen der Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed.)
Sie war keine unterwürfige Person und hat sich mit einigen Weggefährten des Propheten angelegt. Am Anfang des Islams haben besonders Frauen Präsenz gezeigt, bevor sie immer weiter marginalisiert wurden. Ihr Selbstbewusstsein ist auch der Tatsache geschuldet, dass die Frauen in einer vorislamischen und in weiten Teilen matriarchalischen Gesellschaft sozialisiert wurden.
Erstmal gibt es nicht die Muslima, es gibt viele muslimische Frauen, die unterschiedlich sozialisiert sind. Sie assoziieren sich mal mehr, mal weniger mit dem Islam und emanzipieren sich teils durch die Religion, während andere für diesen Prozess die Religion nicht brauchen.
Ihre Feinde sind dabei unterschiedlich: Das fängt bei der eigenen Mutter an, die an der Tradition und an den Rollenbildern festhält und ihre Tochter vielleicht klein hält, weil sie selbst schlechte Erfahrungen gemacht hat und ihrer Tochter Selbstbestimmung nicht gönnt. Es können genauso die eigenen Brüder, Onkel oder Väter sein. In der Gesellschaft kommen weitere Faktoren dazu, wie beispielsweise die leidige Burka-Debatte. Wenn unsere Werte sagen, dass eine Frau sich kleiden darf, wie sie will, dann steht einer Burka-Trägerin das genauso zu. Rassistische Ausgrenzungserfahrungen sind auch Faktoren, die Emanzipation nicht immer möglich machen. Das vergessen wir in der Debatte oft. Es lauern also auf beiden – muslimischer wie nicht-muslimischer Seite – Emanzipationsverhinderer.
Das religiös begründete und dogmatische Kopftuch, was mehr als nur das Haare bedecken beinhaltet, finde ich aus feministischer Perspektive problematisch. Dennoch steht jeder Frau zu, einen eigenen Weg zu gehen. Es muss eben selbstbestimmt geschehen. Ich finde es wichtig, die Frauen dahingehend zu unterstützen, dass sie reflektieren und zu eigenen Schlüssen kommen. Denn auch Tuchträgerinnen sind Individuen.
Es gibt religiöse Organisationen und Gruppierungen, die bestimmte Diskussionen vermeiden, wie zum Beispiel das Thema Kopftuch abzulegen; dass eine Muslimin heiraten kann, wen sie heiraten möchte, oder bekennend lesbisch sein darf; dass sie ausgegrenzt wird, wenn sie sich scheiden lässt, weil sie verheiratete Männer eventuell verführt oder Themen wie außereheliche Schwangerschaften. Hierüber wird nicht gesprochen und somit werden auch keine Lösungsansätze für diese Probleme gegeben. Das sind keine spezifisch muslimischen Themen, aber diese Gruppierungen grenzen aus einer religiösen Überzeugung aus. Es braucht mehr Mut, diese Missstände anzuprangern. Stattdessen werden diese Frauen ständig kritisiert oder der Glauben wird ihnen ganz abgesprochen.
Sie sind deshalb problematisch, weil sie frauenfeindliche Positionen religiös begründen. Ob in ihren Publikationen oder in ihren Gemeinden. Ohne Druck von Außen ändert sich bei ihnen nichts. Schon allein deshalb braucht es mehr Mut diese Missstände zu benennen. Beim Thema Radikalisierung, was auch Mädchen und Frauen betrifft, war zum Beispiel der Zentralrat der Muslime maßgeblich daran beteiligt, salafistische und islamistische Inhalte jungen Menschen zu vermitteln, statt kritisch zu hinterfragen und junge Muslime davor zu bewahren, diesen Denkern auf den Leim zu gehen. Unsere Gesamtgesellschaft ist hier gefragt, genau hinzusehen, statt sich von Floskeln à la „Hat nichts mit dem Islam zu tun“ einwickeln zu lassen.
Die Mütter müssen ihre Töchter aber auch Söhne bestärken, Selbstvertrauen und Empathie zu entwickeln.
Im Grunde genommen fängt es in der eigenen Familie an. Die Mütter müssen ihre Töchter aber auch Söhne bestärken, Selbstvertrauen und Empathie zu entwickeln. Aber auch kritisches Denken und ein offener und respektvoller Austausch müssen unterstützt werden. Damit sie sich trauen, Fragen zu stellen und vielleicht auch Dinge über Bord zu werfen, die innerhalb der Religion oder auch der Community schlichtweg unfair und diskriminierend sind.
Das muss auch in der Schule unterstützt werden, indem bestimmte Diskussionen geführt werden: Welche Rolle hat die Frau im Islam? Den Mädchen muss die Möglichkeit gegeben werden, selbst für sich Verantwortung zu übernehmen und sich frei bewegen zu können und auch bei Fehlentscheidungen und darauffolgender Unzufriedenheit nicht das Gefühl zu haben, Gott bestraft sie gerade. Aber auch Bildung und die Teilnahme am Erwerbsleben sind wichtig, um unabhängig von einer Familie oder Partner leben zu können.
Die Männer müssen bei sich selbst anfangen, indem sie schauen, woher ihre Mysogonie kommt. Warum sind sie homophob? Vielleicht weil sie selbst homosexuelle Neigungen haben? Aber bestimmt nicht, weil Allah ihnen Homophobie vorschreibt. Auch für sie gilt, Verantwortung für ihr Denken und Handeln zu übernehmen. Das lässt Männer genauso darüber nachdenken, warum ihnen bestimmte Rollen zugeschrieben werden oder warum sie an bestimmten Rollenklischees festhalten. Woher bekommen sie diese vermittelt und wie lassen sie sich überwinden? Als Frauen und Mütter hätten wir gute Möglichkeiten, ausgeglichene und faire Männer aufzuziehen, die wiederum mit ihren Töchtern liebevoll und fördernd umgehen. Von diesen muslimischen Vätern gibt es zum Glück viele. Leider sind diese nur viel zu selten sichtbar.
Ich durfte mich frei entfalten und wurde bedingungslos geliebt. Dafür bin ich meinen Eltern sehr dankbar!
Vor allem liebende Eltern, die mir keine gesellschaftlichen Grenzen gesetzt haben, nur weil ich ein Mädchen bin. Eine gewisse Strenge war schon da, ich bin Einzelkind und sie wollten nicht, dass ich als verwöhnte Göre durch die Welt laufe. Wenn auch gerade von mir Kritisierte mich genau so wahrnehmen (lacht). Kurzum: Ich durfte mich frei entfalten und wurde bedingungslos geliebt. Dafür bin ich meinen Eltern sehr dankbar!
Zuhause habe ich den Satz vermittelt bekommen: Islam ist Gnade. Das ist wie ein Zelt, was mich umgibt, dieses Bild habe ich immer vor Augen. So habe ich es auch in Marokko durch meine religiöse Familie selbst vermittelt bekommen. Der marokkanische König hat vor Kurzem eine Rede gehalten, in der er sagte: Mögen die Marokkaner im Ausland den toleranten Islam Marokkos in die Welt tragen und damit dem religiös motivierten Extremismus begegnen. In Marokko läuft auch nicht alles rosig, aber vieles ist in Bewegung. Und Missstände benennen und ein Gegenangebot machen, sind Wege heraus aus Ignoranz, Unterdrückung und Bequemlichkeit. Das macht Mut und Laune!