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Feminismus

Unconscious Bias: Was unsere Wahrnehmung mit Macht, Rassismus und Sprache zu tun hat

07. August 2025

geschrieben von Fatima Njoya

Chantal Bamgbala über Bias

Ob bei der Jobsuche, in der Schule oder beim Smalltalk – unbewusste Voreingenommenheit oder Vorurteile, sogenannte "Bias", prägen unseren Alltag stärker, als vielen bewusst ist. Die Kulturwissenschaftlerin, Dozentin und zertifizierte Trainerin Chantal Bamgbala sensibilisiert in ihrer Arbeit für genau diese Mechanismen – und zeigt, wie tief verankert rassistische Denkmuster, stereotype Rollenbilder und sprachliche Ausgrenzung oft sind. Die 27-Jährige ist Obfrau und Trainerin beim Verein "D!SRUPT", Co-Gründerin der Plattform "Melanin Talk", Veranstalterin des "African Diaspora Festivals" und Mitautorin des Buchs "War das jetzt rassistisch? 22 Antirassismus-Tipps für den Alltag".

Ihr Ansatz: Menschen dazu zu ermutigen, eigene Denk- und Handlungsmuster zu hinterfragen – nicht moralisierend, sondern auf Augenhöhe. Im Gespräch erklärt sie, wie Bias entstehen, warum es mehr als 175 davon gibt – und weshalb es nicht reicht, zu sagen: "Ich habe keine Vorurteile." Ein Interview über White Fragility, strukturelle Diskriminierung und die Notwendigkeit, Kritik annehmen zu lernen.

"Wir nehmen Menschen, die nicht unserem Ideal entsprechen, oft als weniger qualifiziert wahr – ohne es zu hinterfragen."

femtastics: Bei deiner Arbeit legst du den Fokus auf sogenannten Bias, also unbewusste Vorurteile. Was reizt dich an diesem komplexen Thema?

Chantal Bamgbala: Die allgemeine Annahme ist, dass Bias grundsätzlich negativ sind. Dem ist nicht so. Sie können dabei helfen Informationen zuzuordnen. Als ich angefangen habe mich genauer mit Bias zu beschäftigen, habe ich festgestellt, dass es über 175 Stück gibt – positive, negative. Vorher dachte ich immer, es sei sehr individuell. Jetzt weiß ich, es ist ein Phänomen in unseren Köpfen.

Welche Rolle spielen die Bias-Effekte?

Eine große. Um zwei Beispiele zu nennen: Beim "Halo-Effekt" wird auf Basis eines positiven Merkmals ein positiver Charakterzug abgeleitet. Wir schreiben Menschen mit bestimmten für uns attraktiven äußerlichen Merkmalen automatisch mehr Kompetenz zu. Beim "Horn-Effekt" ist es umgekehrt: Wir nehmen Menschen, die nicht unserem Ideal entsprechen, oft als weniger qualifiziert wahr – ohne es zu hinterfragen. Solche Mechanismen beeinflussen unsere Entscheidungen im Alltag, zum Beispiel beim Thema Sprache, Rollenbilder oder Verhalten gegenüber Fremden.

"Wir alle haben bestimmte Muster verinnerlicht. Auch sprachliche Gewohnheiten zählen dazu, etwa wie wir über bestimmte Gruppen sprechen."

Wie machst du diese Phänomene in deinen Trainings greifbar?

Ich nutze dafür Assoziationsübungen wie Pantomime. Beim Wort Polizei zum Beispiel zeigen viele Waffen, Gewalt, eine Verhaftung. Warum ist das das erste Bild, was uns dabei in den Kopf kommt? Eigentlich gilt die Polizei als Freund und Helfer. Das zeigt: Die Wahrnehmung ist von persönlichen Erfahrungen und medialen Bildern geprägt, durch die unbewusste Vorurteile entstehen.

Viele Menschen sagen von sich, dass sie keine Vorurteile hätten. Kann das stimmen?

Wir alle haben bestimmte Muster verinnerlicht. Auch sprachliche Gewohnheiten zählen dazu, etwa wie wir über bestimmte Gruppen sprechen, ob wir geschlechtergerechte Sprache verwenden – oder eben nicht. In meinen Trainings zeige ich durch kleine Übungen, wie man diese Bilder hinterfragt und wie wichtig es ist, aktiv dazuzulernen. Wann spreche ich mit einer Person auf Englisch? Warum gerade mit dieser?

Wie sieht so eine Übung aus?

Ich zeige einen weißen Zettel mit einem Punkt in der Mitte und bitte die Teilnehmenden, sich einen beliebigen Punkt auf dem Zettel auszusuchen. Meist fällt es ihnen schwer, weil ihr Blick automatisch auf die markierte Stelle gelenkt wird. Ähnlich verhält sich die Wahrnehmung in einer Menschenmenge. Wir konzentrieren uns auf Auffälligkeiten. Von dieser Übung leite ich dann zum Thema Racial Profiling über, um für unconscious Bias und diskriminierende Strukturen zu sensibilisieren. Racial Profiling bedeutet, dass Personen aufgrund ihres Aussehens, insbesondere ihrer Hautfarbe, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, ohne konkreten Verdacht kontrolliert oder überwacht werden. Diese Praxis ist eine Form von Diskriminierung.

"Entlernen braucht Zeit und Übung. Wir werden nicht mit dem Wissen geboren. Das müssen wir uns selbst aneignen."

Was macht die Erkenntnis mit den Teilnehmer*innen in deinen Workshops und Trainings?

Manche sind überfordert, vor allem durch die Begriffsvielfalt. Die ist wiederum wichtig dafür, dass Betroffene benennen und verstehen können, was ihnen im Zweifel gerade widerfährt. Ich sehe das oft bei Kindern of Colour, zum Beispiel aus dem Balkan, die erst lernen müssen: Ja, das, was mir passiert ist, war Rassismus.

In Schulklassen nutze ich den Begriff „Person of Color“ für Quizfragen und lasse aufzählen, wer als Person of Colour gilt. Die meisten nennen Menschen mit dunkler Haut. Dabei umfasst der Begriff viel mehr: Jüdische Menschen, Menschen aus dem Balkan, mit asiatischem Hintergrund, mit Religionen oder Kulturen außerhalb der weißen, christlich-westeuropäischen Norm. Wenn sie das realisieren, sehe ich immer eine Art Euphorie. Im Umkehrschluss zeigt es auch: Bei vielen fehlt das Bewusstsein, dass sie auch zu den Menschen mit Migrationsbiographie gehören, die zum Beispiel von rechten Parteien ausgegrenzt werden sollen.

Wie kann man sich und das eigene Umfeld hinterfragen?

Ich empfehle immer, sich für Alltagsmomente zu sensibilisieren. Dinge zu hinterfragen öffnet den Blick, Entlernen braucht hingegen Zeit und Übung. Wir werden nicht mit dem Wissen geboren. Das müssen wir uns selbst aneignen. Regelmäßige Trainings können dabei helfen. Doch leider sind solche Formate nicht strukturell verankert.

"Wenn ich nur weißen Stimmen folge – etwa in Philosophie oder Medien – verpasse ich wichtige Perspektiven."

Ein schwieriger Aspekt deiner Arbeit ist der Umgang mit Emotionen. Wie gehst du mit Ablehnung oder verletzten Gefühlen um, wenn du auf Missstände hinweist?

Für diese Art der Kritik braucht es ein gewisses Feingefühl. Ich setze dabei auf Ich-Botschaften, vor allem im institutionellen Kontext: "Mir ist aufgefallen" oder "ich habe beobachtet". Wenn man von sich ausgeht und damit die Last bzw. die empfundene Scham entschärft, nimmt es den Druck raus. Gleichzeitig braucht es von der anderen Seite Bereitschaft Kritik anzunehmen. Viele Erwachsene haben das verlernt – im Gegensatz übrigens zu Schüler*innen, die ständig damit konfrontiert sind. Kritikfähigkeit ist eine wichtige Kompetenz, aber auch die Art und Weise, wie man sie übermittelt.

Und wenn Hierarchien dazukommen wie im Berufsalltag? Wie lassen sich hier Bias ansprechen?

Ich würde auf jeden Fall schauen, dass es Unterstützung von unterschiedlichen Menschen gibt. Das ist wichtig, wenn man als einzige betroffene Person gegen strukturelle Probleme im Unternehmen ankämpfen muss. So kann man die emotionale Last verteilen. Leider erlebt man in solchen Fällen oft White Fragility, eine starke Abwehrhaltung, die jede Kritik blockiert. Plötzlich steht nicht mehr das Thema im Mittelpunkt, sondern verletzte weiße Gefühle. Das kann Gespräche komplett entgleisen lassen. Plötzlich findet man sich in einer Position, in der man sich nicht mehr nur Gehör verschaffen, sondern auch gegen diese ganze Welt kämpfen muss. Es kann helfen, in so einem Fall eine externe Fachperson hinzuzuziehen.

Wie kann man solchen Situationen vorbeugen und biaskritische Impulse geben?

Wir müssen einander helfen und Räume schafft, in denen Austausch auf Augenhöhe möglich ist. Und aktiv fragen: Wen zitiere ich? Wem höre ich zu? Wenn ich nur weißen Stimmen folge – etwa in Philosophie oder Medien – verpasse ich wichtige Perspektiven. Bias-kritisches Denken bedeutet, ständig die eigenen Informationsquellen zu hinterfragen. Das bedeutet viel Arbeit und heißt im ersten Schritt Kritik an- und nicht gleich persönlich nehmen.

"Ich würde mir wünschen, dass Menschen mit gelebten Erfahrungen mit einbezogen werden und überall als Ansprechpersonen eingesetzt werden."

Hast du ein aktuelles Beispiel, wie sich das auswirken kann?

In den aktuellen Debatten geht es viel um Transparenz und Sichtbarkeit: Viele Menschen – etwa indigene Gruppen oder Frauen* afrikanischer Herkunft – leisten seit Langem kreative Pionierarbeit, erhalten dafür aber kaum Anerkennung. Während einzelne kreative Leistungen im globalen Norden gefeiert und medial verbreitet werden, bleibt alltägliche Innovation im globalen Süden meist unbeachtet. Selbst wenn sie dokumentiert wird, erfährt sie wenig Aufmerksamkeit.

Was müsste sich ändern, um solche Dynamiken besser einordnen zu können?

Ich würde mir wünschen, dass Menschen mit gelebten Erfahrungen mit einbezogen werden und überall als Ansprechpersonen eingesetzt werden, um immer wieder zu hinterfragen: Was hat funktioniert, was nicht? Wo hat sich jemand unwohl gefühlt? Welche Begriffe wurden verwendet, die verletzend sein können? Wie ist der Umgang damit? Welche Personen haben viel Redezeit eingenommen? Welche Menschen bekommen nicht die Plattform, die sie haben sollten? Sind Dinge fair verteilt?

Was gibt dir Hoffnung?

Ich würde eher sagen, ich habe ein positives Gefühl, wenn an Dingen gearbeitet wird. Denn wo etwas passiert, gibt es auch Ergebnisse. Wie bei meinen Trainings. Mein Wunsch wäre, dass ein diskriminierungsfreies Miteinander und das Projekt „Extremismus Prävention“, unter dem meine Workshops laufen, systemisch verankert werden.

Hier findet ihr Chantal Bamgbala:

Foto/Collage: Alexandra Hearts/"Canva"