Zwischen zwei Heimaten: Wie kulturelle Wurzeln das Selbstbewusstsein stärken
13. Oktober 2025
geschrieben von Gastautor*in

Was bedeutet es, zwischen zwei Ländern, Sprachen und Geschichten zu leben – und nie ganz dazuzugehören, weder hier noch dort? Für viele Menschen mit Migrationsgeschichte ist dieses Dazwischen kein Ausnahmezustand, sondern Alltag. Auch femtastics Autorin Ema Jerkovic kennt das Gefühl, zwischen Kroatien und Deutschland zu pendeln – geografisch wie emotional. In ihrem Text erzählt sie, warum der Blick zurück auf die eigenen kulturellen Wurzeln nicht nur eine Reise in die Vergangenheit ist, sondern ein Schritt zu mehr Selbstbewusstsein und innerer Freiheit.
"Irgendwas in mir schien zu fehlen."
Mein Weg zwischen Kroatien und Deutschland
Meine Großeltern sind als eine der letzten Gastarbeiter*innen 1973 aus dem damaligen Jugoslawien nach Deutschland gekommen. Mit ihnen sprach ich kroatisch, Bands wie „Bijelo Dugme" sind mir genauso bekannt wie "Silbermond" und den Urlaub verbrachte ich immer in unserem Haus am Meer. Wenn ich meine Cousinen zusah, die ihren ersten Schultag Anfang September in Zagreb hatten, fragte ich mich immer, wie es wäre, hier aufzuwachsen. Irgendwas in mir schien zu fehlen.
Als Post-Migrantin in der dritten Generation bin ich damit nicht allein. In Deutschland existieren etwa 23 Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte. Genaue Zahlen über Einwander*innen und ihre Nachfahren aus Ex-Yugoslawien gibt es nicht, doch ihre Zahl wird auf 1,5 Millionen geschätzt. Was durchaus existiert, sind viele Erfahrungsberichte über ex-jugoslawische Post-Migrant*innen, die „Erasmus“-Semester oder einen geförderten Sprachau-fenthalt nutzen, um sich stärker mit ihren kulturellen Wurzeln zu verbinden. Für mich war es 2022 so weit: Ich konnte mit einem Stipendium über ein Jahr in Kroatiens Hauptstadt Zagreb verbringen. Eine Zeit, die letztendlich mein Selbstbewusstsein gestärkt hat.
"Identität ist kein Puzzle, welches man fertigstellen kann, sondern eine Collage. Und manchmal ist genau das die Kraft."
Zu deutsch für Zagreb?
Als ich 2022 mit einem Stipendium für ein Jahr nach Zagreb ging, war ich mir sicher, endlich ankommen zu können und das fehlende Puzzleteil meiner Identität zu finden. Doch die Realität war viel komplexer. Plötzlich war ich nicht mehr die mit dem komplizierten Nachnamen, den kaum einer aussprechen konnte. Das wirkte erst einmal befreiend, bis ich merkte, dass ich nun die „Deutsche“ war. Mein Akzent fiel auf, mein Studium wurde bestaunt, und oft wurde ich gefragt, warum ich überhaupt hier sei. Die Zuschreibungen wechselten, aber die Unsicherheit blieb. Ich musste lernen, dass Identität eben kein Puzzle ist, welches man fertigstellen kann, sondern eine Collage. Und manchmal ist genau das die Kraft.
Trotz aller Ambivalenz hatte ich in Zagreb zum ersten Mal das Gefühl, nichts erklären zu müssen. Ich sah Menschen, die wie ich zwei Sprachen im Kopf hatten, zwei Heimaten im Herzen. Ich besuchte Konzerte, bei denen ich jeden Text kannte. Ich schloss Freundschaften mit Menschen, die auf gemeinsamen Geschichten beruhten, obwohl wir uns gerade erst begegnet waren. In diesen Monaten lernte ich auch beruflich, was es heißt, zwischen Kulturen zu vermitteln. Ich arbeitete mit einer Wissenschaftlerin zusammen, die Rückkehrer*innen aus dem DACH-Raum untersuchte. Mir wurde klar, dass ich Teil eines viel größeren Phänomens war.
"In Zagreb hatte ich zum ersten Mal gespürt, was emotionale Zugehörigkeit wirklich bedeutet."
Ich wollte nicht zurück, aber musste
Nachdem mein Stipendium und damit auch mein Studium zu Ende ging, viel mir der Abschied schwer. Es war kein typischer Herzschmerz, sondern ein schweres innerliches Ringen. In Deutschland wartete mein Einstiegjob nach dem Studium, meine Wohnung und mein strukturiertes Leben. Doch in Zagreb hatte ich zum ersten Mal gespürt, was emotionale Zugehörigkeit wirklich bedeutet. Genau wie ich gehen viele Postmigrant*innen, die eine längere Zeit im Land ihrer Vorfahren verbringen, wieder zurück. Denn Gehalt und Perspektiven sind in Deutschland noch immer besser und die Realität gewinnt doch über das Herz. Trotzdem war etwas anders, denn nun war ich in mir selbst angekommen.
Zurück in Deutschland: Wenn das Ankommen schwerer fällt als das Weggehen
Als ich Deutschland verließ, dachte ich nicht, dass es mir schwerfallen würden, nach meiner Rückkehr in den Alltag in Deutschland wiederzufinden. Doch genau das passierte. In der interkulturellen Forschung spricht man vom "Reverse Culture Shock", also einem umgekehrten Kulturschock, der viele Menschen nach längeren Auslandsaufenthalten trifft. Für mich wirkte es mehr als das, denn durch den langen Aufenthalt im Land meiner Vorfahren hat sich mein Blick auf vieles verändert.
Plötzlich fiel mir auf, wie oft hier an der Supermarktkasse genörgelt wird, wo ich doch in Kroatien an den gleichen Orten morgens so viele kleine freundliche Gespräche und Gesten erlebt hatte. Auch bei der Arbeit fühlte ich mich anfangs fremd, ganz als würde ich noch zwischen zwei Kulturen stehen, mit einem Bein dort und mit dem anderen hier. Bis heute habe ich damit zu kämpfen, anzuerkennen, dass dieses Gefühl dazugehört. Denn wenn wir uns auf neue kultu-relle Erfahrungen wirklich einlassen, verändern sie uns. Die Rückkehr ist dann nicht einfach ein „Zurück“, sondern ein neuer Anfang.
Gerade für Menschen, die zwischen mehreren kulturellen Räumen leben, so wie ich zwischen Kroatien und Deutschland, kann dieses mentale Pendeln eine Herausforderung sein. Doch aus Herausforderungen wachsen auch Stärken in Bezug auf die eigene Zugehörigkeit.
"Wer erkennt, dass kulturelle Vielfalt keine Schwäche, sondern eine Ressource ist, beginnt, sich mit erhobenem Kopf durch die Welt zu bewegen."
Das Austesten der eigenen Zugehörigkeit ist politisch
Sich zwischen zwei Ländern, zwei Sprachen und zwei Kulturen zu bewegen, ist nicht nur eine persönliche Erfahrung, sondern auch eine politische. Denn Zugehörigkeit wird nicht einfach „gefühlt“, sie wird anerkannt, verhandelt, infrage gestellt. Wer in mehreren kulturellen Welten zu Hause ist, wird oft gefragt, woher er oder sie wirklich kommt. Diese Frage zieht Zugehörigkeit in Zweifel.
Doch genau dieses Gefühl, trotz aller Zuschreibungen und Erwartungen den eigenen Platz selbst zu definieren, kann unglaublich empowernd sein. Es bedeutet, sich nicht mehr zu verstecken, sondern die eigene Geschichte als Stärke zu begreifen. Wer erkennt, dass kulturelle Vielfalt keine Schwäche, sondern eine Ressource ist, beginnt, sich mit erhobenem Kopf durch die Welt zu bewegen. Dadurch schafft diese Person politische Sichtbarkeit.
Zugehörigkeit heißt dann nicht, sich einer Norm unterzuordnen, sondern Räume zu schaffen, in denen komplexe Identitäten Platz haben dürfen. Es ist ein stiller, aber wirkungsvoller Akt von Selbstbestimmung. Und zumeist der Anfang von Veränderung.
Text: Ema Jerkovic
Foto/Collage: "Canva"