Schon mal über einen Quereinstieg nachgedacht? Die alten (beruflichen) Zelte abreißen und nochmal ganz von vorne anfangen? Vielleicht doch Lehrer*in werden oder gar etwas Eigenes gründen? Clara Hahn berät mit ihrem Unternehmen „FiredUp“ kostenlos Menschen, die auf der Suche sind – nach einem Job, aber auch nach mehr. Wir haben sie gefragt, wann ein beruflicher Neuanfang erfolgreich sein kann, wann es sich um ein Luftschloss handelt und warum die Zeit des Fachkräftemangels perfekt für einen Quereinstieg sein kann.
Clara Hahn: Langfristig ist sie das. Der Arbeitsmarkt wandelt sich gerade zum Arbeitnehmendenmarkt – das ist eine Chance. Aktuell ist der Strukturwandel jedoch noch im vollen Gange: Alte Recruiting-Strukturen müssen verändert werden, denn da gibt es immer noch einen Mismatch.
Der Mismatch, den ich anspreche, liegt vor allem darin, dass viele Unternehmen noch immer traditionelle Rekrutierung-Ansätze verfolgen, die nicht mehr zeitgemäß sind. Sie fokussieren sich zu sehr auf spezifische Qualifikationen und Berufserfahrungen, anstatt auf das Potenzial und die Anpassungsfähigkeit der Kandidat*innen. In einer sich schnell wandelnden Arbeitswelt sollten Unternehmen ihre Einstellungskriterien überdenken und offener für vielfältige Lebensläufe und Kompetenzen sein. So können sie sich besser an die neuen Marktanforderungen anpassen.
In einer sich schnell wandelnden Arbeitswelt sollten Unternehmen ihre Einstellungskriterien überdenken und offener für vielfältige Lebensläufe und Kompetenzen sein.
Es gibt mehrere Gründe. Einer davon ist der demografische Wandel. In vielen Branchen gehen erfahrene Fachkräfte in den Ruhestand und es gibt nicht genug junge Talente, die nachrücken. Außerdem gibt es eine Diskrepanz zwischen den Fähigkeiten, die in der Bildung vermittelt werden, und denen, die auf dem Arbeitsmarkt benötigt werden. Technologische Entwicklungen führen auch zu neuen Berufsfeldern, für die es noch keine ausgebildeten Fachkräfte gibt.
Besonders betroffen sind Branchen, die stark von Technologie und Digitalisierung beeinflusst sind, wie die IT-Branche, aber auch der Gesundheitssektor und das Handwerk. Diese Bereiche erleben schnelle Veränderungen und benötigen kontinuierlich neue Kompetenzen, die oft schwer zu finden sind. Auch in der Industrie und im Ingenieurwesen gibt es einen bemerkenswerten Mangel an Fachkräften.
Einige haben sich sicherlich umorientiert, vor allem in Richtung Berufe, die ihnen mehr Flexibilität oder bessere Arbeitsbedingungen bieten. Ein anderer Faktor ist die Pandemie, die viele dazu veranlasst hat, ihre Karriereziele zu überdenken und in Bereiche zu wechseln, die ihnen persönlich mehr Bedeutung bieten. Außerdem gibt es einen Trend zum Frühruhestand oder zu einer reduzierten Arbeitszeit, was ebenfalls zur aktuellen Situation beiträgt.
Der Wunsch zur radikalen Veränderung im Job wird ja schnell mal aus einer Unzufriedenheit heraus geboren.
Zunächst einmal ist es wichtig, den Realitätscheck zu machen. Der Wunsch zur radikalen Veränderung im Job wird ja schnell mal aus einer Unzufriedenheit heraus geboren. Da kann es helfen sich zu fragen: „Wohin möchte ich?“, zu überprüfen und genauer hinzuschauen, welches Bedürfnis meiner Idee eigentlich zugrunde liegt. So stelle ich sicher, dass meine Entscheidung nicht impulshaft ist, sondern einer Karrierestrategie folgt. Bei der konkreten Umsetzung kann die „Bundesagentur für Arbeit“ helfen mit gezielten Weiterbildungen – übrigens auch für Menschen, die aktuell noch im Beruf sind.
Für den Quereinstieg gibt es verschiedene Wege, abhängig von den individuellen Zielen und dem aktuellen Stand der Fähigkeiten. Weiterbildung ist eine der Hauptstrategien. Viele Institutionen und Online-Plattformen bieten spezialisierte Kurse an, die auf den Erwerb neuer Fähigkeiten in einem bestimmten Bereich abzielen. Das können branchenspezifische Kenntnisse sein oder allgemeine Kompetenzen wie Projektmanagement oder digitale Fähigkeiten.
Umschulungen sind eine weitere Option, besonders wenn man in einen völlig anderen Berufszweig wechseln möchte. Diese Programme sind in der Regel länger und umfassender als Weiterbildungen und bereiten auf einen spezifischen neuen Beruf vor. Die „Bundesagentur für Arbeit“ bietet hier oft Unterstützung an, auch finanziell.
Netzwerken sollte ebenfalls nicht unterschätzt werden. Der Austausch mit Menschen, die bereits in dem angestrebten Bereich arbeiten, kann wertvolle Einblicke und möglicherweise sogar direkte Jobchancen bieten. „LinkedIn“ und andere berufliche Netzwerke sind dafür ideale Plattformen. Zu guter Letzt ist es wichtig, den Lebenslauf und das Bewerbungsschreiben auf den Quereinstieg anzupassen. Man sollte hervorheben, wie die bisherigen Erfahrungen und Fähigkeiten auf die neue Position übertragbar sind und welchen Mehrwert man für das Unternehmen bieten kann. Es geht darum, den potenziellen Arbeitgeber*innen zu zeigen, dass man trotz des Wechsels in ein neues Feld eine Bereicherung für das Team wäre.
Der Austausch mit Menschen, die bereits in dem angestrebten Bereich arbeiten, kann wertvolle Einblicke und möglicherweise sogar direkte Jobchancen bieten.
Es gibt Branchen, wie zum Beispiel die Tech-Industrie, in denen große Wechsel möglich sind. Das liegt zum einen an der gelebten Kultur der Branche: Veränderungen sind willkommen und werden gefördert. Außerdem ist es teurer eine*n Mitarbeitende*n gehen zu lassen als intern weiterzubilden.
In anderen Branchen wie zum Beispiel der Gesundheitsbranche ist das schon komplizierter: Der Quereinstieg in Lehr- und Care-Berufe wird zum Beispiel mit strengen Regularien schwer gemacht, was ich sehr schade finde. Es ist gar nicht so leicht als Fachfremde*r als Erzieher*in, Lehrer*in oder Pfleger*in zu arbeiten, obwohl es da den höchsten Bedarf gibt. Das ist zum Kopfschütteln und da muss noch viel passieren. Mit „FiredUp“ sind wir vor allem im Tech-Bereich unterwegs.
Neben dem Technologiebereich, der weiterhin sehr gefragt ist, gibt es mehrere andere Branchen, in denen aktuell große Chancen bestehen. Hier sind einige Beispiele:
Gesundheitswesen und Pflege: Durch den demografischen Wandel und die Herausforderungen der jüngsten globalen Gesundheitskrisen gibt es einen steigenden Bedarf an Fachkräften im Gesundheitswesen. Das Spektrum reicht von medizinischem Personal bis hin zu Fachkräften in der Altenpflege und in unterstützenden Gesundheitsdiensten.
Erneuerbare Energien und Nachhaltigkeit: Angesichts des wachsenden Bewusstseins für Umweltthemen und der politischen Bestrebungen, klimaneutrale Wirtschaftsweisen zu fördern, boomt die Branche der erneuerbaren Energien. Dies umfasst Bereiche wie Wind- und Solarenergie, nachhaltige Infrastruktur und grüne Technologien.
Bildung und E-Learning: Die Digitalisierung der Bildung hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Fachkräfte in der Entwicklung von E-Learning-Plattformen, digitalen Lehrinhalten und in der pädagogischen Betreuung online sind zunehmend gefragt.
Logistik und E-Commerce: Mit dem Wachstum des Online-Handels sind auch die Bereiche Logistik und Lieferkettensysteme gewachsen. Fachkräfte in der Lagerhaltung, im Transportwesen sowie in der Logistikplanung und -optimierung sind sehr gefragt.
Finanztechnologie (Fintech): Der Finanzsektor erlebt durch die Digitalisierung eine Transformation. Innovationsgetriebene Unternehmen im Bereich Fintech suchen nach Fachkräften, die in den Schnittbereichen von Finanzen, Technologie und Innovation tätig sind. In all diesen Branchen sind nicht nur spezialisierte Fachkräfte gefragt, sondern auch Quereinsteiger*innen, die bereit sind, sich in neue Bereiche einzuarbeiten und frische Perspektiven mitzubringen
Der Quereinstieg in Lehr- und Care-Berufe wird zum Beispiel mit strengen Regularien schwer gemacht, was ich sehr schade finde.
Wir möchten das Thema Arbeitslosigkeit entstigmatisieren und den Arbeitsmarkt neu denken. Dazu verfolgen wir einen ganzheitlichen, systemischen Beratungsansatz: Bei uns steht der Mensch im Zentrum und nicht der Lebenslauf, wie das bei anderen Bildungsträgern vielleicht der Fall ist. Denn der Lebenslauf ist nur „ein Symptom“ vom Menschsein.
Wir fangen also an mit Fragen wie: „Was begeistert dich?“; Was frustriert dich?“; „Wie verbringst du gerne deine Zeit“; „Wie gestaltest du deine Beziehungen, deine Freundschaften?“ – dabei lernen wir noch viel mehr über uns als wenn wir alles nur über den Lebenslauf aufdröseln wollen. Unsere Kund*innen kommen hauptsächlich von der „Bundesagentur für Arbeit“ und sind nach dem ersten Gespräch oft positiv überrascht und erleichtert, dass sie gesehen werden.
Ganz unterschiedlich: Zu uns kommen Menschen, die vielleicht die Kündigung für in drei Monaten erhalten haben und sich schon mal umschauen möchten. Es kommen aber auch Menschen, die aufgrund von Burnout ein halbes Jahr gar nicht gearbeitet haben bzw. nicht arbeiten konnten und die sich jetzt wieder aktiv mit der Jobsuche beschäftigen möchten. Auch die Berufe sind ganz durchmischt: vom Tänzer, der sich nach 30 Jahren umorientieren möchte, bis zur Konzern-Chefin.
Da unser Online-Auftritt dynamischer daherkommt als man es vielleicht von einem Bildungsträger erwarten würde, kommen zu uns meist Menschen, die flexibel sind und offen für Veränderung. Und ich bin euphorisch diesen Menschen sagen zu können: Perfect Timing! Jetzt ist wirklich die perfekte Zeit für alle, die sich umorientieren und etwas Neues lernen wollen – das wird jetzt gerne gesehen.
Wir sind fünf Mitarbeitende im Kernteam und 50 Freelancer Coaches mit denen wir zusammenarbeiten.
In der Regel erstreckt sich ein Coaching bei uns über einen Zeitraum von acht Wochen mit wöchentlichen Sessions. Außerdem haben wir eigens eine Lernplattform entwickeln lassen mit Bewerbungstipps. Da werden Fragen geklärt wie z. B. „Wie aktiv sollte ich auf „LinkedIn“ sein, damit ich gut gefunden werde?“ oder „Wie baue ich ein Netzwerk auf?“. Dadurch, dass der Bewerbungsteil abgehakt ist, kann ich in den Sessions mehr in die Tiefe gehen – vom klassischen Jobcoaching abkommen, um unsere Werte, die nachhaltige Suche eines Jobs, der meinen Bedürfnissen entspricht, zu erfüllen. Ein „So haben wir das schon immer gemacht“, gibt es bei uns nicht.
Unsere existenziellen Bedürfnisse sind schon befriedigt, daher haben wir das „Privileg zum Sinn“.
Wir sind einfach eine sehr lange Zeit in Arbeit: rund 36 Jahre. Was die Ressourcen angeht, geht es uns deutlich besser als noch der Generation unserer Eltern oder Großeltern: Die einzig wirkliche knappe Ressource in unserer privilegierten Gesellschaft ist Zeit. Somit ist Zeit das kostbarste Gut, was uns bewusst ist. Wir wollen die Zeit, die wir haben, sinnvoll nutzen. Unsere existenziellen Bedürfnisse sind schon befriedigt, daher haben wir das „Privileg zum Sinn“.
Das ist das Schöne und die Chance der Situation, wie wir sie gerade erleben auf dem Arbeitsmarkt: Wir können das Ganze mal von der anderen Seite denken. Denn was hat uns das alte System eigentlich gebracht? Burnout, Quiet Quitting usw. – Menschen, die sich nicht wohlfühlen in ihren Berufen. Der berühmte rote Faden sollte schon mit der Einschulung beginnen und der großen Frage: „Was willst du werden?“. Und dann musstest du ab diesem Moment alles dafür tun, um dorthin zu kommen. Dieses Konzept hat auf einer Ebene funktioniert – auf einer anderen Ebene aber, einer emotionalen, hat es uns Menschen leer gelassen. Es gibt also ganz klar Veränderungsbedarf.
Aufmacherbild: Adobe Stock
Ein Kommentar
Was ihr sagt stimmt zu 100%.
Unternehmen müssen endlich umdenken und vor allem Eltern, die nicht mehr 40 Stunden/Woche arbeiten können, viel mehr Optionen geben, auch in Teilzeit in ihren alten bzw. einen gleichwertigen Job zu kommen.
Auch die Offenheit für Quereinsteiger MUSS da sein.
Aus meiner aktuellen Erfahrung, ist leider beides nicht gegeben und auch das Arbeitsamt ist absolut keine Hilfe. Ganz im Gegenteil. Mir persönlich werden riesige Steine in den Weg gelegt und Maßnahmen verordnet, die mehr als unangebracht sind, Hauptsache, sie bekommen mich aus der Arbeitslosenstatistik, erreichen ihre Ziele und greifen ggf. ihren Bonus ab. Hier läuft einfach ALLES falsch.
BTW…ich habe einen Bachelor, MBA, viele Jahre Berufserfahrung im E-Commerce, Einkauf und einen eigenen Onlineshop. Dennoch finde ich keine passende Teilzeitstelle (und ich spreche hier von 30/32 Stunden), denn ich bin ja Mama und das ist den Unternehmen zu kompliziert.
Also bitte, denkt endlich um! Hier läuft einiges nicht richtig!