Warum wir dringend neue Alternativen zur Vollzeitarbeit brauchen

4. Januar 2024

Dr. Nina Gillmann gehört nicht zu den Menschen, die eine 4-Tage-Woche für alle fordern. Die Volkswirtin und vierfache Mutter will, dass Frauen* aus der Teilzeitfalle raus und in die Führungspositionen rein kommen. Sie sagt aber auch ganz klar, dass wir eine Care-Krise haben und mitten im Fachkräftemangel stecken. Die Lösung? Jobsharing. Und dass dies in Zukunft DAS Modell für Frauen* und Männer* wird, daran arbeiten Nina und ihr Team mit ihrer Plattform “TWISE” – das steht übrigens für twice wise (doppelt schlau). “TWISE” bringt Frauen* und Unternehmen zusammen, damit weibliche Talente entdeckt werden und Karriere machen können. Die Vision? Vereinbarkeit für alle – und neue Alternativen zur Vollzeitarbeit.

Dieses Narrativ, dass nur jemand, der Vollzeit arbeitet, zur Wohlfahrt unserer Gesellschaft beiträgt, ist falsch.  

femtastics: Warum brauchen wir Alternativen zur Vollzeitarbeit?

Dr. Nina Gillmann: Die Verfügbarkeit von jungen Eltern liegt zwischen 25-35 Stunden in der Woche und das wären nicht mal 80% eines Topmanager-Jobs. Im Topmanagement sprechen wir oft von 60, 70, 80 Arbeitsstunden pro Woche. Darum geht es. Alle Menschen, für die Vereinbarkeit ein Thema ist, sollen trotzdem die Möglichkeit haben, einen solchen Job auszuüben. Da geht es nicht nur um Eltern. 

Es ist kein Geheimnis mehr, dass viele von uns in Zukunft mit der Pflege ihrer Eltern beschäftigt sein werden. Schon jetzt werden vier von fünf Pflegebedürftigen in Deutschland zu Hause versorgt, meist durch pflegende Angehörige – und das sind meistens Frauen*. Wenn man aber einen 60-Stunden-Job hat, hat man keine Zeit, sich um andere Menschen zu kümmern.

Ich vertrete die Ansicht, dass die Wirtschaft ein Mittel zum Zweck ist, damit wir als Gesellschaft gut leben können. Dabei leistet der Wirtschaftssektor aber den geringeren Beitrag zu unserer Wohlfahrt, also wie gut es uns als Gesellschaft geht. Wir messen aber nur das, was als Transaktionen belegt ist und wir gucken nicht auf das, was nicht messbar ist – zum Beispiel das Ehrenamt oder die Care-Arbeit. Dieses Narrativ, dass nur jemand, der Vollzeit arbeitet, zur Wohlfahrt unserer Gesellschaft beiträgt, ist falsch. Das stimmt einfach nicht.

Was ist deine Vision?

Uns geht es darum, dass Frauen* Macht übernehmen und sie auch wirklich wichtige Entscheidungen in der Wirtschaft beeinflussen können. Wir sind davon überzeugt, dass mit Frauen* an der Macht andere Entscheidungen getroffen werden. Entscheidungen, die enkelfähiger sind. Deshalb sagen wir, dass Frauen* aus der Teilzeitfalle raus müssen und dass sie trotzdem in Teilzeit Karriere machen können. Sonst wird das nichts mit 50/50. 

Aber wir wollen auch die Männer* aus dem Hamsterrad rausholen. Wir sind davon überzeugt, dass es toll wäre, wenn Topmanager „Udo“ nur drei oder vier Tage in seinem Job arbeiten würde und so einen Teil seiner produktiven Kraft in die anderen Sektoren stecken würde, die auch für Wohlfahrt verantwortlich sind. So würde er netto einen viel höheren Wert für die Gesellschaft generieren. Sei es im Umweltschutz, in der Pflege oder im Ehrenamt. Aber aktuell geht das nicht, wenn ein Topmanager so viele Stunden arbeitet. Im Jobsharing geht das allerdings schon.

Der Anteil von Frauen* in Führungspositionen ist immer noch viel zu gering. Warum sind wir in Deutschland so rückständig im Vergleich zu anderen EU-Ländern?

Das ist immer sehr speziell. In Skandinavien hat man einen ganz anderen Equality-Index und auch eine andere Mentalität. Da wird schräg geguckt, wenn man als CEO um 18 Uhr nicht geht. Da denken die Leute, der CEO hat seinen Job nicht im Griff. In Skandinavien ist es auch ganz selbstverständlich, sich in der Betreuung gut aufzuteilen. 

In den USA ist der Grund ein anderer. Dort kann man es sich gar nicht leisten, auf die Mütter zu verzichten. Da gibt es auch keinen Mutterschutz, keine bezahlte Elternzeit etc. Viele Frauen* dort sind mit der Situation aber total unglücklich, weil sie ihre Kinder kaum sehen. Wir haben fünf Jahre in den USA gelebt und man spürt den Druck dort sehr. Dafür gibt es in den USA eine Geschlechterdiversität, an die ich mich sehr gewöhnt habe. 

Das war auch der Grund, warum ich “TWISE” gegründet habe. Als mein Mann und ich 2017 nach Deutschland gekommen sind, hatten wir einen regelrechten Monokultur-Schock. Nirgendwo gab es Frauen*. Mein Mann hat das auch bei sich in der Bank erlebt. Das war auf seiner Ebene keine einzige Frau*, nur Sekretärinnen. Das war auch der Moment, als wir als Paar gesagt haben, dass ich zu dem Thema recherchiere und dann entweder in die Politik gehe oder mich mit einem Business selbstständig mache. 

Warum hast du dich im Bereich Jobsharing selbstständig gemacht?

Wir haben eine Kita-Krise. In Deutschland fehlen 380.000 Kitaplätze. Das funktioniert nicht. Das privat aufzufangen ist kaum möglich. Es ist total alternativlos. Wenn wir wollen, dass in diesem Land mehr Kinder geboren werden, wenn wir mehr Fachkräfte wollen und wenn wir wollen, dass Frauen* die gleichen Karrierechancen haben wie Männer, dann müssen wir Vereinbarkeit systemisch in unsere Arbeitswelt integrieren. Und das geht eben nur, wenn man Menschen in Teilzeit die Möglichkeit gibt, sich genauso zu entwickeln wie Menschen in Vollzeit. Und das ist nur mit Jobsharing möglich.

Jobsharing ist nicht wie Teilzeit, es ist wie Vollzeit.

Kritiker*innen bezeichnen Jobsharing als “Teilzeit in einem neuen Gewand”. Was entgegnest du?

Ganz wichtig: Jobsharing ist nicht wie Teilzeit, es ist wie Vollzeit. Das ist der Witz. Jobsharing hat nichts mit Teilzeit zu tun. Es muss die Alternative zum Vollzeitkarrieremodell werden und es muss auch der Karrierebooster für Menschen in Vollzeitarbeit sein. Ja, wir wollen Mütter und Frauen* an die Macht bringen, aber das muss man quasi mit einer stillen Revolution erreichen, indem man ein Arbeitsmodell etabliert, auf das sich alle Michaels und Udos auch stürzen, weil es so attraktiv ist. 

Es muss ganz klar werden, dass man sich im Jobsharing schnell entwickeln kann und dass es ein Karrierebooster ist. Sonst wird Jobsharing schnell eine neue Variante der Teilzeitfalle. Wenn es nur an Mütter und Frauen* adressiert wird. Wenn man das macht, scheitern die Tandems an der gläsernen Decke. 

Der stärkste Unconscious Bias, den es gibt, ist der gegenüber Müttern. Natürlich kommen dann noch intersektionale Merkmale, wie die Hautfarbe und Herkunft, dazu. Unterbewusst scheinen viele Menschen verinnerlicht zu haben, dass Frauen* sich nur noch für ihr Kind interessieren, in dem Moment, in dem sie Mutter werden. Dadurch entstehen dann diese Geschichten, von denen man immer hört. Dass eine Frau* drei Teams geführt hat und nach der Elternzeit dann keine Führungsverantwortung mehr bekommt und in Teilzeit an der Rezeption landet – überspitzt formuliert.

Was sind die Vorteile von Jobsharing – im Vergleich zur Vollzeitarbeit?

Im Jobsharing kannst du dich genauso weiterentwickeln wie in der Vollzeit. Auch im Jobsharing kannst du Verantwortung übernehmen und Karriere machen. Man kann nahezu jeden Job im Jobsharing machen. Synergien entstehen vor allem bei Aufgaben, die konzeptioneller, strategischer, planerischer und kreativer Natur sind. Man hat die doppelte Perspektive, den doppelten Erfahrungsschatz – da kommen viel bessere Sachen zustande und es passieren weniger Fehler.

Und das ganze Thema Vereinbarkeit ist natürlich ein riesiger Vorteil. Dass Karriere und Kinder sich mit Jobsharing wirklich vereinbaren lassen. Wir haben bei “TWISE” vier Archetypen für Jobsharing. Wir haben zum Beispiel das Vereinbarkeitstandem, aber auch einen Co-Skilling-Archetypen. Arbeitgeber*innen suchen ja oft die eierlegende Wollmilchsau, die sie auf dem Vollzeitarbeitsmarkt aber nicht finden. Die Lösung: man nimmt jemanden, der*die Eier legen kann und jemanden, der*die Wolle liefert und packt beide in einem Jobsharing zusammen – da hat man die komplementäre Qualifikation.

Zudem ist der Teilzeitarbeitsmarkt auch viel voller und man findet dort viele hochqualifizierte Mitarbeitende. Man kann zudem Nachfolge mit Jobsharing viel besser organisieren, indem man generationsübergreifende Tandems nutzt. So können junge Mitarbeitende viel schneller Verantwortung übernehmen und das Wissen der ausscheidenden Mitarbeiter*innen geht nicht verloren.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Mut, der durch gemeinsames Arbeiten entsteht.

Viele Frauen* sagen, dass sie so viel mutiger sind, weil sie nicht alleine sind. 

Inwiefern?

Viele Frauen* wollen leider keine Führungsverantwortung übernehmen, weil sie es sich nicht zutrauen. Zum einen weil sie oft schon am Anschlag sind mit ihrer Arbeitsbelastung und zum anderen trauen sie sich einfach nicht. Und sie wollen auch nicht alleine an so einer Position sein. In dem Moment, in dem sie mit einem Menschen zusammenarbeiten, dem sie vertrauen und mit dem sie gemeinsam diesen Weg gehen, ist das anders. So kann man mit Jobsharing seine eigene Mutlücke überwinden. Das sagen auch viele Tandems, die schon lange zusammen arbeiten, wenn man sie nach dem Game Changer fragt. Viele Frauen* sagen dann, dass sie so viel mutiger sind, weil sie nicht alleine sind. 

Und es gibt noch einen ganz anderen Aspekt. Ich beobachte oft auf Partys und bei Abendessen, dass Menschen von ihrem Job wie von einer milden Krankheit erzählen. Wenn man sich mit Tandems unterhält, berichten ganz viele davon, wieviel Spaß die Arbeit macht. Geteiltes Leid und doppelte Freude. Diesen Aspekt darf man nicht unterschätzen. Menschen arbeiten so unfassbar viel besser, wenn sie gerne arbeiten und sich darauf freuen. Sie sind produktiver und weniger krank. Arbeitgeber*innen profitieren also auch ganz klar von dem Modell.

Ein gängiges Vorurteil gegenüber Jobsharing ist ja, dass es vor allem ein Frauenthema ist, das hast du schon erwähnt. Wie kann man dagegen arbeiten? Und wie bekommt man die Männer* mit an Bord?

Die Klient*innen, die wir beraten, müssen sehr darauf achten, wie sie Jobsharing einführen. Es gibt ja viele tolle Vorzeigeunternehmen, wie “Daimler” und “Beiersdorf”, die Jobsharing schon seit vielen Jahren anbieten. Dort wurde Jobsharing mit den besten Intentionen eingeführt, aber dort wurde leider auch vieles versäumt. Wenn Jobsharing als Vereinbarkeitsthema eingeführt wird, verpasst man die Chance, das Modell in ein anderes Narrativ einzubetten, das auch für Männer* attraktiv ist. Das ist ein großes Problem.

Aus Befragungen wissen wir, dass ganz viele Menschen ihre Arbeitszeit gerne signifikant reduzieren würden, wenn sie die Sicherheit hätten, dass sie ihren Job weiter machen könnten ohne eine Gefährdung der Karriereperspektive. In einem Unternehmen hatten über 75% der Mitarbeitenden diesen Wunsch und haben ihr Interesse an Jobsharing bekundet.

Tatsächlich war das völlig unabhängig von Geschlecht und Alter. Bei dieser Umfrage gab es auch die Möglichkeit, noch einen Text als Begründung zu schreiben. Ein Mitarbeitender wollte gerne weniger arbeiten, weil sein Vater todkrank war und er hatte das vorher noch nie mitgeteilt. In was für einer Welt leben wir, in der ein Mensch so etwas nicht erzählt, weil er Angst vor einem Karriereknick hat? Das Bedürfnis nach weniger Arbeit in bestimmten Lebensphasen teilen wir alle, doch die Männer* trauen sich nicht, das zu kommunizieren. Und leider ist die Angst auch berechtigt. Wenn Männer* für die Familie zurücktreten, werden sie in der Arbeitswelt noch immer viel härter dafür bestraft. Wir befinden uns in unserer Arbeitswelt in einem Gefangenendilemma.

Wenn Jobsharing als Vereinbarkeitsthema eingeführt wird, verpasst man die Chance, das Modell in ein anderes Narrativ einzubetten, das auch für Männer* attraktiv ist.

Was meinst du damit?

Die Unternehmen sind so weit, dass sie es ermöglichen wollen. Viele Mitarbeitenden trauen sich aber nicht, das zu artikulieren. Dann wird ein solches Modell mit einem falschen Narrativ und einer falschen Positionierung eingeführt und dann wundern sich Unternehmen, dass keiner sich dafür meldet. Vor allem keine Männer*.

Deswegen ist es so wichtig, sich gut zu überlegen, wie man ein solches Modell einführt. Wie positioniere ich Jobsharing? Was sind die ersten Use Cases? Natürlich kann da auch ein Tandem mit zwei Müttern dabei sein, aber es sollte es auch eines geben, wo Michael und Udo ein Tandem bilden, um den nächsten Karriereschritt zu machen. Das hat eine große Sogwirkung. So muss sich Jobsharing etablieren und da sind wir noch ganz am Anfang. Aber genau das machen wir “TWISE”. Wir wollen Jobsharing als Breitenmodell für alle Menschen einführen und etablieren. Wir müssen eigentlich dahin kommen, dass niemand mehr fragt, ob man Voll- oder Teilzeit arbeitet. Es muss ein totales Non-Issue werden.

Welche konkreten Empfehlungen hast du für junge Berufseinsteiger*innen?

Viele junge Menschen suchen sich ja inzwischen schon familienfreundliche Arbeitgeber*innen. Aber ich denke, es ist wichtig, Familiengründung strategisch zu planen, wenn es möglich ist. Viele Frauen* unterschätzen das. Viele sagen, dass es nicht den perfekten Zeitpunkt für die Familiengründung gibt und beschäftigen sich dann auch gar nicht damit. Das ist ein Kardinalfehler. Damit meine ich, dass man sich Arbeitgeber*innen sucht, die solche Modelle wie Jobsharing anbieten und bei denen es die Möglichkeit gibt, schnell aufzusteigen. 

Ein strategisch guter Zeitpunkt für die Familiengründung ist, wenn man schon den Schritt in die Führungsverantwortung gemacht hat. Das ist der schwerste Schritt und auch der, bei dem man als Frau* am meisten diskriminiert wird. Als Mutter ist es noch schwerer. Das würde ich jungen Frauen* gerne mit auf den Weg geben, dass sie in den ersten fünf Jahren Turbogas geben und eine Führungsposition übernehmen können.

Und was wünschst du dir von Unternehmen?

Ich wünsche mir, dass sie chancenorientiert über das Talentmanagement nachdenken. Zugespitzt würde ich sagen: Unternehmen müssen lernen, Menschen nicht in Stellen zu pressen, sondern Stellen an Menschen anzupassen. Es dient nur ihrem eigenen Überleben. Das ist die Kernkompetenz, wie Unternehmen überhaupt noch bestehen können in Zukunft. Wer das nicht lernt – Good Luck! Der Arbeitsmarkt ist so umkämpft und ich würde mir wünschen, dass Unternehmen Jobsharing als strategisches Personalentwicklungstool sehen, mit all der Vielfalt. Ich verstehe nicht, dass dieses Potenzial und diese Chancen nicht gesehen werden. Da wünsche ich mir von den Unternehmen viel mehr Experimentierfreude.


Hier findet ihr Dr. Nina Gillmann:

Teaserbild: Adobe Stock

Interview: Alicia Metz

2 Kommentare

  • Iris Günthner sagt:

    Das spricht mir aus dem Herzen. Meine 15 Jahre Leitungstätigkeit bei einer mittelgroßen Kommune waren teilweise traumatisch für mich. Die einsamen Entscheidungen oft eine sehr große Herausforderung. Gut, dass ich die Reisleine gezogen habe. Nun kann ich meine Tochter bei Jobsharingmodellen voll unterstützen.

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