Brot, Begegnung, Bürokratie: Silvia Siebor über das Gründen in der Gastronomie
15. Dezember 2025
geschrieben von Anissa Brinkhoff

Nach der Pandemie träumen wieder viele davon: Ein eigenes Café zu eröffnen. Die Hamburgerin Silvia Siebor, 32, hat es gewagt, sie ist Inhaberin der „Erste Liebe Bar“ in Hamburg – einem Café mitten in der Innenstadt, das ein zweites Zuhause für Anwohner*innen und viele Angestellten aus den Büros nebenan ist.
Bevor Silvia Unternehmerin in der Gastronomie wurde, studierte sie Brand Management, arbeitete im Marketing der Immobilien- und später der Intralogistikbranche, machte einen MBA in Performance Management und absolvierte zusätzlich eine Ausbildung zur Organisationsentwicklerin. Bis auf einmal das Angebot kam, das Café zu übernehmen, in dem sie als Studentin schon nebenbei gearbeitet hatte. Heute führt Silvia ein Team junger Frauen*, denkt Gastronomie neu und baut die Marke „Erste Liebe Bar“ zu einem Ort für Handwerk, Kultur und moderne Arbeitskonzepte aus.
"Ich hatte das Gefühl: Das ist eine einmalige Chance. Wenn nicht jetzt, wann dann?"
femtastics: Du hast die „Erste Liebe Bar“ übernommen, etwas, wovon viele träumen. Wie kam es dazu?
Silvia Siebor: Ich bin wirklich nicht mit dem klassischen Traum “Eines Tages habe ich ein eigenes Café” durchs Leben gelaufen. Ich kam aus einer komplett anderen Ecke – Brand Management, Organisationsentwicklung und Unternehmensberatung war eher das, wohin ich wollte. Aber als der damalige Besitzer nach 17 Jahren sagte, dass er verkaufen möchte, hat es plötzlich Klick gemacht. Ich kannte den Laden seit meinem Studium, ich habe hier jahrelang gearbeitet. Und ich hatte das Gefühl: Das ist eine einmalige Chance. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Es war wirklich ein Sprung ins kalte Wasser, weil ich wusste zwar, wie man Schichten arbeitet, aber nicht, wie man ein Café führt.
Mal ganz ehrlich: Was kostet es eigentlich, ein Café zu kaufen?
Man kauft ja nicht nur Möbel und Maschinen, man übernimmt eine Marke, Stammkundschaft, ein laufendes Geschäft, bestehende Verträge. Das alles hat einen Wert. Zu Beginn, 2022, habe ich die „Erste Liebe Bar“ noch mit einer Geschäftspartnerin geführt und wir haben mit Steuerberaterinnen und der Bank gearbeitet, um eine Unternehmensbewertung zu erstellen. Am Ende wollten die Verkäufer mehr, als die Bank finanzieren wollte. Dadurch stand der Traum kurz vor dem Platzen. Wir haben dann schließlich einen privaten Kredit aufgenommen. Es war der unkomplizierteste und am Ende realistischste Weg.

Silvia Siebor hat die Backstube der "Erste Liebe Bar" komplett neu aufgebaut, inzwischen werden fast alles Backwaren selbst hergestellt.
"Dass wir mittlerweile vieles selbst backen und hat uns wirtschaftlich wie inhaltlich extrem geholfen – es gibt uns ein deutlich klareres Profil."












Credit: Inge van Beekum
Credit: Inge van Beekum
Credit: Inge van Beekum
Credit: Inge van Beekum
Und wie wirtschaftet man so eine Summe wieder rein?
Es dauert. Gastronomie ist sehr kapitalintensiv. Man hat hohe Fixkosten, Maschinen, Personal, steigende Einkaufspreise. Und gleichzeitig trägt man die Verantwortung, den bestehenden Markenwert zu halten und weiterzuentwickeln – die Stammkundschaft mitzunehmen, aber auch neue Einnahmequellen zu erschließen. Dass wir mittlerweile vieles selbst backen und hat uns wirtschaftlich wie inhaltlich extrem geholfen – es gibt uns ein deutlich klareres Profil.
Wie sieht deine Arbeitswoche aus? Wieviel machst du selbst im Café, wie viel Zeit nehmen Backoffice und Buchhaltung ein?
Einen typischen Tag gibt es nicht. Ich arbeite definitiv sieben Tage die Woche – nicht immer durchgehend, aber ich bin ständig “on”. Es gibt Tage, da wollte ich eigentlich ins Backoffice, und dann geht die Kaffeemaschine nicht. Oder das Gesundheitsamt steht vor der Tür. Oder zwei Leute fallen krank aus. Und so arbeite ich nach wie vor Schichten mit, aber das wird weniger.
Gleichzeitig mache ich Einkauf, Bestellungen, Personal, Buchhaltung, Planung, Produktentwicklung, Events und Konzeptarbeit fürs Atelier. Ich habe aktuell zu viele Hüte auf – und gleichzeitig baue ich mein Team so aus, dass genau das besser wird.
"Es gibt niemanden mehr über einem, der*die Feedback gibt. Dieses ständige Reflektieren – bin ich auf dem richtigen Weg? – ist eine echte Herausforderung."
Was sind deine größten Herausforderungen?
Die Geschwindigkeit, mit der man reagieren muss. Jeden Tag passiert etwas anderes. Und: Man muss sich selbst Führung geben. Es gibt niemanden mehr über einem, der*die Feedback gibt. Dieses ständige Reflektieren – bin ich auf dem richtigen Weg? – ist eine echte Herausforderung. Auch das Loslassen ist schwer. Dinge ans Team zu übergeben, Strukturen zu etablieren, Fehler zuzulassen - das ist ein Prozess. Ich mache deshalb selbst ein Coaching, um mich besser strukturieren zu können.
Du hast die „Erste Liebe Bar“ seitdem stetig weiterentwickelt. Was gibt es heute alles unter dieser Marke?
Neben dem Café gibt es seit letztem Jahr die „Erste Liebe GmbH“. Wir haben unsere Backstube komplett neu aufgebaut, arbeiten viel mit Sauerteig und stellen inzwischen fast alles selbst her.
Dazu kommt das „Erste Liebe Atelier“, eine Fläche für Workshops, Showküche, Events, Kooperationen mit Designstudios und Pop-ups. Dort entsteht unsere Sauerteigakademie und ein Ort, an dem Kultur, Handwerk und Begegnung zusammenkommen sollen. Mein Ziel ist, dass Menschen aus aller Welt künftig Workshops geben – von Brot über Finanzen bis Fermentation.

"Ich möchte mehr Raum schaffen für junge Gründer*innen, weil Mieten in der Innenstadt inzwischen unbezahlbar geworden sind."












Was planst du noch?
Wir bauen das Atelier vollständig um. Es soll ein Ort werden, den man betritt und sofort fühlt: Hier trifft Handwerk auf Gestaltung, Gastronomie auf Kultur. Und: Ich möchte mehr Raum schaffen für junge Gründer*innen – Pop-up-Konzepte, die sich Flächen zeitweise teilen können, weil Mieten in der Innenstadt inzwischen unbezahlbar geworden sind. Ich sehe das auch als gesellschaftlichen Auftrag.
Was ist deine Vision? Was soll die „Erste Liebe Bar“ langfristig sein?
Ein Ort der Begegnung. Ein Raum, in dem man versteht, dass Gastronomie Handwerk ist. Und ein Konzept, das Menschen befähigt: durch Workshops, durch Sichtbarkeit, durch Zusammenarbeit. Ich möchte zeigen, dass Gastronomie nicht nur Cappuccino und Kuchen ist – sondern ein kulturelles Produkt. Und ich möchte, dass wir die Branche gemeinsam weiterentwickeln.
Welche Veränderungen in der Bürokratie wünschst du dir, damit Gründen einfacher wird?
Gebündelte Informationen! Es ist absurd, wie sehr man zwischen Ämtern hin- und hergeschickt wird. Bauamt, Gesundheitsamt, Gewerbe, Finanzamt – sie sitzen teilweise Tür an Tür, reden aber nicht miteinander. Viele Gründer*innen scheitern nicht an ihren Ideen, sondern an Formularen. Ich wünsche mir eine zentrale Plattform, klare Prozesse und mehr Transparenz über Fördermöglichkeiten.
"Mein Führungsstil ist anders. Empathischer, erklärender, teamorientierter."
Du beschäftigst fast ausschließlich junge Frauen*. Was für eine Arbeitgeberin möchtest du für sie sein?
Ich möchte, dass sie verstehen, warum Dinge passieren – nicht nur was sie tun sollen. Ich erkläre viel: Warum das Gehalt wann kommt, wie Buchhaltung funktioniert, was steuerlich möglich ist und was nicht. Viele sind in ihrem ersten Job. Und ich sehe meine Verantwortung darin, sie in ihr Arbeitsleben zu begleiten – nicht nur in den Schichten.
Du bildest deine Mitarbeiterinnen sogar aktiv in Sachen Finanzen weiter. Wieso?
Weil ich es mir früher gewünscht hätte. Ich wusste nie, warum Abläufe so waren, wie sie waren. Und ich finde: Wenn man versteht, wie Unternehmensführung funktioniert, Cashflow, Steuern, Kosten, arbeitet man ganz anders und hat mehr Wertschätzung für den Job. Ich renne ihnen manchmal hinterher und sage: Bitte macht eure Steuererklärung!
Hat es einen Einfluss, dass du als Frau* in der Gastronomie aktiv bist?
Ja, definitiv. Es gibt tatsächlich viele Frauen* in der Gastronomie, aber wenig Sichtbarkeit für sie. Die großen Player sind fast immer Männer*. Ich wurde am Anfang ständig von Männern* “beraten”, ohne danach gefragt zu haben.
Inzwischen merke ich: Mein Führungsstil ist anders. Empathischer, erklärender, teamorientierter. Und das spiegeln mir meine Mitarbeiterinnen auch. Ich wünsche mir mehr Diversität in der Branche – und ich glaube, sie kommt. Vernetzung unter Frauen* wird stärker, und es entsteht ein neues Miteinander in der Gastronomie.
Hier findet ihr die "Erste Liebe Bar":
Fotos: "Erste Liebe Bar", Inge van Beekum