Dr. Ilse Wehrmann über die Kita-Krise: „Wir stehen vor einem Bildungskollaps.“

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11. Oktober 2023

Sie ist Erzieherin und Diplom-Sozialpädagogin und besuchte auf einer Weltreise Kitas von Italien bis Neuseeland. Jetzt berät sie Unternehmen beim Aufbau betrieblicher Kindertagesstätten. Dr. Ilse Wehrmann ist echte Kita-Expertin – und mit über 70 Jahren kämpft sie weiter dafür, dass die Kleinsten des Landes die bestmögliche Förderung bekommen. Gerade hat sie ihr neues Buch „Der Kita-Kollaps – Warum Deutschland endlich auf frühe Bildung setzen muss!“ veröffentlicht. Im Interview verrät sie, wo sie die größten Probleme sieht, warum in Deutschland so vieles falsch läuft und was Eltern selbst tun können, damit sich die Lage bessert.

Wir lassen Kinder, Eltern und Pädagog*innen allein, wir erfüllen nicht die Rechtsansprüche, die Eltern und Kinder haben.

femtastics: Frau Wehrmann, Ihr Buch trägt den Titel „Der Kita-Kollaps“. Diesen Begriff hört man gerade oft, wenn man sich mit dem Thema Kinderbetreuung beschäftigt. Was bedeutet er für Sie persönlich?

Ilse Wehrmann: Er bedeutet, dass wir zurzeit orientierungslos sind, wenn es um den Bildungsbereich für kleine Kinder geht. Wir lassen Kinder, Eltern und Pädagog*innen allein, wir erfüllen nicht die Rechtsansprüche, die Eltern und Kinder haben. Und die Politik schaut weg – eigentlich begehen wir jeden Tag Rechtsbuch.

Was genau meinen Sie damit?

Familien haben in Deutschland seit 1996 einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz ab drei Jahren und seit 2013 einen Anspruch auf Betreuung für Kinder unter drei Jahren. Aktuell fehlen etwa 400.000 Plätze in Deutschland. Dadurch wird Kindern die Chance genommen, in den Kindergarten zu gehen, dort wichtige Gruppenerfahrungen zu machen und ganz viele Entwicklungschancen zu erhalten. Ich finde, das Land macht sich schuldig an Eltern und Kindern, deshalb müssen wir zu einer großen Bildungsrevolution kommen.

Ich selbst begleite viele Bauten von Kindergärten und Kitas in Bremen und ganz Deutschland. Es ist oft die Bürokratie ist, die uns hindert. Baugenehmigungen dauern so lange, bei jedem einzelnen Punkt müssen so viele Stellen zustimmen, das kostet Monate und Jahre. Die Kinder und Eltern leiden darunter.

Als Gegenargument könnte man erwidern, dass all die Zustimmungen und Überprüfungen wichtig sind. Schließlich geht es um Gebäude, in denen Kinder spielen. Was sagen Sie dazu?

Ich bin im Jahr 2003 mit einer Stiftung um die Welt geschickt worden, um Kindergärten anzusehen – wir sind bis Neuseeland gereist. Jeder Kindergarten, den ich gesehen habe, wäre in Deutschland vermutlich aufgrund von Sicherheitsbedenken noch am gleichen Tag geschlossen worden. Aber Sie hätten die Stimmung dort erleben sollen: Es wurde so viel gelesen und Musik gemacht, die Leute gingen toll mit den Kindern um.

In italienischen Kindergärten habe ich erlebt, mit wie viel Stil alle zusammen den Tisch decken, inklusive Kerzen und weißer Tischdecke. Bis auf Rotwein hätte mir dort nichts zu einem guten italienischen Essen gefehlt. Es war toll, all das zu erleben. Und wir in Deutschland halten uns so sehr an Vorgaben fest, dass wir lieber gar nichts bauen, wenn nicht jede Kleinigkeit stimmt. Das ist ein Drama – für die Kinder von heute und für die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland.

Liegt es denn nur an den Räumlichkeiten, dass die Lage so dramatisch ist? Als Mutter von zwei kleinen Kindern weiß ich, dass es auch Personalmangel ein großes Thema ist.

Es sind verschiedene Punkte: Erst einmal müssen wir gucken, wo wir neue Räume herbekommen, um schnell neue Einrichtungen eröffnen zu können. Wir könnten leere Büros und Läden mieten und dort mit kleinen Gruppen starten. Mit Blick aufs Personal könnte es helfen, auch ausländische Qualifikationen unkompliziert anzuerkennen, um schnell handeln zu können.

Aber insgesamt brauchen wir natürlich eine andere Wertschätzung für den Erzieher*innenberuf, damit ihn mehr Menschen überhaupt ergreifen. Der Beruf muss attraktiver gemacht werden. Und wenn das geschafft ist, können wir Lernumgebungen für Kinder erschaffen, in denen sich alle wohlfühlen. Es muss für Kinder und Fachkräfte Anreize geben, dass sie gerne in den Kindergarten gehen. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe für uns alle.

Insgesamt brauchen wir eine andere Wertschätzung für den Erzieher*innenberuf, damit ihn mehr Menschen überhaupt ergreifen.

Wen sehen Sie in der Pflicht, damit sich die Lage bessert? Die Politik, uns Eltern, die gesamte Gesellschaft?

Wir müssen in jedem Fall raus aus den individuellen Sichtweisen und das als Gemeinschaftsaufgabe begreifen. Natürlich muss die Politik aufwachen und etwas unternehmen. Wir sollten zum Beispiel das Freiwillige Soziale Jahr wieder einführen, um mehr Unterstützung für Kindergärten zu erhalten. Es sollte auch möglich sein, dass Seniorinnen aushelfen.

Ich finde, Kindergärten brauchen insgesamt mehr Autonomie, um beispielsweise Senior*innen für bestimmte Projekte engagieren zu können, oder um andere Dinge eigenmächtig zu entscheiden. Sie müssen so viele Vorschriften einhalten, auch was Quadratmeter-Regelungen angeht oder solche Dinge. Mir fehlt manchmal einfach der gesunde Menschenverstand, den man einschalten darf, um zu entscheiden, ob wir den Kindern gerade etwas Gutes tun oder ob ihr Wohl gefährdet ist, wenn ein einziger Quadratmeter fehlt, um eine Idee umzusetzen.

Das sind viele Themen, an denen man ansetzen könnte. Wo sehen Sie den Grund für die aktuelle Lage?

Ich glaube, wir nehmen Kinder nicht ernst genug. Wir verwalten sie, aber wir nehmen sie in ihren individuellen Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten nicht mehr ernst. Das finde ich ganz fahrlässig. Die Politik denkt in Ressorts, in Legislaturperioden und Wähler*innenstimmen – und Kinder sind eben keine Wähler*innen. Dabei haben wir doch keinen wichtigeren Rohstoff als die Entwicklung unserer Kinder. Wir hinterlassen ihnen einen Schuldenberg und ein kaputtes Klima und dann sind wir nicht in der Lage, ihnen einen Kindergartenplatz zu geben, auf den sie einen Anspruch haben? Das geht doch nicht.

Wir nehmen Kinder nicht ernst genug.

Kinder wählen zwar noch nicht, aber ihre Eltern schon. Was könnten sie tun, damit sich die Lage bessert?

Eltern und Pädagog*innen müssen unbequem werden und auf die Straße gehen. Ich möchte, dass sie laut werden und dass ein Flächenbrand entsteht, der die Politik zwingt, sich zu bewegen. Wenn der Rechtsanspruch von Eltern auf einen Betreuungsplatz nicht erfüllt wird, dann müssen sie in meinen Augen den Klageweg gehen. Die Politik wacht doch nur auf, wenn sie zur Kasse gebeten wird und wenn 400.000 Eltern, die keinen Platz bekommen, wirklich die Kommunen verklagen. Dann wird es teuer und dann könnte sich etwas ändern.

Eine andere Möglichkeit ist es, dass Eltern die Kita in bestimmten Aufgaben unterstützen oder selbst Elterninitiativen eröffnen. Wie stehen Sie dazu?

Wenn ich keinen Platz für mein Kind bekommen würde, würde ich in jedem Fall zur Selbsthilfe greifen und zuerst gucken: Wo können wir freie Räume bekommen und wie finden wir Personal? Wenn es um die Räume geht, würde ich ja fast zu Hausbesetzungen raten – wie gesagt: Eltern müssen unbequem werden. Sie können es zum Teil also selbst in die Hand nehmen. Trotzdem darf der Staat nicht aus der Verpflichtung genommen werden.

Das sind viele Missstände, die Sie ansprechen – wenden wir den Blick einmal auf das Positive. Wie sollte eine Kita Ihrer Meinung nach aussehen, um Kinder bestmöglich zu fördern?

Wir brauchen kleinere Gruppen: acht bis zehn Kinder für die Kleinen bis drei Jahre, ab drei Jahren können es 15 bis 18 Kinder sein. Dazu braucht es natürlich einen guten Fachkräfte-Kind-Schlüssel, damit wir die Kinder individuell betreuen können, vor allem die Kleinsten von ihnen. Ich würde mir wünschen, dass die Kitas zweisprachig erziehen, dass sie behinderte Kinder aufnehmen und Kinder aus verschiedenen Stadtteilen. Und dass dort selbst gekocht wird. Wenn ich an der Entwicklung von Kitas in Unternehmen mitarbeite, sind das immer Punkte, die ich anrege.

Apropos Unternehmens-Kitas: Sind diese in Ihren Augen eine sinnvolle Ergänzung oder eine Alternative für Eltern, die keinen städtischen Platz bekommen?

Es geht gar nicht ohne solche Einrichtungen, deshalb ist es toll, dass es sie gibt. Und was mich dort beeindruckt: Der Aufbau einer Kita ist in Unternehmen immer Chefsache, alle Entscheidungen werden dort auf Vorstandsebene getroffen. Natürlich machen sie das nicht selbstlos, sondern sie wollen eine gute Kinderbetreuung anbieten, um Fachkräfte zu gewinnen. Dennoch finde ich es super, wie ernst das Thema dort genommen wird. Und deshalb frage ich mich, warum es nicht in Deutschland Chefsache ist.

In Deutschland hängt die Entwicklung kleiner Kinder von der finanziellen Stärke einer Kommune und einer familienfreundlichen Einstellung von Bürgermeister oder Bürgermeisterin ab.

Die Entscheidung für eine Betriebs-Kita steht nicht allen Eltern offen und auch sonst hängt die Qualität der Betreuung ja oft entscheidend davon ab, wo man lebt. Sie sprechen in Ihrem Buch auch Brennpunkt-Kitas an, wie groß sind in Ihren Augen die Unterschiede zwischen verschiedenen Einrichtungen?

Ich sage oft: In Deutschland hängt die Entwicklung kleiner Kinder von der finanziellen Stärke einer Kommune und einer familienfreundlichen Einstellung von Bürgermeister oder Bürgermeisterin ab. Da gibt es riesige Unterschiede. Und gerade in Gegenden, in denen viele Kinder mit Migrationshintergrund leben, die teilweise schlimme Erfahrungen hinter sich haben, ist es eine besonders personalintensive Aufgabe, sich um alle Kinder gut zu kümmern. Hier müssen wir genau hinsehen und dafür sorgen, dass alle Kinder gut versorgt werden – auch wenn das oft leider nicht der Fall ist. Es ist also mehr Personal nötig.

Würden Sie dafür plädieren, den Erzieher*innen-Beruf weiter zu öffnen, also mehr Menschen mit unterschiedlichen Qualifikationen einzustellen?

Wir dürfen bei der Qualifikation auf keinen Fall nur nach unten gucken, wir brauchen eine hohe Fachkompetenz bei den Personen, die unsere Kinder betreuen. Dabei gilt gerade oft: Je kleiner die Kinder sind, desto mehr fällt irgendwem ein, dass man sie von nicht-ausgebildeten Menschen betreuen lassen kann. In der Medizin käme niemand auf die Idee, so wichtige Aufgaben von nicht-qualifizierten Personen durchführen zu lassen. Und im Ausland übrigens auch nicht, aber hier wird das oft für eine gute Idee gehalten. Wir brauchen unbedingt gut qualifizierte Fachkräfte auf internationalem Niveau. Um die zu bekommen, muss der Beruf mehr Anerkennung erhalten und attraktiver gestaltet werden.

Wagen wir einmal, zu träumen. Wie sähe Ihre Traum-Kita aus?

Ich würde auf kleine Gruppen setzen – so, wie ich es eben bereits beschrieben habe. Ich würde mir auf jeden Fall eine*n deutsche*n Erzieher*in pro Gruppe wünschen, aber auch andere Sprachen sollten gesprochen werden. Außerdem gibt es einen Mix aus unterschiedlichen Berufsgruppen, die zusätzlich hinzukommen. Logopäd*innen, Kinderpsycholog*innen, Pädagog*innen, die auf die Arbeit mit behinderten Kindern spezialisiert sind, und so weiter. Wenn solche Fachkräfte stundenweise in der Gruppe sind, kann es einen wertvollen Kompetenztransfer geben.

Und für die Kinder sollte die Kita jeden Tag aufs Neue attraktiv sein. Das fängt bei der Raumgestaltung an: Es soll ein schöner Ort sein – an dem man sich auch mal gut verstecken kann und an dem man experimentieren kann. Als Kind sollte ich die Sicherheit haben, dass mir zugehört wird, und dass auch erkannt wird, wo ich vielleicht Defizite habe. Ich möchte, dass man den Kindern Denkanstöße gibt und ihnen vorschlägt, verschiedene Dinge auszuprobieren. So kreativ Kinder selbst sind, sie brauchen auch Impulse von Profis.

Eltern sollten in dieser Kita jeden Tag ein gutes Gefühl haben, wenn sie ihre Kinder bringen. Schließlich vertrauen sie diesen Einrichtungen das Kostbarste an, was sie haben. Und sie brauchen Verlässlichkeit. Sie brauchen Pädagog*innen, die ihnen zuhören und die empathisch sind. Die in der Lage sind, mit den Eltern zusammenzuarbeiten – denn die bleiben schließlich die wichtigsten Personen im Leben der Kinder. Und für all das brauchen wir eine gute Ausbildung der Fachkräfte und wir brauchen Qualitätskontrollen im laufenden Betrieb.

Das klingt toll. Und hier wären Sie doch für mehr Kontrollen statt für mehr Freiräume?

Ich finde es fatal, dass wir beim Bau einer Einrichtung so viel Wert auf Sicherheit legen – aber wenn die Arbeit mit den Kindern beginnt, dann guckt niemand mehr hin. Wir haben in den meisten Ländern keine Qualitätskontrolle der Kitas, wir müssten hier verlässliche Begleitsysteme etablieren. Stellen Sie sich vor, in der Automobilindustrie gäbe es keinen unabhängigen TÜV, das wäre doch eine Lachnummer! Dabei können wir vieles, was wir in diesen Jahren verpassen, nicht mehr aufholen – oder wenn, dann wird es sehr teuer.

Ich bin überzeugt, wir stehen jetzt vor einem Bildungskollaps und darauf wird ein Wirtschaftskollaps folgen.

Es geht Ihnen bei all dem nicht nur um ein gutes Gefühl für die Kinder und Eltern, sondern ganz klar auch um die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschlands. Wie stark hängt das in Ihren Augen zusammen?

Wir müssen international wettbewerbsfähig sein und das fängt schon bei der Bildung der ganz Kleinen an. Wenn sie später erwachsen sind, werden sie ihren Arbeitsplatz weltweit finden müssen – wachsen Kinder in anderen Ländern bereits mehrsprachig auf, sind sie natürlich eindeutig im Vorteil. Wir verpassen so viele Chancen, wenn wir Kinder in der Kita einfach nur verwalten statt sie zu fördern.

Ich bin überzeugt, wir stehen jetzt vor einem Bildungskollaps und darauf wird ein Wirtschaftskollaps folgen. Wir müssen im Interesse unserer Kinder und unseres Landes für gute Rahmenbedingungen kämpfen. Wir dürfen uns nicht mit dieser Lage abfinden, sondern wir müssen von unten eine Revolution erstreiten – das ganze Buch ist deshalb ein Weckruf, damit endlich etwas passiert.

Dann danken wir Ihnen für diesen Weckruf und für das spannende Gespräch. Alles Gute für Ihre weitere Arbeit!

Hier findet ihr Ilse Wehrmann:


Illustration: Adobe Stock

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