Von Konflikten bis ganz viel Liebe: Warum sind Mutter-Tochter-Beziehungen so komplex?

Wenn Töchter ihren Müttern schreiben: Über alte Wunden und neue Perspektiven zu Mutter-Tochter-Beziehungen

Gibt es etwas, was du deiner Mutter immer schon mal sagen wolltest, aber nie konntest? Schreib‘ ihr doch einen Brief! Das dachte sich auch Wiebke Dierks, Journalistin und TV-Redakteurin, die in ihrem Buch „nachkommen – Wenn Töchter ihren Müttern schreiben“ Briefe von 21 Autor*innen an ihre Mütter veröffentlicht hat, viele davon sind bekannt als prominente Aktivistinnen.

Eine der schreibenden Töchter ist Tina K., Gründerin des Vereins „I am Jonny e.V.“, die sich seit dem Tod ihrer Bruders Jonny vor 12 Jahren gegen Jugendgewalt einsetzt. Ihr Brief erzählt von Liebe und Schmerz, von Nähe und Abgrenzung und er zeugt davon, dass es manchmal gerade die konfliktreichen Mutter-Tochter-Beziehungen sind, die uns zu starken und liebevollen Frauen* machen. Wir sprachen mit Wiebke Dierks und Tina K., beide mittlerweile selbst Mütter, über die wahrscheinlich komplexeste aller Verbindungen.

Indem Töchter sich mit der Mutter auseinandersetzen, stärken sie ihre eigene Identität.

femtastics: Die Beziehung zu unserer Mutter ist die vielleicht komplexeste aller Beziehungen. Wieso ist es wichtig sich damit auseinanderzusetzen?

Wiebke Dierks: Der Familie kann man nicht entkommen, wir tragen sie permanent in unserem Inneren bei uns. Wenn man also eine problematische Beziehung zu seiner Mutter hat, dann schleppt man das noch im Erwachsenenleben mit sich rum. Das Päckchen wird eher schwerer als leichter. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung damit hilft uns zu verstehen, dass wir zwar nicht beeinflussen können, wie wir geprägt wurden und wie unsere Kindheit verlaufen ist – sehr wohl aber, wie wir damit umgehen möchten.

Wie möchte ich mit meinen Erwartungen und Enttäuschungen umgehen? Kann ich meiner Mutter endlich auf Augenhöhe begegnen und mit ihr in den Dialog treten, statt in dieser kindlichen Erwartungsrolle steckenzubleiben? Indem Töchter sich mit der Mutter auseinandersetzen, stärken sie ihre eigene Identität. Sie schaffen nicht nur Klarheit über die eigenen Prägungen und Verhaltensweisen, sondern finden vielleicht Zugang zu ihrer Position in aktuellen Beziehungen. Die Kernaussage dahinter, und das wird im Buch auch von Psychologin Claudia Haarmann eingeordnet, lautet: „Wir Töchter sind aufgefordert unser Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen.“

Wie ist die Idee zu diesem besonderen Buch entstanden?

Wiebke Dierks: Ich habe eine komplizierte Beziehung zu meiner Mutter und wollte verstehen, warum das so ist. Ich hatte das Bedürfnis ihr näher zu kommen – fand im Alltag aber weder den richtigen Moment und noch die passende Sprache. Warum ihr also nicht einen ehrlichen Brief schreiben? Doch anstatt beherzt loszulegen, lag jahrelang ein Umschlag fertig adressiert auf meinem Schreibtisch – ins Schreiben bin ich nie gekommen.

Ich habe mich gefragt: Wenn es mir so ergeht – und ich würde behaupten, ich hatte im Großen und Ganzen eine glückliche Kindheit – wie geht es dann anderen Töchtern? Wie viele umschiffen ihr Leben lang schwierige Themen? Warum habe ich immer einen großen Koffer voller Erwartungen bei mir, wenn ich meiner Mutter gegenübertrete? Wieso schaffe ich nicht die Atmosphäre für ein offenes Gespräch, um vielleicht Neues von ihr zu erfahren? Warum ist das eigentlich so verdammt kompliziert zwischen Mutter und Tochter?

Anstatt den Brief also selbst zu schreiben, habe ich andere Töchter gefragt, in der Hoffnung, dass ihnen das gelingt, wovor ich mich so lange drückte. Mittlerweile habe auch ich meinen Brief geschrieben und abgeschickt – und sogar einen zurückbekommen.

Gerade bei problematischen Beziehungen hilft es zu verstehen: Ich bin damit nicht allein.

Im Buch finden sich Briefe aus engen, liebevoll-vertrauten Mutter-Tochter-Beziehungen im Wechsel mit konfliktbehafteten Lebensgeschichten. Was kann die Leser*in daraus mitnehmen?

Wiebke Dierks: Ich hoffe, dass sich Leser*innen in der ein oder anderen Passage des Buches wiedererkennen. Gerade bei problematischen Beziehungen hilft es zu verstehen: Ich bin damit nicht allein. Oft spart man die weniger schönen Dinge aus oder man verteidigt seine Familie, seine Mutter gegen alle Widerstände – egal wie kritisch man ihr selbst gegenübersteht.

Meine Grundannahme ist, dass es immer von Vorteil ist, sich mit der Beziehung offen und ehrlich auseinanderzusetzen. Man wächst daran und versteht vielleicht, dass die Mutter zwar das Beste geben wollte, aber es für die Tochter in dem Moment nicht reichte. Manchmal sind auch zwischenzeitliche Kontraktbrüche nötig, um Klarheit zu schaffen und um sich zu sammeln.

Es gibt Beziehungen, die hochgradig problematisch sind, dazu gehört Missbrauch, psychische oder physische Gewalt oder schwere Vernachlässigung. In solchen Fällen rät die Psychotherapeutin und Bindungsexpertin Claudia Haarmann, die Mutter-Tochter-Beziehungen im Buch nochmal wissenschaftlich einordnet, sogar zu einem Kontaktabbruch. Es geht darum, über die Auseinandersetzung mit der Beziehung und Prägung zur Mutter, zu sich selbst zu finden.

Meine Grundannahme ist, dass es immer von Vorteil ist, sich mit der Beziehung offen und ehrlich auseinanderzusetzen.

Eine der Töchter aus dem Buch ist heute mit dabei: Tina K. Liebe Tina, deinen Brief adressierst du nicht nur an deine Mutter, sondern auch an deinen Sohn. Wieso?

Tina K.: Bevor mein Sohn auf die Welt kam, war ich in der Rolle der Tochter, die Vorurteile hatte und ihrer Mama bestimmte Vorwürfe gemacht hat. Dann kam der Prozess der Schwangerschaft und die Geburt meines Sohnes – das hat viel für mich verändert, weil ich plötzlich nicht mehr nur Tochter, sondern selbst Mutter war.

Diese bedingungslose Liebe, die ich von meiner Mutter erwartet und nie bekommen habe, ist für mich zu meinem Kind selbstverständlich.

Wie hat sich dein Blick auf deine Mutter verändert?

Auf der einen Seite habe ich durch meine eigene Mutterschaft mehr Verständnis entwickelt für meine Mama: Als sie mich bekommen hat, war sie Anfang/Mitte 20. Sie kam aus Thailand nach Deutschland und hatte keine thailändische Community oder eine Hebamme, die ihr helfen konnte. Einerseits habe ich meine Mutter also besser verstanden und konnte Mitgefühl entwickelt, andererseits bin ich mit ihr noch härter ins Gericht gegangen, was sehr verwirrend war.

Als ich selbst Mama wurde, habe ich festgestellt: Diese bedingungslose Liebe, die ich von meiner Mutter erwartet und nie bekommen habe, ist für mich zu meinem Kind selbstverständlich. Vielleicht ist sie in meinem Fall nochmal extremer, weil ich meinen Bruder verloren habe und jetzt einen Sohn habe. Aber es war einfach automatisch so. Ich bin die liebevollste Mama und mache alle die Dinge, die ich selbst nie erlebt habe. Meine Mama ist dadurch, dass sie mich als Mutter erlebt, selbst eine viele bessere Oma geworden. Alles ist miteinander verwoben: Das ist meine Mama und das ist mein Sohn – und ich bin seine Mama.

Du beschreibst in deinem Brief an deine Mutter einen inneren Loyalitätskonflikt. Kannst du den Hintergrund näher erläutern?

Tina K.: Ich denke das kennen viele Frauen*, diesen Loyalitätskonflikt zu der eigenen Familie oder zwischen Kind und Mutter. Bei mir kommt noch die thailändische Prägung dazu: Du widersprichst deinen Eltern niemals, du hinterfragst nichts. Auch im Buddhismus ist das so: Alles, was älter ist, ist die Wahrheit. Viele Frauen mit internationalem Background kennen das. Es gibt eine Erwartungshaltung von der Mutter oder dem Vater: Sie sind schließlich für dich hierhergekommen.

Dazu kommt ein Generationstrauma: Auch unabhängig von unserer Beziehung zu der eigenen Mutter tragen wir Frauen* über viele Generationen hinweg viel Gepäck mit uns rum – ganz egal wie privilegiert wir sind. Wir tragen es immer weiter mit, weil wir denken, dass wir es so machen müssen. Wir opfern uns auf, tragen alles auf unseren Schultern. Es wird von uns erwartet, dass wir als Töchter und auch als Mütter irgendwie diese Gesellschaft am Laufen halten. Gleichzeitig sind wir „die Schwachen“, „die Kleinen“. Deswegen wundert man sich, gerade auch bei den Frauen* im Buch: Warum kann sie das? Woher nimmt sie die Stärke? Die Antwort ist: Wir haben gar keine Wahl.

Tina, in deinem Brief schreibst du „(…) Zeit heilt keine Wunden. Das Aufarbeiten heilt die Wunden. Nicht das Weggucken.“  Wieso ist dir das so wichtig?

Tina K.:  Es gibt dieses Zitat „Zeit halt alle Wunden“ und ich finde, das stimmt einfach nicht! Seit dem Tod meines kleinen Bruders weiß ich, dass ich eine andere Form der Aufarbeitung habe als die meisten, weil ich einfach mit jedem und jeder darüber reden möchte. Ich finde es wichtig hinzuschauen, wirklich in den Schmerz reinzugehen – genau da, wo du nicht hingehen möchtest, aus Angst, nicht mehr rauszukommen.

Ich bin durch diesen ganzen Prozess gegangen: Mein Bruder Jonny war acht Jahre jünger und meine große Liebe. Als er gegangen ist, haben viele gesagt, ich handele wie eine Mutter und nicht wie eine große Schwester, weil wir so eine tiefe, innige Verbundenheit haben. In unserer Familienkonstellation – ich habe noch eine zwölf Jahre jüngere Schwester – war eigentlich immer ich die Mama. Deswegen haben alle von mir erwartet, dass ich die Starke bin, dass ich das schon mache. Mit den Jahren habe ich gemerkt, ich kann und ich will das gar nicht!

Es gibt dieses Zitat „Zeit halt alle Wunden“ und ich finde, das stimmt einfach nicht!

Nachdem du deine eigene Geschichte aufgearbeitet hast, wie ist das Verhältnis zu deiner Mutter heute?

Tina K.: Ich würde nicht unbedingt sagen, dass sich das Verhältnis gebessert hat. Nur, weil ich durch bestimmte Prozesse gehe, heißt das nicht, dass meine Mama auch durch diese Prozesse geht. Aber die Art und Weise wie ich bestimmte Situationen handhabe, hat sich verändert: Ich lasse mich nicht mehr so schnell triggern, weil ich verstanden habe, wieso sie ist wie sie ist.

Im Umgang mit meinem Sohn ist sie übrigens ganz anders als damals mit mir: Ich kann gar nicht zählen wie oft sie ihn „Schatz“ nennt oder ihm sagt, dass sie ihn liebt. Das ist schön zu sehen und ich trete dazu ganz bewusst nicht in Konkurrenz.

Ich gehe also nicht in eine vorwurfsvolle und trotzige Haltung. Und ich setze bewusst Grenzen. Zum Beispiel hat meine Mama mir schon schlimme Dinge an den Kopf geworfen, die mich tief verletzt haben. Diese Situation haben wir circa einmal im Jahr. Mittlerweile nehme ich ihre Vorwürfe nicht mehr so persönlich. Ich weiß, dass es der verletzte Anteil in ihr ist, der mich verletzen will. Es gibt immer noch Momente, in denen ich zehn Mal tief durchatmen muss.

Wiebke, im letzten Teil deines Buches ordnet die Therapeutin und Bindungsexpertin Claudia Haarmann das Konstrukt Mutter-Tochter-Beziehung psychologisch ein. Dabei wird deutlich: Auch die eigene Mutter war bzw. ist Tochter. Wieso kann es heilsam sein, sich diesen Aspekt zu verdeutlichen?

Wiebke Dierks: Indem wir uns die individuelle Geschichte unserer Mutter vergegenwärtigen – woher sie kommt, welche Erfahrungen sie als Tochter gemacht hat, was sie geprägt hat – können wir in einen sanfteren Umgang miteinander kommen. Wir verstehen, dass unsere Mutter vielleicht auch eine Mutter hatte, die problematisch war: die überbordend übergriffig war, traumatisiert war oder keine Liebe geben konnte oder von viel zu viel Liebe erdrückt wurde.

So lässt es sich in einen Dialog treten. Dieser Prozess, das Verständnis und die andere Perspektive, können viel heilen. Ich weiß zum Beispiel, dass meine Mutter mir alles gegeben hat, was in ihrer Macht stand. Sie hat mir sehr viel mehr gegeben als sie von ihrer eigenen Mutter bekommen hat. Dennoch hatte ich als Kind das Gefühl, das reicht mir nicht.

Es ist nicht meine Aufgabe, meine Eltern schuldig zu sprechen.

Tina K.: Ich glaube, es geht genau darum: Was ist denn unsere Aufgabe auf dieser Welt als Tochter oder als Mensch? Es ist nicht meine Aufgabe, meine Eltern schuldig zu sprechen. Mitgefühl mit meiner Mama zu haben und sie zu verstehen, heißt wiederum nicht, dass ich alles gutheißen muss. Als Erwachsene trage ich Mitverantwortung: Ich kann verstehen, warum eine bestimmte Situation passiert ist, die Liebe dahinter sehen und dass meine Mutter nur das machen konnte, was ihr damals möglich war. Heilung beginnt, wenn wir uns selbst das geben, was wir uns so vom anderen wünschen.  

Ihr seid beide selbst Mütter. Wenn eure Kinder später einmal auf die Idee kommen sollten, euch einen Brief zu schreiben – was würdet ihr euch wünschen, was drinsteht?

Wiebke Dierks: Ich würde mir wünschen, dass ich für meine Tochter immer ein sicherer Hafen war und gleichzeitig gut loslassen konnte. Und außerdem hoffe ich natürlich, dass sie mal sehr milde mit den Fehlern umgeht, die ich selbstverständlich mache – wie jede*r und jede Mutter. Und dass sie dabei versteht, dass ich, aus meinen Ressourcen heraus, die bestmögliche Mutter für sie war, die ich sein konnte.

Tina K.: Ich wünsche mir, dass mein Sohn spürt, wie sehr ich ihn liebe. Dass er tiefe, kräftige Wurzeln hat und sich bestärkt fühlt, überall hinzugehen. Ich wünsche mir, dass er weiß, dass er nicht für mich verantwortlich ist – dass er mir nichts schuldet. Dass er weiß, dass er alles erreichen kann, weil Mama es möglich gemacht hat.

Vielen Dank für das offene und inspirierende Gespräch, liebe Wiebke und liebe Tina!

Hier findet ihr Wiebke Dierks:


Hier findet ihr Tina K.:


Illustration: Adobe Stock

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