Polyamorie: Zwei Kinder und eine offene Ehe – warum das super funktionieren kann
04. Januar 2021
geschrieben von Anna Weilberg

Mareike (35) und Kolja* (39) sind seit elf Jahren ein Paar, seit drei Jahren verheiratet und mittlerweile Eltern von zwei gemeinsamen Kindern. Für Außenstehende wirkt nichts ungewöhnlich an der jungen Familie, aber Mareike und Kolja leben ein Beziehungsmodell, das für die meisten (heterosexuellen) Paare noch neuartig ist: Sie führen eine offene Beziehung. Wir sprechen mit Mareike darüber, wann und warum der Wunsch aufkam, neben ihrem Partner auch andere Männer zu treffen, wie sie und ihr Partner damit umgegangen sind, warum es nur eine einzige Beziehungsregel bei ihnen gibt, und warum Mareike die Ansicht vertritt, dass eine offene Beziehung die Paarbeziehung sogar stärkt.
femtastics: Du bist mit deinem Partner seit 11 Jahren zusammen und seit gut drei Jahren verheiratet. Seit wann führt ihr eine offene Beziehung?
Mareike: Das begann so richtig im Jahr unserer Hochzeit: 2017. Über das Thema offene Beziehung hatten wir aber auch vorher schon gesprochen.
Weißt du noch, wann dir das Prinzip offene Beziehung zum ersten Mal begegnet ist – und was deine erste Reaktion darauf war?
Ich hatte mich damit schon seit ein paar Jahren theoretisch beschäftigt – das Thema hat mich interessiert und ich habe darüber nachgedacht – aber damals war es für mich persönlich noch nicht relevant selbst eine offene Beziehung auszuleben. Zuerst dachte ich, es sei nur mein persönliches Thema, aber habe dazu dann so viel aktuelle Literatur gefunden. Ich habe gemerkt, dass es wahrscheinlich kein Zufall ist, dass mich das Thema beschäftigt, sondern dass es in den vergangenen Jahren gesellschaftlich mehr in den Fokus gerückt ist.
Wann und wieso haben du und dein Partner entschieden, dass ihr gemeinsam eine offene Beziehung führen wollt?
Das klingt vielleicht doof, aber das ist durch den Karneval passiert. (lacht) Wir leben seit einigen Jahren in Köln und sind recht spät zum Karneval gekommen. In unserer Jugend haben wir Karneval abgelehnt, aber irgendwann haben wir gemerkt, dass es cool ist, sich da ganz fallen zu lassen. Wir haben beide beim Karnevalfeiern gemerkt, dass wir Lust haben, mal ein bisschen mit anderen zu knutschen.
Es fing an mit zwei Männern aus meinem Bekanntenkreis, die ich schon länger interessant fand und mit denen ich zum Beispiel an Karneval immer geflirtet hatte.
Wann wurde daraus mehr?
Kolja und ich haben dann unser erstes Kind bekommen und ein paar Monate später hatte ich das große Bedürfnis, mich auch mal mit anderen Männern zu treffen. Einfach die Lust darauf. Das klingt im Nachhinein nach: „Okay, sie musste wieder raus aus der Mutterrolle.“ Aber das Gefühl hatte ich wirklich nicht. Es war vielmehr so, dass ich mich in meiner neuen Rolle so gestärkt gefühlt habe und Lust hatte, mit diesem neuen Ich noch einmal andere Menschen kennenzulernen und auch intimere Beziehungen mit ihnen zu führen.
Es fing an mit zwei Männern aus meinem Bekanntenkreis, die ich schon länger interessant fand und mit denen ich zum Beispiel an Karneval immer geflirtet hatte. Mit einem von ihnen habe ich mich regelmäßig gedated und hatte daran viel Spaß. Mein Mann wusste davon und wir sind damit von Anfang an offen mit einander umgegangen. Wir haben das Thema auch ganz analytisch diskutiert: Warum hat man eventuell ein Problem mit einer offenen Beziehung? Hat das etwas mit Besitzansprüchen zu tun? Man liebt ja mehrere Kinder gleichermaßen, warum kann man nicht auch mehrere Partner lieben? …
Es ging also von dir aus, eure Beziehung zu öffnen?
Ja, das ging voll von mir aus. Mit dem einen anderen Mann hatte ich wie gesagt schon meine Dates, mit dem anderen hatte ich mich zunächst angefreundet, habe mich dann aber in ihn verknallt.
Habt ihr im Vorfeld genaue „Regeln“ definiert – zum Beispiel: „Sex mit anderen ist okay, aber tiefe Gefühle sollen nicht ins Spiel kommen.“ oder Ähnliches?
Das habe ich, ehrlich gesagt, für Blödsinn gehalten. Gefühle kann man sich ja nicht verbieten. Von solchen Regeln haben wir abgesehen. Es scheint vielleicht erst einmal so als würde es unsere Beziehung bedrohen, wenn wir uns in einen anderen Menschen verlieben. Das waren für mich aber immer zwei Paar Schuhe. Ich habe nie an meiner Beziehung und auch nie an meinem Vorhaben, meinen Freund zu heiraten, gezweifelt. Das war für mich immer eine stabile Sache. Trotzdem weiß ich, dass mein Freund, also mein jetziger Mann, zeitweise darunter gelitten hat, weil es für ihn nicht so klar war. Woher sollte er auch die Garantie haben? Es gibt ja auch keine Garantie, dass sich Gefühle nicht ändern. Es gibt keine Garantie. Ich konnte nur immer wieder ehrlich sagen, wie ich mich fühle und dass es für mich zwei ganz unterschiedliche Beziehungen sind, die ich da gerade parallel führe.
Es scheint vielleicht erst einmal so als würde es unsere Beziehung bedrohen, wenn wir uns in einen anderen Menschen verlieben. Das waren für mich aber immer zwei Paar Schuhe.
… und dass die andere Beziehung nichts an deinen Gefühlen für deinen Partner mindert?
Im Nachhinein würde ich sogar sagen, es hat unsere Beziehung gestärkt, dass er das trotz der anfänglichen Widerstände zulassen konnte und dass wir so offen miteinander waren. Das ist die einzige „Regel“, die es zwischen uns gibt: Offenheit, weil wir das beide wollen. Andere Paare haben vielleicht die Vereinbarung: „Mach, was du willst, aber ich will es nicht wissen.“ Das muss ja jeder für sich selbst entscheiden. Bei uns ist es: „Mach, was du willst und erzähl mir bitte alles!“ (lacht) Ich möchte die Vertrauensperson sein, denn das ist für mich Intimität und dadurch fühle ich mich auch wieder in unserer Exklusivität bestärkt, denn nur miteinander sind wir so vertraut und offen.
Natürlich muss man auch dabei überlegen, welche Details oder Informationen vielleicht verletzend für den Partner sind und man lieber nicht erzählt. Aber das meiste erzählen wir einander.
Hat das auch schon zu Konflikten geführt?
Ja, auf jeden Fall. Es gab zum Beispiel mal den Fall, dass mein Partner eine Nachricht gelesen hat, die ich an den Anderen geschrieben habe – und die Art, wie vertraut ich geschrieben habe, hat ihn verletzt. Anfangs hat das ganze Thema unsere Beziehung in eine kleine Krise gebracht, die wir dann aber gut gemeinsam gemeistert haben.
Hat dein Mann das Prinzip offene Beziehung denn dann auch ausgelebt? Oder warst das immer nur du?
In der Anfangszeit nicht. Er hat zwar mal danach gesucht, das auch auszuleben, aber man findet ja nicht auf Knopfdruck den passenden Menschen. Klar ist er auch ausgegangen und hatte auch mal Spaß mit anderen Frauen, aber das war kein Äquivalent zu mir. Es ist jetzt eher so, dass er das mehr auslebt und das Thema für mich gerade nicht so aktuell ist. Es ist gerade nicht so mein persönliches Bedürfnis, andere Männer zu treffen, und ich habe auch nicht viel Gelegenheit dazu. Ich bin immer noch offen dafür, aber ich bin gerade mit vielen anderen Dingen beschäftigt.
Kolja hat allerdings seit fast anderthalb Jahren eine Freundin, die er immer wieder mal trifft. Sie lebt in einer offenen Beziehung und das macht die Sache natürlich sehr unkompliziert. Ihr Partner ist auch im Bilde und das ist für ihn auch völlig in Ordnung.
Könntet ihr euch auch eine polyamore Beziehung mit weiteren Partner*innen vorstellen oder kommt das nicht in Frage?
Ich würde wahrscheinlich aus Neugier immer Ja sagen. Aber so ganz leicht ist das für uns noch nicht, das merke ich immer mal wieder. Die Freundin von Kolja ist auch eine Freundin einer Freundin von mir. Ich habe sie vor ein paar Monaten auf einem Geburtstag getroffen und da saßen wir uns dann am Esstisch gegenüber. Ich gebe zu, ich war nicht so ganz entspannt. Sie wahrscheinlich auch nicht. Es ist für mich doch noch neues Terrain.
Das Sexleben als Paar mit kleinen Kindern ist auch eingeschränkt und nicht leicht, darüber kann man ja auch offen reden. Ich empfinde es so, dass Kolja für sich sorgt, wenn er seine Freundin trifft.
Ihr seid mittlerweile Eltern und habt zwei gemeinsame Kinder. Hattet ihr die ganze Zeit eine offene Beziehung miteinander – oder haben eure Kinder etwas verändert?
Wie gesagt ist es auf der einen Seite erst so richtig losgegangen mit der offenen Beziehung als wir Familie wurden, unser erstes Kind hatten und geheiratet haben. Auf der anderen Seite ist es auch einfach so, dass nicht so viel Zeit bleibt, neben dem Familienleben mit zwei Kindern, der Arbeit und so weiter. Jetzt, da die Kinder noch klein sind – und dieses Jahr aufgrund von Corona natürlich sowieso – gehe ich nicht mehr so viel aus wie früher und habe gar nicht viel Zeit, andere Männer zu treffen.
Aber bei Kolja ist das Bedürfnis manchmal groß, aus dem Familienalltag rauszukommen – zumindest ab und zu. Das Sexleben als Paar mit kleinen Kindern ist auch eingeschränkt und nicht leicht, darüber kann man ja auch offen reden. Ich empfinde es so, dass Kolja für sich sorgt, wenn er seine Freundin trifft. Und ich sorge natürlich auch für mich, wenn es für mich relevant ist.
Ihr seht die Treffen oder den Sex mit anderen nicht als „Bedrohung“ für euer Familienleben, sondern als eine Art „Me-Time“, damit es euch gut geht, verstehe ich das richtig?
Ja, so kann man das sagen. Wenn jemand denkt: „Die große Gefahr ist, dass man sich dann in eine andere Person verliebt.“, würde ich immer entgegnen: Die Gefahr besteht auch so, ohne Treffen mit anderen. Ich würde fast sagen, dass die Gefahr vielleicht abnimmt, wenn man aus einem Hochdruckkessel ab und zu Dampf ablässt. (lacht) Wenn man sich zwingt, zu denken: „Das ist jetzt Ehe, das ist jetzt Familie, jeder Blick nach links oder rechts ist schon ein halber Betrug“, dann entsteht vielleicht Druck.
Ich will nicht behaupten, dass es bei jedem so ist. Es gibt bestimmt Menschen, die in einer monogamen Beziehung sehr glücklich sind und diesen Druck gar nicht empfinden. Ich lebe das gerade ja auch so, das ist vielleicht mal eine Lebensphase. Wenn ich permanent nach anderen Männern suchen würde, dann würde ich persönlich mir vielleicht auch Gedanken machen. Wenn ich nur noch nach außen gucken würde und nicht mehr nach innen, auf unsere Beziehung, dann wäre das vielleicht doch ein Zeichen dafür, dass ich mich nicht mehr so wohl fühle in der Beziehung.
Wenn jemand denkt: „Die große Gefahr ist, dass man sich dann in eine andere Person verliebt.“, würde ich immer entgegnen: Die Gefahr besteht auch so, ohne Treffen mit anderen.
Aber ein Leben lang eine monogame Beziehung zu führen, kannst du persönlich dir nicht vorstellen?
Ich finde das einfach unrealistisch. Aber ich weiß gleichzeitig, dass Kolja und ich auch dazu in der Lage sind, monogam zu leben. Vielleicht leben wir in den nächsten zehn Jahren noch polyamor und dann beginnt irgendwann eine neue Phase. Das stelle ich mir auch total schön vor.
Wie offen geht ihr in eurem Freundes- und Familienkreis mit eurer Beziehung um?
Irgendwann wurde Kolja von einer Bekannten an einem Kneipenabend darauf angesprochen, dass wir doch in einer offenen Beziehung leben würden. Das heißt, es spricht sich irgendwie doch herum, obwohl wir mit dem Thema nicht hausieren gehen.
Wenn du so etwas erzählst, sind viele Leute etwas schockiert – manchmal auch einfach nur neugierig, das darf man ja auch sein. Für mich ist das wirklich verrückt. Bei anderen Themen, die viel gravierender sind, sind die Leute nicht so leicht zu schockieren. Der Vergleich ist jetzt vielleicht etwas gewagt, aber: das Fleisch gequälter Tiere zu essen, ist vollkommen in Ordnung. Aber mehrere Menschen zu lieben, das geht nicht.
Ihr lebt ja schon in einem sehr liberalen, toleranten Umfeld … Selbst dort reagieren Menschen schockiert?
Die Standard-Antwort ist eigentlich: „Ach, krass, das könnte ich nicht.“. Meist wird das mit Ängsten begründet: Angst, den Partner oder die Partnerin zu verlieren – oder Angst, sich selbst dann zu distanzieren. Alles weit verbreitet und verständlich, aber ich denke, es schadet auch nicht, zu reflektieren, woher starke Eifersucht oder starke Verlustangst kommt. Das sind ja wichtige Gefühle, die man sich mal genauer anschauen kann: Bis zu welchem Grad sind sie hilfreich, und ab wann wird es eigentlich irrational?
Wissen eure Familien auch davon, dass ihr eine offene Beziehung lebt?
Nein, nicht alle. Wir glauben, das nicht jedem zumuten zu können. Gerade, weil wir Kinder haben. Unsere Familien würden sich vielleicht Sorgen machen. Da sind schon ein konservativeres Denken und Verlustängste vorhanden.
Es ist von außen betrachtet ja auch gar nicht falsch, sich Gedanken um die Kinder zu machen. Wenn die Eltern natürlich nur damit beschäftigt wären, andere Frauen oder Männer zu suchen, und das Bedürfnis übertrieben ausleben würden, könnte es ja auch wirklich sein, dass die Kinder darunter leiden. Aber ebenso sollte man sich fragen, ob die Kinder leiden, wenn die Eltern sich unter großem Druck zwingen, monogam zu leben und es in der Beziehung brodelt oder man unglücklich wird. Ich finde, man ist es auch den eigenen Kindern schuldig, auf seine eigenen Bedürfnisse zu achten. Ohne natürlich die Kinder zu vernachlässigen. Natürlich stehen unsere Kinder bei uns immer im Fokus.
Für Außenstehende, die selbst keine Erfahrung mit dem Thema haben, kann eine offene Beziehung vielleicht instabiler wirken als eine monogam gelebte.
Stabilität entsteht für mich dadurch, dass man mit einander in Kontakt ist, und dass man sich selbst einander „zumutet“ und das auch tun kann. Im Austausch bleiben, in Verbindung sein – das kann man in einer offenen ebenso wie in einer monogamen Beziehung tun. Das hat etwas mit gelebten Werten zu tun.
Wenn es natürlich bei uns so gewesen wäre, dass wir uns nicht hätten einigen können, dass Kolja es grundsätzlich abgelehnt hätte, eine offene Beziehung zu führen, es mir aber ein großes Bedürfnis geblieben wäre, dann hätte das natürlich zu Konflikten und Instabilität führen können. Dann hätte ich vor der Entscheidung gestanden: Verzichte ich ihm zuliebe darauf, oder mache ich das doch und heimlich, oder führt es vielleicht sogar dazu, dass wir uns trennen? Es hätte ja auch durchaus sein können, dass Kolja anders reagiert. Man darf sich in einer Beziehung ja auch nicht emotional erpressen lassen: entweder oder.
Stabilität entsteht für mich dadurch, dass man mit einander in Kontakt ist, und dass man sich selbst einander „zumutet“ und das auch tun kann. Das kann man in einer offenen ebenso wie in einer monogamen Beziehung tun.
Wieso wollten du und dein Partner eigentlich gerne heiraten – wenn ihr doch „typische Beziehungsformen“ so hinterfragt?
Das habe ich mich kürzlich auch noch einmal gefragt. Erstens, warum haben wir nach acht Jahren Beziehung überhaupt geheiratet? Zweitens, warum haben wir in dieser stressigen Lebensphase geheiratet, als unser Sohn ein halbes Jahr alt war während wir eine Hochzeit planen mussten, und unsere Beziehung zudem in einer Krise war? Ich habe über diese Fragen nachgedacht und dachte dann: Ja, wahrscheinlich darum. Wir planen beide total gerne und schmeißen gerne gemeinsame Partys. Es hat uns so viel Spaß gemacht, zu überlegen, wer unser DJ sein kann, wer die Hochzeitskuchen backt, welche Freunde sich wie einbringen können. Das war ein gemeinsames Projekt, das uns belebt hat und das uns auch wieder daran erinnert hat, was uns verbindet. Dafür muss man natürlich trotzdem nicht heiraten – aber letztlich hat die Hochzeit für uns beide Sinn ergeben.
Nur unsere Eheringe tragen wir nicht unbedingt immer. Das kann beim Flirten manchmal abschreckend wirken. (lacht)
Und wieso wolltest du deine persönlichen Erfahrungen gerne in einem Interview mit uns teilen?
Unsere Gesellschaft transformiert sich permanent, es wird ganz viel neu gedacht und anders gemacht. Das muss auch passieren, damit sich unsere Gesellschaft weiterentwickeln kann. Ich finde, auch die herrschenden starren Beziehungsmuster und -ideale sind ein Thema, über das wir nachdenken sollten. Dazu gehören so viele Aspekte, zum Beispiel auch, warum die Ehe immer noch so stark geschützt ist und andere Partnerschaften gesetzlich nicht als gleichwertig angesehen werden.
Es gibt so viele Dinge, die in früheren Zeiten als normal galten und heute undenkbar sind. Vielleicht blicken wir irgendwann zurück und fragen und, was das eigentlich für eine komische Nummer war mit der Monogamie. (lacht)
Vielen Dank für das ehrliche Gespräch!
* Die Namen wurden auf Wunsch der Interviewpartner geändert
Foto: iStock