Es gibt Menschen, die schauen zu, und es gibt Menschen, die machen einfach. Gökcen Deveci gehört zu Letzteren. Der 11. September 2001 ist für die Tochter türkischer Gastarbeiter ein Schlüsseltag. Mit 12 Jahren bekommt sie mit, dass etwas mächtig schief läuft und dass man den Erwachsenen nicht trauen kann. Seitdem möchte die Hamburgerin Menschen helfen und die Welt zu einem besseren Ort machen.
Also studiert sie nach dem Abitur Politikwissenschaften und engagiert sich, kurz nachdem die Flüchtlingswelle 2014 Hamburg erreicht, in der Flüchtlingshilfe. Als Sozialmanagerin arbeitet sie in einer Erstaufnahme und betreut Geflüchtete und Ehrenamtliche. In ihrer Freizeit schließt sie sich kurzentschlossen einem Hilfskonvoi an und fährt auf eigene Faust nach Griechenland, um Hilfsgüter hinzubringen und in den Flüchtlingslagern zu unterstützen. Heute arbeitet Gökcen als Presserefentin für die NGO Vision Hope e.V. Was hier ihre Aufgaben sind und was sie auf ihrer letzten Reise nach Palästina erlebte, erzählt sie uns beim Tee in Hamburg-Altona.
Ich war immer eine Idealistin und habe immer davon geträumt, die Welt verändern zu können.
femtastics: Warum hast du dich dafür entschieden, im sozialen Bereich zu arbeiten bzw. dich dafür zu engagieren?
Gökcen Deveci: Ich war immer eine Idealistin und habe immer davon geträumt, die Welt verändern zu können. Nach dem Abitur habe ich Politikwissenschaften studiert, um ein Instrument zu erlernen, das die Welt zu einem besseren Ort machen kann. Während des Studiums war ich politisch bei den Jusos der SPD aktiv. Für die ZEIT-Stiftung habe ich neben dem Studium außerdem als Projektassistenz in einem Bildungsprojekt gearbeitet. Es hieß „Mehr Migranten werden Lehrer“. Hier habe ich das erste Mal gemerkt, wie viel Spaß es mir macht, mit Menschen zusammenzuarbeiten und ihnen Perspektiven zu geben. Dann habe ich noch in Istanbul International Relations and European Studies studiert.
Was war der Auslöser für dein Engagement für Geflüchtete?
2014 habe ich mein Studium beendet. Damals wurde von der Flüchtlingswelle nicht wirklich berichtet, aber ich habe davon mitbekommen. Ich wohne in der Nähe von Stellingen und habe auf einmal immer mehr Menschen unterschiedlichster Kulturen – Eritreer, Araber, Albaner – gesehen, die alle Richtung Volkspark liefen. Ich dachte erst, es gäbe ein Volksfest, aber die kamen alle aus der Erstaufnahme-Zentrale in der Schnackenburgallee.
Zu dem Zeitpunkt haben hier 3.000 Geflüchtete gelebt. In den Medien hat aber keiner drüber gesprochen. Ich habe dann zwei Wochen lang intensiv gegoogelt und wollte wissen, wer diese Menschen sind und was sie im Volkspark machen. Ich habe aber nichts gefunden, bis auf eine Schlagzeile im Abendblatt im Sinne von „Hamburg ist überfordert mit immer mehr Flüchtlingen, die in die Schnackenburgsallee kommen“. Das war für mich ein Wendepunkt. Ich dachte: Was passiert da gerade in der Welt? Da sind Menschen, die wohnen nebenan – ich muss die kennenlernen! Ich musste was tun. Ich konnte nicht wegschauen und nicht still sitzen bleiben. Es war ein Thema, was ich durch die Begegnung und das Erleben erfahren habe.
Und du hast sofort den Entschluss gefasst, deine Arbeitszeit diesem wichtigen Thema zu widmen?
Ich habe weiter gegoogelt, eine passende Stellenanzeige gefunden, mich beworben und bei fördern&wohnen im Sozialmanagement zu arbeiten angefangen.
Was war deine Aufgabe?
Ich habe die Aufnahme der Geflüchteten und die Menschen selbst betreut. Meine Hauptaufgabe war die Verweisberatung. Wenn der Geflüchtete mir also Probleme schilderte, habe ich sie an die zuständigen Institutionen verwiesen – von Ärzten bis Bildungsinstituten. Gleichzeitig war ich auch Freiwilligenkoordinatorin und für die Ehrenamtlichen zuständig. Also für die Betreuung, die Akquise und die Vernetzung im Stadtteil selbst.
Wie hast du die Arbeit mit den Geflüchteten empfunden?
Für das, was ich die ersten Monate dort erlebt habe, gibt es keinen Begriff. Die erste Zeit war dramatisch. Ich wurde überschwemmt mit Emotionen – schließlich habe ich mit 700 Geflüchteten gearbeitet und mich kulturell mit ihnen verbunden gefühlt. Ich war ein wichtiger Ansprechpartner.
Es war eine sehr große Herausforderung für mich, weil ich mich am Anfang nicht abgrenzen konnte. Ich habe die Aufgabe so ernst genommen und mir alles so sehr zu Herzen genommen, dass ich jeden Tag alle Aufgaben lösen wollte. Teilweise bin ich mit Herzrasen nach Hause gekommen, hatte Schüttelfrost und konnte nicht einschlafen. Ich habe mal gelacht, mal geweint – es war ein Chaos der Gefühle.
Das Abgrenzungsthema ist bei der Arbeit mit Geflüchteten sehr wichtig. Wie hast du das geschafft?
Wir wurden von fördern&wohnen geschult und haben einmal im Monat Supervision bekommen. Dafür bin ich dem Arbeitgeber sehr dankbar. Nach sieben bis acht Monaten habe ich es hinbekommen, mich gut abzugrenzen. Das heißt, ich habe mich auf das Sachliche konzentriert. Wenn ein Geflüchteter in mein Büro kam und mir von seinem Problem erzählt hat, habe ich nicht mehr weiter rumgestochert und gefragt wieso, weshalb und warum es ihm so geht. Stattdessen habe ich nach konkreten Lösungswegen gesucht.
Meine Kollegen und ich wurden zu zentralen Figuren für die Geflüchteten – wir waren ihr Hoffnungsschimmer.
Das ist dir wahrscheinlich nicht leicht gefallen?
Es ist mir sehr schwer gefallen. Aber man muss lernen, den Geflüchteten gegenüber positiv zu bleiben und ihnen das Gefühl zu geben, dass alles gut wird.
Dennoch bringen viele Geflüchtete Erlebtes mit, das eigentlich aufgearbeitet werden müsste. Aber klar, du musst einen Weg finden, um deine Arbeit erledigen zu können.
Absolut. Ich habe mich auf meine Arbeit konzentriert und jeden Tag den Satz runtergerattert: Alles wird gut. Auf Englisch und auf Arabisch. Das hat geholfen – beiden Seiten. Mir hat es in dem Sinne geholfen, dass mir vertraut wird, dass alles irgendwann gut wird und für die andere Seite war es gut, jemanden zu sehen, der ihnen Hoffnung gibt und der daran glaubt. Meine Kollegen und ich wurden zu zentralen Figuren für die Geflüchteten – wir waren ihr Hoffnungsschimmer.
Wo steht die Integration deiner Meinung nach gerade in Hamburg?
Hamburg ist eine spezielle, weltoffene Stadt. Die relativ positive Situation hier ist, wenn man den Rest von Deutschland betrachtet, eine Ausnahme. Unter den Geflüchteten hat sich rumgesprochen, dass Hamburg eine tolle Stadt ist und dass sie hier akzeptiert werden. Deswegen wollen viele Geflüchtete nach Hamburg kommen. Wir sind ein gutes Beispiel für andere Bundesländer, weil wir ein großes ehrenamtliches Engagement haben.
Die Bildungspolitik investiert auch viel Zeit und Geld in Bildungsprogramme. Es gibt viele Sprachkurse, Sport- und Kulturangebote. Ich bin mega stolz, Hamburgerin zu sein. Ein Manko ist allerdings die Wohnungsknappheit. Die Menschen fühlen sich dadurch wie Menschen zweiter Klasse und können sich so auch nicht integrieren. Sie sind psychisch nicht so weit, dass sie in der Gesellschaft teilhaben können, weil sie so sehr damit beschäftigt sind, sich erstmal eine Existenzgrundlage aufzubauen. Aber Hamburg baut gerade 100.000 neue Wohnungen, es gibt also Hoffnung. Man muss optimistisch bleiben.
Und es gibt noch viele Berührungsängste seitens der Hamburger. Manchmal bekommt man das Gefühl, die Syrer, Iraker und Co. seien das neue Feindbild …
… und die Türken sind in der Hierarchie gestiegen. Sie sind die Erste-Klasse-Migranten.
Es ist absurd. Eine neue Schublade wird aufgemacht. Jetzt lass uns über Vision Hop sprechen: Was ist die Mission?
Wir leben in einer Welt, die von grenzenloser Gewalt, Ungerechtigkeit und Leid geprägt ist. Wir glauben daran, dass wir durch integrierte Projektarbeit in Krisenregionen ein Zeichen der Hoffnung setzen können. Unsere Mission ist es, hinzuschauen. Hoffnung dorthin zu bringen, wo alles hoffnungslos scheint. Unser Ziel ist es, durch die Einbettung der Not- und Katastrophenhilfe in langfristige, integrierte Entwicklungsprogramme, Menschen in jeglichen Notsituationen dazu zu befähigen, besser ausgerüstet und vorbereitet zu sein.
Gleichzeitig bemühen wir uns darum, dass immer mehr Menschen dafür begeistert werden, gegen Ungerechtigkeit einzutreten und sich für all jene einzusetzen, die sich selbst nicht helfen können.
Welche Aufgaben umfasst dein Job bei Vision Hope?
Meine Tätigkeiten als Pressereferentin umfassen die Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland, das Fungieren als Ansprechpartner bei Planungen und Terminen und das Fundraising. Mein persönliches Ziel ist es, die Projekte hierzulande bekannter zu machen und die Menschen zum Helfen zu motivieren. Hierfür organisiere ich Ausstellungen an öffentlichen Institutionen wie zum Beispiel in Kirchen und Schulen. Es werden Bilder ausgestellt, die von Kindern in Krisenregionen gemalt wurden, um ihre Traumata zu verarbeiten.
Auf diesem Wege können wir die Menschen, die in Deutschland leben, sensibler für Themen wie Flucht und Gewalt machen.
Ihr habt Projekte im Jemen, in Jordanien, Syrien und in Tunesien. Es geht darum, die Lebensverhältnisse nachhaltig durch Hilfe zur Selbsthilfe zu verbessern. Wie genau passiert das?
Mit unseren Projekten unterstützen wir die Menschen direkt vor Ort. Es geht uns nicht nur um akute Hilfe in Notsituationen – wir möchten nachhaltig etwas bewirken. Hilfe zur Selbsthilfe, oder auch mit dem englischen Begriff „empowerment“ zu beschreiben, bedeutet für uns, dass wir den Menschen Möglichkeiten bieten, wieder auf eigenen Füßen zu stehen.
In Syrien haben wir nicht nur gemeinsam mit unserem Partner ein Krankenhaus für Mütter und Kinder etabliert, sondern wir bauen vor allem Strukturen. Nach unserem Projektende sollen die Menschen im Land in der Lage sein, eigenständig weiter davon zu profitieren.
Und unsere Familienzentren in Jordanien sind nicht nur für die einzelnen Teilnehmer von Vorteil – sondern auch für die Gesellschaft. Wir fördern die Integration syrischer Flüchtlinge in die jordanische Gesellschaft und unterstützen gleichzeitig benachteiligte Menschen in Jordanien. Gemeinsam können sie weiter an der sozialen Integration arbeiten.
Und ihr unterstützt auch speziell Frauen. Mit welchen Projekten?
Frauen sind in allen Projekten relevant, von allen Teilnehmern bilden Frauen mindestens 50 Prozent der Zielgruppe. Jordanien gilt als bestes Beispiel – hier bieten wir Aktivitäten für junge, oftmals alleinerziehende Frauen und Mütter zur Förderung und Traumabewältigung an. Nächstes Jahr bin ich selbst vor Ort und schaue mir die Einrichtungen an.
In Syrien bauen wir eine Entbindungsklinik, hier wurden viele einheimische Frauen angestellt. So stärken wir Frauen als benachteiligte Gruppe und bieten gleichzeitig gynäkologische Gesundheitsleistungen an.
In der Westbank herrscht sehr viel Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit – und dennoch gibt es sehr viel Hoffnung.
Vor Kurzem bist du nach Palästina gereist. Das Thema beschäftigt dich schon immer?
Eine Freundin aus Kindheitstagen, die selbst Palästinenserin und Journalistin ist, hat die Reise organisiert. Ich wollte immer wissen: Was passiert da eigentlich? Ich kannte ja nur die Sicht aus den Medien. Ich wollte zum Ursprung reisen, gerade weil hier auch der Konflikt der drei Weltreligionen entstanden ist.
Es war eine heftige Erfahrung. Wir sind zwei Wochen durch Israel und palästinensische Gebiete in der Westbank gereist.
Was hast du in Palästina erlebt?
Es war eine unglaubliche Erfahrung zu sehen, wie viele Menschen auf so einem engen Fleck leben. Derzeit leben 2,4 Millionen Menschen in der Westbank. Es herrscht sehr viel Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit – und dennoch gibt es sehr viel Hoffnung und Liebe für die Freiheit. Die Menschen geben nicht auf und bilden sich weiter. Außerdem werden bewusst viele Kinder gezeugt, denn ihr Motto ist: ,,Existence is Resistance“, also Existenz ist Widerstand.
Du hast auch in den Camps übernachtet?
Ich habe in einem Gasthaus in einem Flüchtlingscamp in Bethlehem übernachtet. Dort habe ich viele palästinensiche Familien und ihre persönlichen Schicksale kennengelernt. Jeden Morgen bin ich zur arabischen Musik und der Stimme von Fairuz, einer arabischen Ikone aus den Siebzigern, aufgewacht.
Überall roch es nach frischem arabischen Kaffee. Besonders auffällig war, dass dort sehr viele junge Menschen leben und viele von ihnen einfach auf der Straße rumhängen und über Politik diskutieren. Die Arbeitslosenrate ist sehr hoch.
Was nimmst du von der Reise mit?
Ich habe eine palästinensische Familie kennengelernt, die ich unterstütze. Die Mutter hat Krebs und muss behandelt werden. Es gibt keine Krankenversicherung dort und auch kein Geld. Also habe ich auf eigene Faust eine Spendenaktion bei Facebook gestartet und in drei Tagen 900 Euro gesammelt. Das Geld habe ich übergeben und halte weiter den Kontakt. Außerdem unterstütze ich einen palästinensischen Sohn, der ein Stipendium für Italien bekommen hat. Er studiert dort Genetik. Jetzt schicke ich ihm einen Laptop zu, den eine Bekannte nach meinem Facebookaufruf gespendet hat.
Helfen kann so einfach sein. Was kann jeder von uns tun?
Man darf nicht zu viel nachdenken. Deutschland ist ein reiches Land und wir gehören zu den wirtschaftlich privilegierten Menschen. Wenn jeder von uns nur einige Euros spenden würde, könnten wir eines Tages in einer Welt leben, von der wir heute träumen. Ich glaube fest daran. Mit Vision Hope komme ich meinem Traum von einer gerechten Welt jeden Tag ein Stück näher.
Danke dir für das inspirierende Gespräch, liebe Gökcen!
Es gibt viele Möglichkeiten, Vision Hope zu unterstützen – zum Beispiel die Übernahme einer Projektpatenschaft mit der Online Dauerspende. Alle Infos findet ihr hier.
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