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Feminismus

Warum das Ehrenamt dringend feministisch gedacht werden muss

28. November 2025

geschrieben von Julia Allmann

Nancy Hochstein über feministisches Ehrenamt

Noch immer sind es vor allem Frauen*, die sich ehrenamtlich engagieren. Noch immer stützen sie so ein System, das auf die Hilfe von Freiwilligen setzt – und das sich dringend ändern muss. In ihrem Buch "Ehrenamt neu gedacht: feministisch, solidarisch und radikal fürsorglich" blickt die politische Aktivistin und Autorin Nancy Hochstein kritisch auf diese Missstände. Im Interview spricht sie darüber, warum Engagement traditionell weiblich ist, wie ein feministisch gedachtes Ehrenamt aussehen kann und wie sehr es uns ein Gefühl der Selbstwirksamkeit gibt, wenn wir uns gesellschaftlich einsetzen.

"Diese Erwartungsdynamik betrifft besonders häufig Frauen*, weil ihnen historisch und kulturell mehr organisatorische und fürsorgliche Verantwortung zugeschrieben wird."

femtastics: „Allein eine Frau zu sein, das ist Ehrenamt“ – mit diesem Zitat startet dein Buch. Was steckt dahinter?

Nancy Hochstein: Das Zitat stammt von einer Freundin, die voll berufstätig ist und sich stark engagiert. Sie beschreibt damit, dass ihre Freizeit ständig gesamtgesellschaftlich mitgedacht wird. Sobald man einer kleinen Aufgabe zustimmt – ob in einer Initiative, im Verein oder einem Projekt – wird man schnell erneut angefragt. Diese Erwartungsdynamik betrifft besonders häufig Frauen*, weil ihnen historisch und kulturell mehr organisatorische und fürsorgliche Verantwortung zugeschrieben wird.

Warum ist das so? Auch Männer* bekommen Kinder, teilen ihre Freizeit mit ihnen auf, können den Kuchen genauso gut backen…

Das stimmt. Im Sport ist das Bild häufig ein anderes, da sind viele männliche* Trainer ehrenamtlich unterwegs. Aber wenn wir in den Bildungsbereich schauen, ist das Bild eindeutig – und das hat einen Grund. Ich habe einige Semester Soziale Arbeit studiert und da haben wir uns mit diesem Phänomen beschäftigt: Als Frauen* noch gar nicht arbeiten durften, wurden sie gern als Helferinnen gesehen. Es war eine Grundaufgabe, unbezahlte Fürsorgearbeit zu leisten und das hat sich verselbstständigt.

Ich erlebe es noch heute so: Mit Blick auf das Ehrenamt ist es so, dass Frauen* geben und alle nehmen. Obwohl ich da gerne zwischen Ehrenamt und Engagement differenzieren möchte.

"Wenn man die Verteilungskurve sieht, wie Lebensinhalte gestaltet sind, dann sind es Frauen*, die sich noch zusätzlich zur restlichen Fürsorgearbeit ehrenamtlich engagieren."

Wie unterscheiden sich die beiden Begriffe?

Ehrenamt enthält viel Ehre und viel Amt – es klingt nach Hierarchie, Status und offizieller Zuständigkeit. Engagement hingegen steht für solidarisches Handeln, für Mitwirkung ohne Titel. In der Realität entsteht ein Flaschenhals: Oben stehen häufig Männer* sichtbar an der Spitze, während Frauen* den Großteil der unsichtbaren Basisarbeit leisten.

Und da bewegt sich auch im Jahr 2025 nichts? Bei uns in der Kita sind immerhin einige wenige Männer* in der Elternvertretung.

Ja, es kommen natürlich direkt „Not all men“-Kommentare – das kenne ich. Und es gibt Männer*, die sich engagieren. Doch bei ihnen ist es häufig so, dass sie sich engagieren, wenn die Aufgaben, die sie sonst haben, in der Zeit von Frauen* übernommen werden.

Frauen* engagieren sich, wenn sie alle anderen Aufgaben schon erledigt haben und dann noch etwas von ihrer Freizeit abzwacken. Wenn man die Verteilungskurve sieht, wie Lebensinhalte gestaltet sind, dann sind es Frauen*, die sich noch zusätzlich zur restlichen Fürsorgearbeit ehrenamtlich engagieren.

"Ehrenamt ist gelebtes Mitgefühl. Es kann uns aus der Ohnmacht herausholen."

Trotz dieser Ungleichheit ist dir Engagement sehr wichtig. Warum?

Für mich ist Ehrenamt gelebtes Mitgefühl. Und es kann uns aus der Ohnmacht herausholen. Wenn ich sehe, dass es irgendwo eine Sollbruchstelle gibt und ich eine Fähigkeit habe, die helfen kann, dann bringe ich mich super gerne mit ein.

Ich bin nur eine von so vielen Millionen Personen, die sich engagieren. Es gibt ein breites Feld von Ehrenamt – über Rettungsschwimmer*innen, THW, Nachhaltigkeit, Umweltschutz, Bildung, die Liste ist lang. Gerade in Sachen Nachhaltigkeit sehen wir, dass es ohne ehrenamtliche Unterstützung nicht weitergeht und wir erleben, dass kleine Schritte etwas bewegen können. Das ist auch das Schöne daran. Ehrenamt ist das Gegenteil von Meckern.

Weil wir uns nicht nur beschweren, sondern selbst anpacken?

Genau. Ich kann mich natürlich immer hinstellen und mich beschweren, was alles schiefläuft – das tun ja genug Menschen. Interessanter ist doch: Wer macht ein Angebot, um die Lage besser zu machen? Wer kann etwas einbringen? Nicht nur, um die Vita zu füllen, sondern weil es einen Unterschied macht und weil es persönlich bereichernd ist.

Wie sieht das Engagement bei dir persönlich aus? Und wie baust du es in dein Leben ein? Du bist ja selbst berufstätig und hast Kinder.

Das Thema Ehrenamt hat mich immer begleitet. Über viele Jahre hatte ich eine 30-Stunden-Stelle als Trainerin und habe bewusst entschieden, die übrige Zeit für politisches und gesellschaftliches Engagement zu nutzen. Oft sind es kleine Dinge wie das Gestalten von Materialien, die Organisation von Treffen oder die Unterstützung bei Projekten – aber auch diese Aufgaben schaffen Räume, in denen Veränderung möglich wird.

Als 2015 viele Geflüchtete nach Leipzig kamen, wurde viel kritisiert und spekuliert. Für mich stand jedoch im Vordergrund, dass dort Menschen ankamen, die Schutz brauchten – Frauen*, Familien, Kinder, die dieselben Bedürfnisse und die gleiche Verletzlichkeit hatten wie wir. Deshalb war für mich sofort klar, dass ich mich einbringe. Damals war mein Sohn noch sehr klein und saß oft einfach mit auf meinem Schoß, während ich organisiert oder geholfen habe. Später habe ich zum Beispiel in einem Nähprojekt mitgearbeitet – auch dort waren meine Kinder manchmal dabei. So sind sie ganz selbstverständlich in einer Atmosphäre aufgewachsen, in der Engagement, Solidarität und Gemeinschaft alltäglich sind.

Auch wenn ich mich im Sportverein engagiere, ergeben sich oft natürliche Berührungspunkte, weil Sport ohnehin Teil unseres Familienlebens ist. Mittlerweile sind meine Kinder alt genug, um eigene Nachmittage zu gestalten, und mein Mann übernimmt selbstverständlich seinen Teil, wenn ich unterwegs bin. So entsteht ein Gleichgewicht, das es mir ermöglicht, mich einzubringen, ohne dass es auf Kosten unserer Familie geht.

"Räume, in denen Demokratie, Vielfalt und Begegnung möglich sind, sind heute wichtiger denn je."

Du hast die Flüchtlingskrise 2015 erwähnt, in der sich viele Menschen engagiert haben, die vielleicht sonst kein Ehrenamt ausführen. Hat das in deinen Augen langfristig etwas bewegt? Ist die Bereitschaft zum Engagement geblieben?

Ich glaube, dass es 2022 mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine wieder eine große Solidaritätsbewegung gab – oft von denselben Menschen, die sich auch 2015 eingesetzt haben. Aber gesamtgesellschaftlich nimmt die Bereitschaft ab, vor allem in politisch polarisierten Zeiten. Deshalb sind Räume, in denen Demokratie, Vielfalt und Begegnung möglich sind, heute wichtiger denn je.

Kann unser eigenes Engagement denn etwas verändern, wenn wir dieser Entwicklung was entgegensetzen wollen?

Wir haben jetzt die Chance zu entscheiden, wie wir leben wollen und in welche Richtung sich unser Land entwickelt. Und ich will gar nicht verlangen, dass man sich einer demokratischen Partei anschließt, auch wenn ich das selbst getan habe.

Was schon helfen kann: Veranstaltungen organisieren oder besuchen, bei denen Menschen zusammenkommen, bei denen nicht die Politik im Vordergrund steht – aber bei denen klar ist, dass man für Vielfalt und Demokratie einsteht. Wenn ich ein Festival organisiere, lade ich keine Fascho-Bands ein. Wenn ich bei einem Stadtfest mitmache, achte ich darauf, wer dort noch unterwegs ist. Man muss sich nicht direkt auf die Fahne schreiben, dass man politisch aktiv ist, aber so können wir ein Zeichen setzen.

"Ein feministisch gedachtes Ehrenamt bedeutet auch: faire Bezahlung, faire Rollenverteilung und faire Chancen."

In deinem Buch schreibst du auch, dass Ehrenamt keine Ausrede für den Staat sein darf, sich aus der Verantwortung zu ziehen. In der Realität ist es so, dass zum Beispiel Sportangebote für Kinder stark durch Ehrenamt getragen wird, oder?

Es ist ein Sowohl-als-auch. Der Staat darf sich nicht aus der Verantwortung zurückziehen. Wir brauchen gute, faire Arbeits- und Rahmenbedingungen: barrierefreie Zugänge, bezahlbare Ausbildungswege für Trainer*innen, Rettungsschwimmer*innen oder Projektleitende. Erst wenn die strukturellen Bedingungen stimmen, kann Engagement freiwillig und nicht kompensatorisch sein. Beispiele wie die neue paralympische Sporthalle in Leipzig zeigen, dass Investitionen Strukturen schaffen, in denen Engagement Freude macht statt ausbrennt.

In deinem Buch schreibst du über das „feministisch gedachtes Ehrenamt“. Was bedeutet das für dich?

Es bedeutet, dass Engagement als gesellschaftlicher Wert verstanden wird. Dass Arbeitgeber*innen erkennen, wie viel Kompetenz, Verantwortung und Organisation in ehrenamtlicher Arbeit steckt. Ideal wäre, wenn Engagement wie Weiterbildung betrachtet würde – etwas, das Menschen stärkt und von dem Organisationen profitieren. Ein feministisch gedachtes Ehrenamt bedeutet auch: faire Bezahlung, faire Rollenverteilung und faire Chancen. Gleichberechtigte Löhne ermöglichen gleichberechtigte Entscheidungen darüber, wer sich wann engagiert.

"Ehrenamt schafft ein Grundprinzip der Mitarbeit, es holt mich hinaus aus der Ohnmacht und bringt mich stattdessen in die Mitbestimmung."

Wie sehr erfüllt es dich selbst, dich zu engagieren?

Es gibt mir in jedem Fall ein großes Gefühl von Selbstwirksamkeit. Ehrenamt ist natürlich kein Garant für die komplette Erfüllung des sozialen Lebens. Aber es schafft ein Grundprinzip der Mitarbeit, es holt mich hinaus aus der Ohnmacht und bringt mich stattdessen in die Mitbestimmung. Ein Beispiel, das auf den ersten Blick vielleicht platt wirkt, aber eindrucksvoll ist: Wenn es bei den Festen eines Sportvereins immer nur Bratwurst und Bier gibt – weil das dem Bild eines männlich gedachten Fußballvereins entspricht – dann schließt das viele Menschen aus, die weder Fleisch noch Alkohol wollen.

Wenn ich mich selbst engagiere, kann ich dafür sorgen, dass es Alternativen gibt, dass es auch gesündere Angebote gibt. Das sollte einem Sportverein ja entgegenkommen. Genauso kann ich daran denken, dass es nicht nur Stehtische gibt, sondern auch Sitzplätze, damit wir niemanden von der Teilhabe ausschließen. Wenn ich mich selbst einbringe, kann ich dafür sorgen, dass es eine größere Awareness für solche Themen gibt – und das ist natürlich ein gutes Gefühl.

Foto: Katrin Lorenz