2019 eine Frau zu sein bedeutet, noch immer vielen Stigmata zu begegnen. Das Thema Fehlgeburt ist da keine Ausnahme. Die einen reden aus Scham und Schuldgefühlen nicht darüber, andere wollen ihr Umfeld nicht damit belasten, wieder andere trauern lieber allein. Für das Schweigen gibt es viele Gründe. Ebenso dafür, es zu brechen. Das hat auch Julia Stelzner, Autorin und Journalistin aus Berlin, erkannt. Mit ihrer Website „Das Ende vom Anfang“ gibt sie Frauen, die ihre Erfahrung teilen wollen, einen Raum. Einen Raum, den sie in ihrem Leben selbst manches Mal dringend gebraucht hätte. Denn Julia weiß, was es bedeutet, frühzeitig ein Baby zu verlieren. Und obwohl sie damit nicht allein ist – laut Statistik endet jede dritte Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt – gibt es noch immer wenig fundierte Informationen über das Thema. Wer spricht schon gerne über den Tod oder das Leben, das noch gar nicht begonnen hat? Mit „Das Ende vom Anfang“ möchte Julia diese Lücke schließen und das Thema Fehlgeburt sichtbar machen. Wir haben die frisch gebackene Mama in Berlin getroffen, um mit ihr darüber zu sprechen, warum Fehlgeburten gesellschaftlich noch immer kaum Beachtung finden und wie wir das ändern können.
Julia Stelzner: Unsere Gesellschaft ist dieser Art von Schicksalsschlägen oft hilflos ausgesetzt, weil sie nicht in unser perfekt geplantes Leben passen. Viele fühlen sich bei solchen Nachrichten betreten und haben das Gefühl, die richtigen Worte finden zu müssen und reagieren hilflos. Auch, weil das Thema vergleichsweise wenig Platz in unserer Gesellschaft hat und uns so fremd scheint. Darum geht es mir auch ein Stück weit mit meiner Website: Selbstverständlichkeit schaffen.
Auf jeden Fall! Ich habe mich als Journalistin aber vielleicht ein bisschen dafür verantwortlich gefühlt, es anzusprechen. Als es mir nämlich bereits das zweite Mal passiert ist, habe ich gemerkt, dass darüber zu wenig gesprochen wird. Ich saß daheim und habe im Internet nach Artikeln oder Berichten gesucht, die wirklich durchgeschrieben und auf Augenhöhe sind. Aber ich habe nichts gefunden, außer diverser Foren, die oft nicht weiterhelfen, weil sie fragmentarisch und anonym sind. Und ich habe mich gefragt, warum darüber eigentlich niemand schreibt. Vielleicht braucht es immer erst solche Momente. Beim Thema Burnout war es ja auch so, dass der Stein erst ins Rollen kommen musste. Jetzt ist es das Thema Abtreibung und vielleicht braucht es auch für das Thema Fehlgeburten erst den richtigen Moment. Wenn ich dazu etwas beitragen kann, wäre das natürlich schön.
Beim Thema Burnout war es ja auch so, dass der Stein erst ins Rollen kommen musste. Jetzt ist es das Thema Abtreibung und vielleicht braucht es auch für das Thema Fehlgeburten erst den richtigen Moment.
Mit sehr gemischte Gefühlen – vor allem, weil auch diese Schwangerschaft wieder nicht komplikationslos war. Aber sie hat sich durchgeboxt.
Das hat eine ganze Weile gedauert, etwa um die 24. SSW herum habe ich mich nach einem Gespräch mit einer Freundin etwas entspannen können. Die Unsicherheit blieb aber eigentlich bis zum Schluss. Das heißt nicht, dass ich manisch ängstlich war, es waren eher kleine Dinge, an denen ich gemerkt habe, wie schwer es mir fällt, das anzunehmen: dass ich mich zum Beispiel erst sehr spät dazu durchringen konnte, die Preisschilder von den Babysachen abzumachen, die wir neu gekauft hatten. Das habe ich tatsächlich erst zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin gemacht. Weil man ja nie weiß …
Ich habe durchaus immer wieder an mir und meinem Körper gezweifelt. In meinem Freundeskreis ging fast immer alles gut, die meisten Freundinnen wurden schnell schwanger, hatten unkomplizierte Schwangerschaften und gesunde Kinder. Mir sind so gut wie keine Fehlgeburten im näheren Umfeld bekannt. Da dachte ich schon immer: So rund ist das Leben nicht, irgend jemanden erwischt es. Gleich dreimal war allerdings schon hart. Ich bin jetzt 37. Wenn mir damals jemand erzählt hätte, dass ich erst mit 37 Mutter werde, hätte ich das nicht geglaubt. Das war nicht nur für mich persönlich eine große Herausforderung, sondern vor allem für uns als Paar. Aber wir wussten, wir können uns auf einander verlassen. Trotzdem war die Zeit geprägt von unzähligen Arztbesuchen, Krankenhausaufenthalten bzw. nach jeder Fehlgeburt einer Operation. Das war sehr mühsam. Körperlich, aber auch emotional.
Dadurch, dass ich selbstständig bin, muss ich mich ja gegenüber niemandem rechtfertigen. Im erweiterten Freundes- oder Bekanntenkreis habe ich es immer relativ schnell erzählt. Aber ich spreche auch generell über alles ziemlich offen. Mir ist es einfach wichtig, ehrlich zu sein. Natürlich sind persönliche Befindlichkeiten wichtig und müssen beachtet werden. Manche wissen vielleicht bereits, dass sie es in dem Fall, dass es nicht klappt, lieber für sich behalten wollen. Das steht ja jeder Frau frei. Ich glaube aber, die meisten Frauen haben ein Bedürfnis, diese Erfahrung zu teilen. Wenn wir einfach generell offener über Schwangerschaften reden, auch wenn wir das Kind verlieren, dann wird es vielleicht normaler und Frauen werden sich eher berechtigt fühlen, darüber zu sprechen. Ich find diese 12-Wochen-Regel einfach komisch. Wenn etwas schief geht und es nicht klappt, ist das am Ende etwas ganz Natürliches, der natürliche Lauf der Dinge.
Wenn wir einfach generell offener über Schwangerschaften reden, auch wenn wir das Kind verlieren, dann wird es vielleicht normaler und Frauen werden sich eher berechtigt fühlen, darüber zu sprechen.
Sowohl als auch, absolut. Es braucht einfach immer Leute, die öffentlich dazu stehen, dass es ihnen auch schon passiert ist und oft wird erst dann ein Thema medial wahrgenommen und wirklich darüber gesprochen – mit all seinen Konsequenzen.
Genau! Und auch ich habe lange gezögert, ob ich in die Bresche springen soll – sprich, diejenige sein sollte, die etwas ins Rollen bringt, weil ich, wie du schon gesagt hast, generell wenig Privates teile. Ich saß aber daheim und hab mir eben gedacht, dass ich es wertvoll finden würde, wenn jemand offen darüber spräche. Und dann habe ich mich durchgerungen und mich daran festgehalten, dass, wenn es nur einer Frau hilft, das auch schon etwas ist.
Es braucht einfach immer Leute, die öffentlich dazu stehen, dass es ihnen auch schon passiert ist und oft wird erst dann ein Thema medial wahrgenommen und wirklich darüber gesprochen – mit all seinen Konsequenzen.
Mal ganz prinzipiell, dass sie nicht allein ist. Und dann natürlich, wie es anderen Frauen ergangen ist, welche Arztbesuche oder Eingriffe nötig waren, welche Möglichkeiten es gibt, welche Folgen … Und vielleicht auch hoffnungsgebende Beiträge.
Das war schon seltsam: Ich schreibe sonst immer über schöne Sachen – über Essen, Reisen, Mode, eben alles Dinge, die einen nicht verletzlich machen und eher eine schöne, heile Welt suggerieren. Ich hatte wirklich Herzklopfen, als ich den Bericht veröffentlicht habe. Weil damit natürlich alle wussten, dass ich eine Fehlgeburt hatte, weil im Kopf ja doch ständig mitschwingt, dass es ein Makel ist, dass ich, oder eben mein Körper, irgendwas nicht können, was andere aber können. Am Ende habe ich den Text ganz intuitiv geschrieben und dann erst veröffentlicht – und schließlich habe ich ganz viele Nachrichten bekommen von Frauen – sowohl von fremden als auch bekannten – die mir erzählt haben, dass es ihnen auch passiert ist und die sich bedankt haben, dass ich darüber rede. Das hat mich in meiner Entscheidung bestärkt.
Im Dezember 2016 ging der Bericht online – nach der zweiten Fehlgeburt. In Folge habe ich dann die ganzen Nachrichten bekommen und dachte mir irgendwann: Warum macht man da eigentlich nicht eine Website draus? Im Mai 2017 ging die Plattform online. Meine Intention war zuerst, wenigstens eine Handvoll Berichte online zu stellen, damit Frauen, die wie ich ich auf der Couch sitzen und googeln, etwas Handfestes finden – und jetzt sind es tatsächlich schon so viele! Im Gegensatz zu Forenbeiträgen sind die Berichte zu Ende erzählt und es gibt weiterführende Informationen, wie z.B. Interviews mit Ärzten, und Links.
Mittlerweile ja. Ariel Levy, eine Autorin und Journalistin vom „New Yorker“, hat über ihre Fehlgeburt im fünften Monat ein Buch geschrieben. Es heißt „Gegen alle Regeln: Eine Geschichte von Liebe und Verlust„. Und auch Leandra Medine von „The Man Repeller“ hatte eine Fehlgeburt und hat auf ihrem Blog darüber geschrieben. Das war kurz nachdem ich meine Website online gestellt hatte, und da dachte ich schon: Jetzt ist vielleicht die Zeit gekommen, darüber zu sprechen.
Das lässt sich schwer definieren, weil viele Frauen bis zur sechsten Woche oft noch gar nicht wissen, dass sie schwanger sind und dann einfach eine komische Blutung haben. Es heißt, dass jede dritte bis fünfte Frau eine Fehlgeburt erleidet. Es wird oft von jeder Dritten gesprochen. Wenn wir uns dann aber mal im privaten Umfeld umschauen und überlegen, wie viele von ihnen wir wirklich kennen, scheint das fast unvorstellbar. Weil so wenige Frauen darüber sprechen.
Es heißt, dass jede dritte bis fünfte Frau eine Fehlgeburt erleidet.
Und doch sehen die meisten Frauen es noch immer als Makel und glauben, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Ich habe das zumindest so empfunden. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich ansonsten in meinem Leben gewohnt war, alles hinzukriegen, was ich mir in den Kopf gesetzt habe. Manche Dinge einfach nicht in der Hand zu haben, war eine Lektion, die ich lernen musste. So oder so, das Thema ist auf jeden Fall unterrepräsentiert. Schwangerschaften sind medial ein Riesenthema: ob in Magazinen oder auf Social Media. Fehlgeburten müssten davon streng genommen dann ja 30% ausmachen, das ist aber nicht der Fall.
Schwangerschaften sind medial ein Riesenthema: ob in Magazinen oder auf Social Media. Fehlgeburten müssten davon streng genommen dann ja 30% ausmachen, das ist aber nicht der Fall.
Eigentlich schon, ja. Sowohl in der Klinik als auch durch die betreuende Hebamme. Mir wurde damals von ihr eine OP nahegelegt, weil ich für einen natürlichen Abgang in der 12. Woche schon recht weit war, das wird oft als Grenze genommen. Ich glaube, ich würde es heute aber vielleicht anders machen und mich für eine sogenannte „kleine Geburt“ entscheiden.
Ja, sowohl während des Prozesses als auch danach, allerdings wird das häufig nicht gesagt. Jede Frau hat im Falle einer Fehlgeburt genauso Anrecht auf eine Hebamme wie sonst. Es gibt auch Familienzentren beziehungsweise Vereine, die als Anlaufstelle für die Trauerarbeit dienen, wenn eine Frau ihr Kind verliert – egal zu welchem Zeitpunkt. In Berlin gibt es zum Beispiel den Verein „Donum Vitae“, der Frauen rund um die Schwangerschaft, aber eben auch bei Fehlgeburten berät. Eine der Frauen, die ihre Geschichte für meine Website aufgeschrieben hat, sagte, dass sie ihr sehr geholfen haben. Es ist schade, dass sich Frauen solche Dinge offenbar noch immer selbst zusammensuchen müssen. Die Wartezimmer der Frauenärzte liegen voller Flyer zu Pränataldiagnostik, Impfungen und so weiter, nur zu den unangenehmen Themen gibt es selten wirklich fundierte Informationen.
Zwischen 70 und 100, mit mittlerweile etwa 25 Berichten. Ganz oft ist es so, dass sich Frauen melden, die gerade im Krankenhaus sind und mir erzählen, dass ihnen die Website sehr hilft und sie ihre Geschichte dann auch teilen wollen. Von manchen höre ich nie wieder, sie wollten sich vielleicht nur kurz mitteilen oder haben eine Vertraute gesucht. Jede dritte oder vierte schreibt tatsächlich auch etwas. Ich merke auf jeden Fall, dass die Seite ankommt und vielen hilft. Das ist mir wichtig. Nicht alle, die beim ersten Impuls gerne ihre Geschichte erzählen wollen, sind dann auch wirklich bereit dazu, das ist total okay.
Ich biete auch an, mit den Frauen ein Interview zu führen oder ihnen via E-Mail Fragen zu schicken, die sie in Ruhe beantworten können und aus denen ich dann ihre Geschichte aufschreibe.
Auf jeden Fall; auch sie zu bewerben. Was ich nämlich bis dato noch gar nicht gemacht habe, ist, sie auch in den Foren zu publizieren, damit sie noch mehr Frauen erreicht. Ich habe auch keineswegs Angst davor, wenn da viel Feedback und somit Arbeit auf mich zukommt, die Zeit nehme ich mir gerne. Das ist jetzt eben mein zweites Ehrenamt. (lacht)
Ich habe ehrlich gesagt noch nicht darüber nachgedacht. Als meine Geschichte sehe ich das nicht – in bin schließlich keine Michelle Obama und glaube nicht, dass es die breite Masse interessiert, dass ich eine Fehlgeburt hatte. Was ich mir aber vorstellen könnte, ist ein Sachbuch daraus zu machen, eine Weiterführung meiner Website quasi. Mal schauen, was die Zukunft bringt.
Die Website „Das Ende vom Anfang„
Layout: Kaja Paradiek
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