Laura Gehlhaar: „Menschen mit Behinderung brauchen einen Platz an den Entscheidungstischen“

10. August 2022

Coach, Beraterin, Buchautorin und studierte Sozialpädagogin – Laura Gehlhaar, 39, hat viele verschiedene Titel in ihrem Lebenslauf. Ein Thema liegt ihr dabei immer am Herzen: die Inklusion von Menschen mit Behinderung. Laura selbst sitzt seit ihrem 23. Lebensjahr im Rollstuhl, nachdem mit elf Jahren eine Muskelerkrankung bei ihr diagnostiziert wurde. Über Umwege geriet sie in die, wie sie selbst sagt, „Behindertenszene“ – und erlebte einen Aha-Effekt. „Zum ersten Mal merkte ich, dass eine Behinderung zu haben eng mit der Umwelt und wie sie mich wahrnimmt verknüpft ist“, sagt sie heute. Statt Missstände hinzunehmen, spricht Laura sie heute an – und setzt sich unter anderem für mehr Barrierefreiheit ein. Warum Deutschland hier noch einen langen Weg vor sich hat und warum sie sich in anderen Ländern oft freier fühlt, darüber sprechen wir mit Laura im Interview. 

femtastics: Laura, du coachst und berätst zum Thema Diversität, Gerechtigkeit und Inklusion. Wer sind deine Kund*innen? 

Laura Gehlhaar: Auf mich kommen Unternehmen, Organisationen oder auch Privatmenschen zu, die sich mit dem Thema Diversity und Inklusion auseinandersetzen, bzw. damit arbeiten möchten. Sie stellen sich die Frage: „Wie schaffen wir es, inklusiver zu werden, eine diverse Unternehmenskultur aufzubauen und das Ganze auch nachhaltig aufrecht zu erhalten?“ Die Antworten darauf finden wir gemeinsam. Meine Beratungen können in Form von Vorträgen oder längerfristigen Projekten, bei denen ich über Wochen und Monate ein Unternehmen in einem gewissen Prozess begleite, stattfinden. Es können aber auch 1:1 Beratungen oder Coachings sein – einen vorgefertigten Ablauf gibt es nicht.

Wann hattest du das erste Mal das Gefühl, etwas mit deiner Arbeit als Coach zu bewirken?

Zum Beispiel vergangenes Jahr, als ich zusammen mit einer Agentur gearbeitet und sie bei der Umsetzung einer großen Kampagne begleitet habe, zu der auch behinderte Menschen gehörten. Ich war unglaublich überrascht, nicht bei Null anfangen zu müssen. Die Leute waren sehr sensibilisiert und hatten schon eine Idee von Inklusion. Das war wunderschön! Daran habe ich gesehen: Okay, es kann funktionieren. Und dass Ausreden einfach nicht gelten. 

Ursprünglich hast du Sozialpädagogik und Psychologie studiert – hättest du dir damals vorstellen können, so vielfältig wie heute zu arbeiten? 

Während meines Studiums dachte ich, dass ich später vielleicht in der Psychiatrie arbeite. Das habe ich auch eine zeitlang gemacht – irgendwann bin ich aber in eine Werbeagentur gegangen, weil ich dachte, ich könnte ganz gut schreiben oder texten. Lustigerweise bin ich über die Werbeagentur in die „Behindertenszene“ gerutscht – durch ein Projekt, was sich mit Barrierefreiheit auseinandergesetzt hat. Und dadurch habe ich zum ersten Mal in meinem Leben aktiven Kontakt zu behinderten Menschen gehabt. Es sind Freundschaften entstanden und ich habe zum ersten Mal bewusst erlebt, dass eine Behinderung zu haben nicht nur für mein Leben unheimlich viel bedeutet. Sondern dass alles sehr eng mit der Umwelt verknüpft ist – und wie sie mich als Frau mit Behinderung wahrnimmt. 

Ich merkte, dass meine Umwelt und die Gesellschaft auf Menschen wie mich nicht eingeht, sie nicht teilhaben und sehr oft auch nicht mitbestimmen lässt, wie unsere Gesellschaft auszusehen hat.

Spannend! Welche Schlüsse hast du gezogen? 

Durch die Kontakte zu behinderten Menschen hatte ich auf einmal verstanden, dass es gar nicht an mir liegt, wenn ich ein Restaurant, ein Konzerthaus oder eine Bar aufgrund fehlender Barrierefreiheit nicht betreten kann. Vorher bin ich oft betrübt nach Hause gefahren. Plötzlich merkte ich aber, dass meine Umwelt und die Gesellschaft auf Menschen wie mich nicht eingeht, sie nicht teilhaben und sehr oft auch nicht mitbestimmen lässt, wie unsere Gesellschaft auszusehen hat. Es ist ein sehr weiter Weg gewesen, das zu verstehen und zu verinnerlichen. 

Wie ging dieser Weg weiter? 

Irgendwann habe ich kapiert, dass es nicht nur darum geht, dass ich als behinderte Frau inkludiert werde. Ich möchte auch mitgestalten können und selbst bestimmen, wie etwas auszusehen hat. Durch diesen Gedanken bin ich an die Beratungen „geraten“. Ich wurde durch die öffentliche Wahrnehmung auch immer mehr darauf angesprochen, wie Inklusion funktionieren kann. Dann habe ich mich auf den Weg gemacht, Antworten gesucht und gefunden. Dann ging mir das aber nicht weit genug. Diversity muss massiv in den inneren Strukturen stattfinden, sich wie ein Ökosystem durchziehen und weiterentwickeln. 

Diversity muss massiv in den inneren Strukturen stattfinden, sich wie ein Ökosystem durchziehen und weiterentwickeln. 

Wie kann das in der Praxis aussehen? 

Behinderte Menschen möchten und können auch Karriere machen – und nicht nur das. Sie könnten den Laden auch übernehmen. An diesem Punkt geraten viele Unternehmen aber noch ins Stocken. Das ist eine Option, ein nächster Schritt, an den sie gar nicht denken. Deshalb möchte ich einen Platz an den Tischen haben, an denen Entscheidungen getroffen werden. Denn nur wenn der Tisch der Entscheider*innen von diversen Menschen besetzt ist, können alte Strukturen durchbrochen werden. 

Viele Menschen mit Behinderung landen nie auf dem regulären Arbeitsmarkt, sondern werden in einer Behindertenwerkstatt angestellt. In Zahlen heißt das: Bundesweit gibt es 320.000 Beschäftigte in besagten Werkstätten* (*Quelle: www.rehadat-statistik.de). Was ist deiner Meinung nach das Problem dieser Einrichtungen? 

Der Auftrag einer Behindertenwerkstatt liegt eigentlich darin, die Leute auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Die Erfolgsquote liegt aber unter einem Prozent – die meisten bleiben einfach dort. Das sind Menschen, die zum Teil vierzig Stunden die Woche arbeiten gehen und im Schnitt 1,35 Euro die Stunde verdienen. Das ist Diskriminierung und Ausbeutung auf ganz hohem Niveau. 

Was kann man tun, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen? Hilft es, in der Bildung anzusetzen? 

Bildung ist ein unheimlich wichtiger Punkt. Denn auch heute gehen behinderte Kinder häufig auf Sonderschule oder auf eine Förderschule. Auch meinen Eltern wurde, als ich ein Kind war, dazu geraten, mich auf eine solche Schule zu schicken. Weil auf es auf dem Gymnasium keinen Platz für eine wie mich gab. Zum Glück haben sie damals aber gesagt: „Nein, die Laura gehört hierher“. So geriet ich nicht in den Kreislauf, in den viele Kinder mit Behinderung kommen und aus dem man nur so schwer wieder herauskommt. 

Privatunternehmen und private Anbieter*innen sollten zur Barrierefreiheit verpflichtet werden.

Was kann und muss die Politik tun? 

Es müsste ein Prozessplan erstellt werden, wie man Behindertenwerkstätten peu à peu abschafft – genau wie es Großbritannien vor ein paar Jahren gemacht hat. Damit wäre schon einiges geschafft. Warum dieser Plan nicht einfach für Deutschland adaptiert wird, verstehe ich nicht. Auch abseits der Behindertenwerkstätten muss wahnsinnig viel angegangen werden. Zum Beispiel sollten Privatunternehmen und private Anbieter*innen zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. Das ist hier leider nicht der Fall und wird mir immer wieder drastisch vor Augen geführt, wenn ich im Ausland bin. Dort kann ich mich viel freier bewegen – ohne vorher aufwändig im Internet recherchieren zu müssen, ob der Ort für mich zugänglich ist. In Deutschland suchen die Orte aus, ob ich sie besuchen darf. 

Warum sind beispielsweise die USA in Sachen Barrierefreiheit so anders aufgestellt als Deutschland? 

In den USA werden behinderte Bürger*innen von einem sehr starken Antidiskriminierungsgesetz geschützt. Alle Gebäude – auch jene von Privatunternehmen – sind zu Barrierefreiheit verpflichtet und behinderte Amerikaner*innen können auf sehr schnellem Wege ihr Recht einfordern, wenn zum Beispiel die Barrierefreiheit nicht gegeben ist. Hier in Deutschland wiederum könnte ich jetzt rausgehen, meine Wohnung verlassen und mir würden sofort zehn Sachen auffallen, die gegen das Grundrecht verstoßen, dass Menschen aufgrund ihrer Behinderung nicht ausgeschlossen oder benachteiligt werden dürfen. 

Ich könnte meine Wohnung verlassen und mir würden sofort zehn Sachen auffallen, die gegen das Grundrecht verstoßen, dass Menschen aufgrund ihrer Behinderung nicht ausgeschlossen oder benachteiligt werden dürfen. 

Dass du dich im Ausland gänzlich anders als hier in Deutschland bewegen kannst, hat auch dein jüngster Aufenthalt in den USA gezeigt. Zusammen mit deinem Mann warst du dort für mehrere Wochen unterwegs. Was war für dich der größte Unterschied im Alltag? 

Meine Behinderung war nicht das vorherrschende Thema. Und dadurch, dass man sich in den USA viel besser barrierefrei bewegen kann, sind auch mehr Menschen mit sichtbaren Behinderungen zu sehen. Das bedeutet, dass es für viele mehr zur Sehgewohnheit gehört, ich war keine Exotin. Das tat unheimlich gut – ich habe mich gleichwertig mit allen anderen gefühlt und dadurch ein viel größeres Selbstbewusstsein bekommen.

Dadurch habe ich wiederum auch gemerkt, dass die Diskriminierung hier in Deutschland sehr auf die Psyche drückt und meiner mentalen Gesundheit überhaupt nicht guttut. Aber ich möchte die USA nicht in den Himmel loben, was den Umgang mit behinderten Menschen angeht. Natürlich gibt es auch dort viele Missstände. Ich spreche jetzt wirklich rein von meiner individuellen Wahrnehmung. Und vergleiche mit den Erlebnissen, die ich in Deutschland hatte.

Die Diskriminierung hier in Deutschland drückt sehr auf die Psyche und tut meiner mentalen Gesundheit überhaupt nicht gut.

Apropos Erlebnisse in Deutschland: Gibt es etwas, das du im täglichen Umgang als besonders störend, vielleicht sogar typisch deutsch, empfindest? 

Hier fühle ich mich viel beobachteter. Es ist einfach unhöflich, Leute anzuglotzen. Das gehört sich nicht. Und ich denke, das müssen viele Deutsche erstmal verstehen. Auch aus Erzählungen von Freund*innen ohne Behinderung habe ich gehört, dass sie es als unglaublich störend empfinden, wie Deutsche gucken. Und starren. Und Menschen mit ihren Blicken bewerten.

Möchtest du mit deinem Mann noch einmal länger in die USA gehen? 

Auf jeden Fall. Ich habe gemerkt, dass ich Pausen von der Art Diskriminierung, wie ich sie in Deutschland erfahren habe, brauche – weil es mich sonst krank macht. Und das möchte ich nicht sein, denn das nimmt mir so viel von meinem inneren Glück. Deshalb brauche ich gewisse Auszeiten. 

Deine Reise hast du auch auf Social Media thematisiert – und deine Follower*innen an deinen oftmals positiven Erlebnissen teilhaben lassen. Wie wichtig ist Instagram mittlerweile als Teil deiner Arbeit? 

Meine Arbeit findet überwiegend außerhalb von Social Media statt. Aber ich bin auch mit dem Internet groß geworden und deshalb ist das einfach ein ganz entscheidender Teil. Über Social Media habe ich mehr oder weniger meine Karriere gestartet. Hab mir da auch eine gewisse Community geschaffen oder bin selbst in eine rein gekommen, Freundschaften haben sich gebildet und Austausch findet immer noch statt. Ich könnte mir mein Leben ohne Kontakt zu anderen behinderten Menschen gar nicht mehr vorstellen, weil dieser Austausch lebenswichtig ist. Und mich ein Stück weit davon befreit, die Schwere von Diskriminierung auf meinen eigenen Schultern tragen zu müssen. Ich kann davon etwas abgeben. Und dann trägt es sich gemeinsam vielleicht ein bisschen besser. 

Das klingt nach einem guten Weg. Wir wünschen dir weiterhin viel Erfolg, liebe Laura!

Hier findet ihr Laura Gehlhaar:

Foto: Laura Gehlhaar

Ein Kommentar

  • Anja Kniepen sagt:

    Ich fühle so mit Ihnen. Unser Sohn hat T21. Wenn wir im Urlaub sind atmen wir auf, sind alle frei! Dort wird nicht hinterfragt warum man ein Kind mit Handicap bekommen hat.
    Es ist völlig normal… Deutschland ist einfach nur alt und unmodern.

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