Wie funktioniert das eigentlich, eine Beziehung zu öffnen und polyamor zu leben? Saskia Hentschel-Bensch, 27, ist Psychologin sowie Einzel-, Paar- und Familienberaterin – und lebt selbst in einer offenen Ehe und Beziehung. Mit Maik ist sie verheiratet, mit Lasse führt sie ebenfalls eine Beziehung. Außerdem berät sie andere Menschen auf dem Weg, offene Beziehungen zu führen und Polyamorie zu leben. Welches Mindset es hierfür braucht und was die Herausforderungen und Vorteile dieser Beziehungsform sind, erzählt die Bremerin im Interview.
Liebe bedeutet für mich bedingungsloses Wohlwollen, also der anderen Person alles zu gönnen, was ihr gut tut.
Saskia Hentschel-Bensch: Liebe bedeutet für mich bedingungsloses Wohlwollen, also der anderen Person alles zu gönnen, was ihr gut tut.
Eine offene Beziehung ist für mich eine Liebesform. Also eine Form zu lieben und damit natürlich auch zu leben. Es umfasst für mich ein Bewusstsein um die Fähigkeit, mehrere Menschen zum gleichen Zeitpunkt lieben zu können.
Ich bin seit zehn Jahren mit Maik in einer offenen Beziehung und seit etwas mehr als einem Jahr auch mit Lasse. Lasse hat auch noch einen anderen Beziehungsmenschen. Gerade aktuell ist es so, dass ich noch jemand Neues kennengelernt habe. Das ist eine neue Entwicklung. Maik und ich sind seit drei Jahren verheiratet – mehr aus organisatorischen Gründen und weil wir eh für immer zusammen sein wollen.
Mir ist es wichtig, dass die beiden sich gut verstehen und dass wir auch zu dritt in Kontakt stehen. Unsere Beziehungen sind aber unabhängig voneinander.
Ja, mir ist es total wichtig, dass die beiden sich gut verstehen und dass wir auch zu dritt in Kontakt stehen. Unsere Beziehungen sind aber unabhängig voneinander. Ich habe eine Beziehung zu Maik und ich habe eine Beziehung zu Lasse. Und die beiden haben auch eine Beziehung zueinander, aber die ist platonisch. Wenn die beiden sich durch mich treffen, dann verstehen sie sich gut. In der ersten Zeit haben wir uns noch öfter zu dritt getroffen und darüber gesprochen, wie es uns geht. Gerade vor ein paar Tagen habe ich gesagt: „Hey, wollen wir uns nicht mal wieder zu dritt treffen und darüber schnacken, wie es uns gerade miteinander geht?“ Weil wir uns schon ganz lange nicht mehr bewusst zusammengesetzt und darüber gesprochen haben.
Im Endeffekt ist es ja so, dass wir alle im selben Boot sitzen. Uns geht es allen ähnlich, wir haben alle unsere Themen damit, das löst in uns allen etwas aus. Wir haben viel Empathie für einander und können uns fragen: „Was brauchst du gerade? Kann ich dir die Situation irgendwie erleichtern? Was macht es für dich einfacher?“ Wir können uns gegenseitig supporten.
Für mich ist die größte Herausforderung, offen zu kommunizieren. Sowohl mit mir selbst, also mir meine Gefühle und Bedürfnisse einzugestehen, als auch sie nach außen zu transportieren. Auch wenn ich weiß, dass das vielleicht dazu führt, dass bei meinem Gegenüber Prozesse angestoßen werden, die sich erstmal belastend anfühlen. Die Verantwortung mitzutragen im Sinne von „jede*r ist für ihre/seine eigenen Gefühle verantwortlich, aber wir begleiten uns gegenseitig dabei, sie aufzuarbeiten“ – das zu üben ist ein wichtiger Punkt.
Außerdem ist es eine koordinatorische Herausforderung, weil so viele Menschen mit Gefühlen am Start sind. Jeder möchte gesehen werden, gehört werden, gefühlt werden.
Es ist nicht meine Aufgabe, die Bedürfnisse von meinen Beziehungsmenschen zu erfüllen.
Es ist nicht meine Aufgabe, die Bedürfnisse von meinen Beziehungsmenschen zu erfüllen. Ich tendiere aber zu dem Wunsch, dass alle Bedürfnisse durch mein natürliches Verhalten erfüllt werden können. Manchmal ist das aber nicht so und Menschen fühlen sich zurückgesetzt oder nicht gesehen. Dann ist es wieder an der Person zu üben, das transparent zu machen und mir mitzuteilen: „Ich fühle mich gerade nicht gesehen und das und das brauche ich.“ Dann können wir da ansetzen und ich kann darauf eingehen, wenn ich es möchte.
Die größte Sicherheit gibt mir, dass ich weiß, dass wir freiwillig miteinander zusammen sind. Und ich weiß, dass keine Gefühle zu einer anderen Person, egal wie toll sie ist, mich in meiner Wertigkeit bedrohen. Das ist für mich ganz beruhigend. Und selbst wenn Maik und ich uns auseinander entwickeln sollten, dann ist das eben so. Wir haben beide absolutes Interesse daran, unsere Leben zu bereichern. Und wenn es so sein sollte, dass wir das nicht mehr tun – das wäre der einzige Grund, warum wir uns trennen würden – dann ist es ja gut, wenn wir uns Raum machen für neue Menschen, die uns bereichern können. Natürlich ist das trotzdem schmerzhaft. Aber ich weiß, ich würde damit zurechtkommen können, und er auch.
In der Beratung selbst geht es vor allem darum, was Beziehungen mir über mich sagen, was für eine Entwicklungschance sich mir gerade eröffnet und die Beziehung als Spiegelung von mir selbst zu erkennen. Es geht auch darum, wie es mir in der aktuellen Situation möglichst gut gehen kann. Da gibt es gerade am Anfang einer offenen Beziehung viele Situationen, in denen es meinen Beratungsmenschen nicht gut geht. Wir sprechen natürlich auch über ideologische Fragen in Bezug auf offene Beziehungen: Wie möchte ich eine Beziehung führen? Was ist Liebe für mich? Was soll Teil von meinen Beziehungen sein? Wie offen möchte ich das gestalten? Was will ich teilen, was will ich nicht teilen?
Es geht sehr viel darum, Selbstfürsorge zu üben. Wie kann ich meine Bedürfnisse, die in meiner Beziehung vielleicht nicht erfüllt werden, selbst erfüllen? Wie kann ich mich um mich selbst kümmern und mir Zeit für mich nehmen? Das führt dazu, dass Menschen sich ein bisschen loslösen von dem Gefühl, dass ihr Gegenüber irgendetwas für sie erfüllen muss, und sich die Selbstermächtigung zurückholen. Ich kann mir alle meine Bedürfnisse selbst erfüllen und wenn ein Bedürfnis mal nicht erfüllt wird, dann kann ich das auch aushalten lernen.
Es geht sehr viel darum, Selbstfürsorge zu üben. Wie kann ich meine Bedürfnisse, die in meiner Beziehung vielleicht nicht erfüllt werden, selbst erfüllen?
Das ist crazy. Ich bin selbst oft überwältigt davon, wie fruchtbar die Beratung für Menschen ist. Menschen spiegeln mir zurück, dass es für sie krass etwas verändert, wenn sie sich am Tag einfach ein paar Momente Zeit nehmen, um sich auf sich selbst zurückzubesinnen und wenn sie die Tools umsetzen, die ich ihnen an die Hand gebe.
Ich habe Psychologie studiert und eine Ausbildung zur systemischen Einzel-, Paar- und Familienberaterin gemacht. Als ich damals meine Beziehung geöffnet habe, gab es niemanden online oder in meinem Bekanntenkreis, die/der mich unterstützen konnte, mit dem ganzen Brett an Emotionen zurechtzukommen. Ich habe Lust, die ganzen Tools und das, was mir selbst hilft, zu transportieren, damit andere Menschen auch einen Umgang damit finden. Denn es ist möglich zu lernen, damit umzugehen. Und es ist möglich, eine Beziehung offen, auch langfristig und nachhaltig, zu gestalten. Nur haben wir keine Vorbilder dafür. Dafür möchte ich eine Plattform bieten.
Das Schönste für mich ist, dass ich sein kann, wer ich bin. Immer und immer mehr. Dass ich das zulassen darf, weil ich weiß, dass ich so geliebt bin, wie ich bin, und dass ich nichts für eine andere Person erfüllen muss. Und dass ich die Beziehung zu mir und zu anderen Menschen so gestalten darf, wie sie sich für mich richtig anfühlt. Ich kann meine Gefühle sprudeln lassen. Es darf alles da sein, egal welche Emotion, ob das eine Verliebtheit ist, ob das Traurigkeit ist oder Wut. Das hat alles Raum.
Fotos: Saskia Hentschel-Bensch
Ein Kommentar
Vielen Dank für das Interview, fand ich sehr informativ.:)
Was mich noch interessiert, aber nie thematisiert wird: Wie funktioniert Polyamorie organisatorisch und logistisch? Ich selbst lebe in einer monogamen Beziehung (da bin ich voll der Typ für) und arbeite selbständig, lese gern, muss Einkäufe machen, Katzen zum Tierarzt bringen, will Netflix-Serien gucken, Kochen, Backen, Basteln, Musizieren, Zeichnen, Briefe schreiben, Freunde treffen, Familie besuchen und einfach auch mal nur Rumliegen und nichts tun. Mit EINEM Partner funktioniert das, wir haben auch einen gemeinsamen Kalender, auf den beide Zugriff haben und die Termine der anderen Person sehen können.
Wie ist das bei mehreren Partner*innen? Wieviel Zeit verbringt man mit den einzelnen Personen, wieviel allein, wieviel mit allen zusammen? Wieviel Zeit hat man für Arbeit und für Hobbies, die nichts mit den Partner*innen zu tun haben? Haben alle ein gemeinsames Organisationstool für Termine und Uhrzeiten?
Da würde ich gern mehr drüber erfahren, also die praktische Gestaltung im Alltag.