Christiane Richers wollte nie Schauspielerin werden, verfiel aber in jungen Jahren dem Theater. Geschichten haben sie seit jeher fasziniert, früh schrieb sie eigene Fantasiegeschichten und legte während ihrer Studienzeit den Schwerpunkt auf Theater. Nachdem sie viele Jahre in der Hamburger Jugendtheaterszene aktiv war, gründete sie 2002 zusammen mit Morena Bartel und Gesche Groth das mobile Theater am Strom, das mit Hamburger Stadtteilkulturzentren und Schulen kooperiert. Dabei widmet sich die Regisseurin und Autorin Themen, die viel zu wenig Beachtung finden: In der Theaterperformance „Immer weiter“ beschäftigt sie sich mit obdachlosen Frauen und in „Im Herzen von Hamburg“ mit der Geschichte der Hamburger Sinti. Wir besuchen Christiane im Bildungszentrum „Tor zur Welt“, machen eine Tour durch Wilhelmsburg zum Hafen und fahren durch den alten Elbtunnel zurück auf die andere Elbseite.
femtastics: Was macht Wilhelmsburg für dich aus?
Christiane Richers: Ich habe ein Faible für Inseln, ich fahre total gern über die Elbbrücken hierher. Der Bezug zu den Sinti ist mir hier außerdem extrem wichtig. Der Saxophonist Kako Weiss von der Band Café Royal Salonorchester ist ein guter Freund, mit dem mache ich viele Projekte. Gerade habe ich über ihn und seinen Onkel Heinz Weiss, der hier ehrenamtliches Boxen anbietet und Bildungsberater ist, ein Stück geschrieben.
In der Großproduktion „Im Herzen Von Hamburg“ wandten sich insgesamt 75 Menschen jeden Alters der Geschichte der Hamburger Sinti zu.
Ich beschäftige mich generell nicht so gern mit Themen, über die zu viel geredet wird. Das ist einfach nicht interessant.
Du beschäftigst dich mit Gruppen, die in der Gesellschaft wenig Beachtung finden, wie Obdachlose oder die Geschichte der Hamburger Sinti. Warum gerade diese Themen?
Ich beschäftige mich generell nicht so gern mit Themen, über die zu viel geredet wird. Das ist einfach nicht interessant. Ich gucke gern in Ecken, die ich noch nicht so kenne.
Gerade in Bezug auf die Geschichte der Sinti stößt man auf viel Unwissenheit und Vorurteile bis hin zur Ignoranz. Welche Erfahrungen hast du gemacht, als das Stück „Im Herzen von Hamburg“ entstanden ist?
Sehr viele extreme Erfahrungen. „Im Herzen von Hamburg“ ist das Projekt, was am meisten im Stadtteil Wilhelmsburg verankert ist. Es ist das arbeitsmäßig und emotional intensivste Projekt seit Langem. Es gibt ja eine sehr große Gruppe von Sinti-Familien hier in Wilhelmsburg, die seit Jahrhunderten hier leben, aber immer wieder auf Vorurteile und rassistische Verhaltensweisen aus der Restbevölkerung stoßen. Die Entschädigungs- und Wiedergutmachungsdiskussionen hinsichtlich der Nazizeit sind nie in Richtung Sinti und Roma gelaufen. Das haben die dadurch alles viel mehr im Körper.
Freundschaften und künstlerische Zusammenarbeit entsteht und das ist toll.
Du meinst die Vergangenheit.
Vereinzelt habe ich das auch bei Juden erlebt, dass sie die Vergangenheit so mit sich rumschleppen, aber die Kultur, darüber zu reden, zu erinnern, zu trauern und um Entschuldigung zu bitten, ist da viel ausgeprägter als in Richtung Sinti und Roma. Das erzeugt auch Vorbehalte und Grenzen in die andere Richtung. Das mit einer Brücke zu versehen, über die beide rübergehen können, ist extrem viel Arbeit, passiert aber in einzelnen Beziehungen. Das ist das Schöne. Freundschaften und künstlerische Zusammenarbeit entsteht und das ist toll.
War das also der Ansatz für das Stück?
Ja. Ich habe mit dem Landesverein der Sinti gesprochen und die haben gesagt, wir werden nicht mitspielen. Wir haben noch zu viel Angst vor solch öffentlichen Auftritten. Im Theater muss man Emotionen zeigen. Diskussionen und Erzählungen über die Nazizeit, das machen wir – aber mehr können wir nicht leisten. Das verstehe ich.
Ich habe es so oft erlebt, dass diese Menschen haltlos anfangen zu weinen.
Die Alltagssituation ist kompliziert genug.
Es ist nicht einfach und die Familien sind außerdem nicht gerade reich, finden schwer Wohnungen und so weiter. Das haben wir uns zu Herzen genommen. Wenn nur Kako als Saxophonist mitmacht und wir ansonsten nur Kinder aus den Klassengemeinschaften aus Sinti-Familien haben, müssen wir konsequent sein und müssen etwas tun, was kaum passiert: Wir müssen uns mit der Geschichte der Sinti auseinandersetzen und überlegen, wie wir aus unserem Blickwinkel als Nicht-Sinti ein Theaterstück entwickeln. Das hat dazu geführt, dass wir uns mit historischen Personen wie Eva Justin beschäftigt haben, die Rasseforschung betrieben hat. Sie hat damals in den sogenannten „Zigeunerlagern“ Gesichtsvermessung durchgeführt, Sozialfragen gestellt und Listen mit Namen erstellt, die dann der Polizei übergeben wurden. Das hat dazu geführt, dass es ganz einfach war, die Menschen in die Lager zu deportieren. Der Prozentsatz der Ermordeten in Sinti-Familien ist verhältnismäßig viel höher als bei deutschen Juden …
… was kaum bekannt ist.
Jede Familie ist betroffen. Keine Familie kann sagen, dass sie sich rechtzeitig gerettet hat. Es gibt überall Tote. Ich habe es so oft erlebt, dass diese Menschen haltlos anfangen zu weinen. Emil, das ist der Älteste aus der Siedlung hier in Rahmwerder, hat bis heute keine Entschädigung bekommen. Der ist als Jugendlicher mit 12 Jahren zu den Phoenix Werken nach Harburg gekommen und musste Kohlen schleppen. Er durfte keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen und musste deswegen stundenlang zu Fuß gehen. Seine ganze Jugendzeit hat er in den Phoenix Werken verbracht und hat bisher keinen Cent bekommen. Das ist mittlerweile auch scheißegal, Emil geht auf die 90 zu. Was soll der noch mit Geld?
Es geht also um die Würde?
Man könnte wenigstens ein Straße nach ihm benennen. Die Leute sterben jetzt alle, das Geld bringt nicht mehr viel. Das hätten die vor Jahrzehnten gut gebrauchen können. Die Eva Justin wiederum saß nach dem Krieg in dem Entscheidungsbereich, ob Sintis Entschädigungen bekommen sollen. Man glaubt es nicht. Solche Sachen wissen wir jetzt alle, die stehen aber nicht in Schulbüchern, was uns wiederum aufregt.
Der Prozess, sich damit zu beschäftigen, war somit ein wichtiger Teil des Projekts. Allein, dass es dieses Stück gibt, tut viel dafür, dass ein größeres Bewusstsein für die Geschichte der Sinti entsteht. Hast du das Gefühl, dass sich etwas tut?
Im Kleinen, ja. Man kann nicht immer die großen Ansprüche haben. Das Problem ist nach wie vor nicht gelöst, wie auch? Aber trotzdem, es gibt mir viel Energie. Ich habe neue Freunde gefunden und komme in Themen rein, die mich unheimlich interessieren und wo ich Sinn verspüre. Außerdem habe ich durch Café Royal mit einer wunderbaren Musik zu tun.
Viele Sinti wohnen nach wie vor oftmals im Familienverbund in Randgebieten. Ist genau das der Fehler, dass man sie in die Vororte abschiebt und eben nicht wirklich integriert?
Die müssen sich natürlich auch selbst integrieren, das ist schon ein doppelseitiger Prozess. Ich möchte sie auch nicht glorifizieren, teilweise finde ich vieles auch schwierig, was da intern passiert. Erst war es ein Platz in Harburg, dann Süderelbe und nun in Georgswerder. Die haben schon hart verhandelt mit der Stadt. Irgendwann hat die Stadt gesagt, wir bauen euch jetzt hier Häuser. Leider gehören die Häuser ihnen nicht. In der Siedlung ist es total schön und gemütlich, ich bin gern da.
Du machst seit zehn Jahren Theaterprojekte in Wilhelmsburg. Warum gerade hier?
Irgendwann gab es ein erstes Projekt mit dem damaligen Gymnasium in Kirchdorf Süd, was jetzt Helmut Schmidt Gymnasium heißt. Damals ging es um das Thema Einwanderung. Mit dem Stück sind wir auch nach New York geflogen und haben es dort auf Ellis Island gezeigt. Das ist die frühere zentrale Einwanderungsstation auf einer vorgelagerten kleinen Insel dicht bei der Freiheitsstatue. Heute ist das ein Einwanderungsmuseum, das von sehr vielen Touristen besucht wird. Ein irres Projekt! Dort habe ich auch Kontakt zu jüdischen Hamburgern bekommen, die alle in New York gelandet sind. Mit denen haben sich die Schüler, die zum Teil deren Geschichten gespielt haben, getroffen. Das waren hammer Begegnungen, das kann ich nicht anders sagen. Die Gespräche hörten gar nicht mehr auf. Dieses Projekt war der Startpunkt. Dann habe ich ein Projekt zum Thema Einwanderung gemacht, bei dem ich mich mit der Herkunft der Schüler beschäftigt habe – aber mit einem starken Bezug auf ihre Orte hier im Stadtteil. Irgendwann kam der Gedanke, dass ich nicht mehr punktuell und projektbezogen arbeiten möchte und habe ein Konzept für eine kontinuierliche Arbeit an einem Ort geschrieben. Die damalige Kultursenatorin hat gesagt, dass wir das unbedingt in Wilhelmsburg machen sollten. Ich fand’s klasse!
Wie reagieren die Kinder auf die Theaterarbeit?
Wir merken langsam, dass dieses Langfristige so toll ist. Wir kennen die Kinder und Jugendlichen langsam und werden oft gefragt, wann wir wieder was zusammen machen. Die haben Spaß an dem Theater bekommen und ihnen gefällt unsere Arbeit. Es kann auch auch höllisch anstrengend sein, klar. Der Schulalltag ist einfach nicht ohne, den bekommen wir ungefiltert mit. Die Kinder sind so getaktet, dass sie fast schon automatisch unkonzentriert werden.
Jüngst wurde das Theater am Strom mit dem Max-Brauer-Preis 2015 ausgezeichnet, die Verleihung fand im Hafenmuseum Hamburg statt.
Leitest du eine Art Theater AG oder ist es stundenweise in den normalen Unterrichtsplan eingebunden?
Das ist immer unterschiedlich. Bei meinem Projekt „Im Herzen von Hamburg“ war es ein Klassenverband aus drei Schulen. Es gibt trotzdem immer wieder einmalige Situationen, wir können uns nie auf unseren Erfahrungen ausruhen. Manchmal werden Klassen einfach aufgelöst, obwohl wir gerade alle Szenen fertig haben. Dann müssen wir schauen, dass wir die Motivation aufrecht erhalten, dass die Kinder immer wieder zusammenkommen.
Welchen Themen widmest du dich als Nächstes?
Wir werden ein großes Projekt auf dem Berta-Kröger-Platz machen. Berta Kröger war eine SPD-Politikerin, die 1891 geboren und von den Nazis in Schutzhaft genommen wurde. Sie war im Wiederstand, hatte aber offiziell einen Brotladen in Wilhelmsburg und hat auch Brote ausgefahren. In diesen Broten hat sie Flugblätter transportiert und hat sich gut mit Genossen verständigen können, weil sie denen ja die Brote bringen musste. Ein super Thema! Kako ist auch wieder mit dabei und wird auf dem Platz spielen. Damals gab es nämlich auch die Swing Jugend, die sogenannte Pfennigbande. Das waren Jugendliche, die keinen Bock auf das Nazi-Kontrollierzeugs hatten, sondern ihre Freiheit haben wollten. Die wollten einfach Tanzen. Ihr Erkennungszeichen war ein Pfennig mit ausgekratztem Hakenkreuz am Revers. Damit werden wir uns beschäftigen, wir lernen gerade alle schon Lindy Hop.
Wir freuen uns drauf! Danke für das Gespräch, liebe Christiane.