Die einen ziehen Energie aus der Begegnung mit (möglichst vielen) Menschen, die anderen aus der Stille. Erstere sind meist extrovertiert, letztere introvertiert – und ihnen raubt der Umgang mit vielen Menschen tatsächlich eher Energie. Aber wie ist das eigentlich, als Introvertierte in einer – und hier sind wir uns vermutlich alle einig – extrovertierten Welt zu leben? „Dies ist eine extrovertierte Welt und wir leben nur darin“, sagt femtastics-Autorin Blessing Adejoro. Für uns schreibt sie über ihre Wahrnehmung als Introvertierte und, warum es dringend Zeit ist, beide Persönlichkeitsmerkmale gleichwertig anzuerkennen.
Warum ist es für manche Menschen das Schönste qualitative Zeit mit sich selbst zu verbringen? Und warum sollte das nicht okay sein?
Als jemand, der sich selbst als eher introvertiert mit extrovertierten Tendenzen beschreiben würde und fast ausschließlich introvertierte Menschen in ihrem Umfeld hat, habe ich mich bereits mein Leben lang damit beschäftigt, was Introvertiertheit eigentlich bedeutet und welche sozialen „Implikationen“ dieser identitäre Marker haben kann. Warum ist es für manche Menschen das Schönste qualitative Zeit mit sich selbst zu verbringen? Und warum sollte das nicht okay sein?
Wir predigen der nächsten Generation, „sie selbst“ zu sein, für sich selbst einzustehen und sich nicht verbiegen zu lassen und doch werden sie vielleicht zu hören bekommen: „Du bist so ruhig“. Ein Satz, den jede*r in meinem Umfeld schon mal gesagt bekommen hat. Dieser Fokus auf das “zu ruhig” sein fühlt sich an manchen Tagen an wie eine Aussage, die sich auf das komplette Selbst bezieht – und weniger wie eine Momentaufnahme. In diesem Text möchte ich Introvertiertheit nach außen stülpen, Einblicke in sie gewähren und vielleicht sogar ein Plädoyer für mehr Miteinander präsentieren.
Wenn nichts gesagt werden muss, dann ist Ruhe der präferierte Zustand für Menschen die introvertiert sind. Dies liegt darin begründet, weil es bei introvertierten Menschen schnell zu einer Reizüberflutung kommen kann. Stille hilft, die Aufnahme von äußeren und inneren Reizen wieder in Balance zu bringen. Und hierin liege laut der amerikanischen Dozentin und Autorin Myrna J. Santos der Unterschied: Es gibt Menschen, die viele andere Menschen im unmittelbaren Umfeld brauchen, um Kraft zu sammeln. Und es gibt (introvertierte) Menschen, die genau das schnell auslaugt.
Auch die Forschung belegt: Extrovertiertheit ist der Default, da in der Welt mehr extrovertierte Menschen vertreten sind. Dies macht unsere (Arbeits-) Welt zu einem Ort, an dem es somit auch zur Norm wird „lauter zu sein als“, völlige Transparenz zu erwarten und somit andere Menschen immer lesen zu können.
Auch die Forschung belegt: Extrovertiertheit ist der Default, da in der Welt mehr extrovertierte Menschen vertreten sind.
In meiner Arbeit beschäftige ich mich täglich mit Marketing und Konsumentenverhalten. Themen rund um Transparenz bis hin zur Selbstinszenierung und Personal Branding sind mir zwar nicht fremd, stoßen mir aber manchmal sauer auf. Plakativ(er) zu sein und eigene Qualitäten selbstbewusst nach außen zu zeigen und zu kommunizieren ist etwas so Geniales, ja sogar Erstrebenswertes, aber eben nur für die Person, die Energie aus ihrem Umfeld schöpft.
Menschen jenseits der Extrovertiertheit kostet dies sehr viel Energie. Das hat zum Ergebnis, dass sie sich zurückziehen und deshalb manchmal sogar negativer, unsympathischer oder arroganter gelesen werden. Stille ist dann gleich defizitär.
Die amerikanische Autorin und Juristin Susan Cain argumentiert, dass diese Norm ihren Ursprung (wie so vieles) im Kapitalismus und der damit verbundenen Migrationen in die Städte zu tun hat. Wer am lautesten beweisen konnte, den Inner-City-Job verdient zu haben, der*die hat ihn auch bekommen. Diese Norm ist somit ein Überbleibsel aus den Zwanzigerjahren.
Westliche Gesellschaften sind Individualgesellschaften, mit Fokus auf Extrovertiertheit. Was diese Aussage auch suggeriert, ist, dass extrovertierte Individualgesellschaften das Leben im Einklang mit sich selbst für bestimmte Typen von Menschen erschweren. Auch wenn dieser gewünschte Einklang nicht unmöglich ist, so schafft er doch eine Dissonanz.
Westliche Gesellschaften sind Individualgesellschaften, mit Fokus auf Extrovertiertheit.
Vielleicht muss noch bekannter werden, wie viele introvertierte Menschen unsere Gesellschaft geprägt und mitgeformt haben, sei es die Arbeit in der Kunst, Wissenschaft oder in der Wirtschaft. Die Wissenschaftlerin Debra L. Johnson von der University of Iowa hat mit Hilfe der „Positronen-Emissions-Tomographie“ aufgezeigt, dass introvertierte Menschen eine bessere Durchblutung und höhere Aktivitäten der Frontallappen und des vorderen Thalamus aufweisen. Das sind die Hirnregionen, die für Erinnerung, Problemlösung und Planung relevant sind.
Extrovertierte hingegen haben erhöhte Aktivitäten in den Temporallappen, im hinteren Gyrus cinguli sowie im hinteren Thalamus, was für eine stärkere Inanspruchnahme durch sensorische Prozesse spricht.
Man könnte auch sagen, Introvertierte beziehen mehr Informationen in die Problemlösung ein, Extrovertierte denken und reagieren schneller. Die Stärke des introvertierten Menschen ist die Analyse, die Detailarbeit, das Konzipieren im Hintergrund, quasi das langsamere Herantasten an das Problem, was ein idealer Ausgleich zur schnellen Ergebnis- und Reaktionsfähigkeit des extrovertierten Menschen ist.
Wieso also nicht diese typspezifischen Unterschiede beider Gruppen wertschätzen, um so eine gute Symbiose zu garantieren? Womöglich ist es an der Zeit, mehr Sichtbarkeit, Verständnis und Miteinander in unsere Gesellschaft zu verankern und introvertierte Menschen nicht mehr zu fragen „Hey, wieso bist du eigentlich immer so ruhig?“.
Fotos: Blessing Adejoro